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Freiheit, Gleichheit, Zusammenhalt – oder: Gefährdet "Identitätspolitik" die liberale Demokratie? - Essay | Zustand der Demokratie | bpb.de

Zustand der Demokratie Editorial Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert Freiheit, Gleichheit, Zusammenhalt – oder: Gefährdet "Identitätspolitik" die liberale Demokratie? Aus dem Gleichgewicht. Zum Zustand demokratischer Öffentlichkeit Demokratie in Gefahr? Repräsentative Politik zwischen Demokratisierung und Entdemokratisierung Krise (und Ende?) der Volksparteien Demokratische Innovation durch Bürgerräte

Freiheit, Gleichheit, Zusammenhalt – oder: Gefährdet "Identitätspolitik" die liberale Demokratie? - Essay

Jan-Werner Müller

/ 16 Minuten zu lesen

In Deutschland wird viel geklagt über die "Spaltung der Gesellschaft". Man müsse, so heißt es allenthalben, unseren Zusammenhalt stärken (wobei das Wort "Zusammenhalt" in der Bundesrepublik seit 2015 eine erstaunliche Konjunktur erfahren hat, für die sich keine Parallele in anderen Demokratien finden lässt). Auf den ersten Blick kann niemand etwas gegen die Forderung nach Zusammenhalt haben – außer vielleicht den Verdacht, viele Reden über Gemeinsinn seien ein Rennen um die besten Gemeinplätze. Auf den zweiten Blick darf man jedoch fragen, wie der Ruf nach Kohäsion eigentlich mit einem anderen zentralen Begriff im bundesrepublikanischen Demokratiediskurs zusammenpasst, für den es in anderen Sprachen offenbar gar kein Äquivalent gibt: dem der Streitkultur. Denn, so würde man meinen, nicht der Konflikt an sich ist eine Gefahr für das Gemeinwesen; es kommt vielmehr ganz darauf an, wie er angezettelt wird und unter welchen Bedingungen er beigelegt werden kann. Das gilt nicht zuletzt für die viel geschmähte "Identitätspolitik", von der Kritiker zum Teil behaupten, sie trage ebenso viel zur Spaltung der Gesellschaft bei wie der Rechtspopulismus.

Wer hat Angst vor Identitätspolitik – und warum?

Zusammenhalt, darauf hat der Philosoph Rainer Forst hingewiesen, ist kein Wert an sich (bei der Mafia hält man schließlich auch zusammen). Zusammenhalt, so Forst, sei vielmehr ein normativ abhängiger Begriff; soll heißen: Ohne eine Einbettung in einen größeren Zusammenhang von Werten bleibt der Begriff politisch-moralisch unbestimmt. Das bedeutet: Um in einer Demokratie etwas Positives mit ihm anzustellen, sollte man eine spezifische Konzeption von Zusammenhalt an Grundvorstellungen von Freiheit und Gleichheit rückbinden. Erst dann wird das Wort nicht zum Kürzel für allen möglichen kommunitaristischen Kitsch oder Sonntagsreden-Kleister, mit dem sich legitime Konflikte unsichtbar machen lassen.

Auch heute gilt noch, woran ein großer Liberaler wie Ralf Dahrendorf nicht müde wurde, seine mitunter zu gemeinschaftsseligen Landsleute zu erinnern: "Konflikt ist Freiheit." Er zog in seinem 1965 erschienenen Klassiker über "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" sogar den weitergehenden Schluss, liberale Demokratie sei "Regierung durch Konflikt". Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein in einem pluralistischen Gemeinwesen, das gerade wegen dieses Pluralismus demokratisch sein muss: Wenn alle identisch dächten, gäbe es kaum Konflikte – und deshalb wohl auch keinen Bedarf an (konfliktvermittelnden) demokratischen Institutionen. Denn deren Versprechen ist ja gerade – anders, als dies Advokaten einer illiberalen, sprich: nicht-pluralistischen, Demokratie darstellen –, dass man Differenzen aushält und Konflikte auf friedliche, idealerweise dezidiert zivilisierte Weise regelt. All dies geschieht bekanntlich primär durch Mehrheitsentscheidungen bei Wahlen, denen eine ausführliche Auseinandersetzung um politische Inhalte vorausgegangen sein sollte. Ein Clou von Wahlen ist nicht zuletzt, dass keine Wahl die letzte sein darf und jeder Konflikt bei der nächsten Abstimmung auch wieder aufs Tapet kommen und anders entschieden werden kann. Nur so können Verlierer – die es in der repräsentativen Demokratie immer geben wird – die Rolle einer legitimen Opposition übernehmen, die die Regierung kritisiert, aber nicht das demokratische System an sich untergräbt.

Man wirft nun denjenigen, die Identitätspolitik betreiben, vor, sie hielten sich – selbstgerecht und selbstermächtigend – gerade nicht an das demokratische Spiel. Anstatt die andere Seite als legitimen Partner im Konflikt anzuerkennen, werde sofort "gecancelt" – und wer gecancelt ist, kann auch bei der nächsten Abstimmung nicht mehr gewinnen (oder zumindest an der nächsten Debatte nicht mehr teilnehmen).

Zudem heißt es, früher sei die Lösung von Auseinandersetzungen einfacher gewesen, weil man über materielle Interessen relativ emotionslos habe verhandeln können; bei Identitäten hingegen gäbe es keine Kompromisse – und Streit ende im Zweifelsfall im totalen Ausschluss und der moralischen Diskreditierung der anderen Seite. Nicht nur Rechtspopulisten würden heute Kulturkampf zu ihrem politischen Geschäftsmodell machen, auch "narzisstische Linke" mit ihrem letztlich unstillbaren Verlangen nach Anerkennung vermeintlich immer ausgefallenerer Identitäten (man kommt ja bei den ganzen LGBTwhatever-Abkürzungen gar nicht mehr mit … !) machten Moral und Kultur, statt materieller Interessen, zum Hauptschauplatz der politischen Auseinandersetzung.

Daran schließt sich eine weitere Unterscheidung an, die in der Kritik der Identitätspolitik eine wichtige Rolle spielt: Immer rabiater auftretende Minderheiten, so heißt es häufig, setzten ihre eigenen Gefühle absolut, während Demokratie doch vom respektvollen gegenseitigen Austausch von Gründen und vernünftigen Argumenten lebe. Zuweilen wird gar eine Parallele zu Wiedertäufern und anderen religiösen Fanatikern gezogen, die "weißen Männern" ostentative Schuldbekenntnisse abverlangten. Gleichzeitig tolerierten die Eiferer aber keine anderen Interpretationen (oder gar Relativierungen) ihrer eigenen Schuld.

Bei alldem gehe das Verbindende in der Gesellschaft wie im politischen Diskurs verloren – und die Ironie der Geschichte sei zudem, dass die eigentlichen Opfer der neuen progressiven "Erweckungsbewegung" die Arbeiter und die sozial Unterprivilegierten seien. Die auf Forderungen nach "Buntheit" um ihrer selbst willen fixierten Aktivistinnen und Aktivisten lenkten so systematisch von der sozialen Frage ab. Und noch schlimmer: Manche sich links dünkenden Bürgerinnen und Bürger richteten sich auf diese Weise ganz bequem in einem "progressiven Neoliberalismus" ein: Man sieht sich als fortschrittlich an, weil man Transgendertoiletten befürwortet – wer die Toiletten dann saubermacht und zu welchem Stundenlohn, werde angeblich aber gar nicht mehr gefragt.

Diese Vorwürfe sind hinlänglich bekannt und werden seit mindestens einem halben Jahrzehnt breit diskutiert – sowohl auf der Sachebene als auch auf einer Metaebene, auf der man weniger einzelne Argumente empirisch und normativ prüft, sondern eher die Qualität der Diskussion an sich evaluiert (etwa indem bemängelt wird, die Debatte verlaufe "zu aggressiv"). Nur: Sind die Vorwürfe gegen das, was als Identitätspolitik geschmäht wird, wirklich berechtigt? Auf welchen begrifflichen und empirischen Annahmen beruhen sie, und wie plausibel sind diese letztlich? Und schließlich: Wie ist es um Möglichkeiten bestellt, aus einer unproduktiven Frontstellung mit stereotyp wiederholten Anschuldigungen einen Streit zu machen, aus dem beide Seiten etwas lernen können?

Kritik der Kritik I: Falsche Gegenüberstellungen

Ganz grundsätzlich geht es bei Identitätspolitik, entgegen der Unterstellungen vieler ihrer Kritikerinnen und Kritiker, nicht einfach um subjektive Gefühlszustände, sondern um die Verwirklichung von Grundrechten – und zwar auf der Basis gesamtgesellschaftlich geteilter Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit. Für Bewegungen wie Black Lives Matter und #MeToo sollte das offensichtlich sein: Niemand will von der Polizei gepiesackt, malträtiert oder gar getötet werden; ebenso ist die Forderung, nicht von mächtigen Männern belästigt oder gar vergewaltigt zu werden, kein skurriler Sonderwunsch einer dauerbeleidigten Minderheit, sondern prinzipiell für alle nachvollziehbar. Anders gesagt: Es geht bei der sogenannten Identitätspolitik, die vielleicht passender als "Politik für Minderheiten" bezeichnet werden sollte, immer auch um Prinzipien – und deren Interpretation und Anwendung versteht sich bekanntlich nicht von selbst. Mal gelten sie nur sehr selektiv, mal verfehlt eine vermeintlich universelle Anwendung ihre intendierte Wirkung.

Es geht allerdings auch nicht immer nur um Abwehrrechte gegenüber staatlichen Akteuren oder privilegierten Gruppen – es geht auch um Anspruchsrechte, die sich etwa in der Forderung nach Teilhabe ausdrücken. Das führt wiederum dazu, dass selbsterklärte Gegner der Identitätspolitik behaupten, die Minderheiten wollten ja letztlich nur mehr Macht (würden ihren Willen zur Macht aber mit allerlei moralistischer Rhetorik kaschieren). Nun ist der Versuch, mehr Einfluss zu gewinnen, wohl kaum an sich illegitim in der demokratischen Politik. Und die Behauptung, die moralisierenden Minderheiten wollten nur mehr Macht, während man selber völlig uneigennützig mit der Verteidigung abstrakter Ideale von Universalismus oder Individualismus beschäftigt sei, ist, gelinde gesagt, ideologieverdächtig. Wer erst gar nicht über Macht reden will, hat sie meist selber inne.

Der Vorwurf, hinter der Identitätspolitik verberge sich reines Machtstreben (oder, anders gesagt: knallharte Interessenpolitik), ist ohnehin nur schwer vereinbar mit der Idee, über Identitäten ließe sich politisch gar nicht verhandeln, weil nur Interessen demokratisch satisfaktions- und kompromissfähig seien. Die simple Gegenüberstellung von Interessen und Identitäten führt sowieso in die Irre, ebenso wie die Vorstellung, es hätte ein Goldenes Zeitalter rein rationaler Verhandlungen über materielle Ansprüche gegeben. Denn ausdifferenzierte Rechte sind auch eine Verteilungsfrage; und bei Fragen, wem was zusteht, lassen sich selbstverständlich auch Kompromisse finden. Die Tatsache, dass viele dieser Fragen notwendigerweise moralisch aufgeladen sind, heißt nicht, dass man nicht respektvoll mit anderen Ansichten umgehen könnte: So ist es etwa möglich, über politische Maßnahmen wie Affirmative Action in den USA sehr verschiedener Meinung zu sein, ohne aber die andere Seite in der Debatte moralisch zu disqualifizieren.

Neben der begrifflichen Richtigstellung – Identitäten und Interessen sind nicht einfach starre Gegensätze – bedarf es auch aus historischer Perspektive einer Korrektur. Denn Identitäten spielen nicht erst in jüngster Zeit im politischen Diskurs eine wichtige Rolle. Bereits Sozialisten und Sozialdemokraten verstanden sich nicht nur als eine Art Lobby für Lohnarbeiter, sondern kämpften für die Anerkennung der Würde der Verdammten dieser Erde. Und die Kreation von Klassenbewusstsein – als Schaffung einer bestimmten kollektiven Identität – war selbstverständlich ebenfalls eine Form von Identitätspolitik.

Der Versuch, soziale Fairness gegen Antidiskriminierungspolitik auszuspielen, basiert letztlich auf der irrigen Vorstellung, es handele sich dabei um eine Art Nullsummenspiel. Die Möglichkeit, eine Gesellschaft als Ganze könnte sensibler für Leiden werden und mehr Solidarität entwickeln, kommt dann gar nicht erst in den Blick. Ebenso sind diejenigen, für die vermeintlich rein kulturell-moralische Fragen nur vom großen sozialen Ganzen ablenken, unfähig zu sehen, wie sich materielle Nachteile und Diskriminierungen oft gegenseitig verstärken. Man denke nur an den "psychologischen Lohn" der weißen Arbeiter in den USA – also die "Zusatzleistung", sich den Schwarzen essenziell überlegen fühlen zu dürfen.

Noch eine letzte krude Gegenüberstellung bedarf der Kritik: die von Gefühlen auf der einen und vernünftigen Gründen auf der anderen Seite. Wut – um nur das offensichtlichste Beispiel zu nehmen – kommt nicht einfach so über Menschen; vielmehr hat Wut immer Gründe: Man ist verärgert, weil man sich ungerecht behandelt fühlt. Wer Emotionen immer sofort vom Debattentisch wischt, weil mit ihnen angeblich keine Verständigung möglich sei, wird gar nicht an den entscheidenden Punkt einer Auseinandersetzung kommen: den Moment, an dem man etwa über einen verletzten Sinn von Gerechtigkeit mit prinzipiell für alle nachvollziehbaren Gründen reden kann. Am Ende eines solchen Gesprächs wird man dann im Übrigen sehr wohl schlussfolgern können, ob Gefühle berechtigt sind oder nicht. Man kann Bürgerinnen und Bürgern Emotionen natürlich nicht einfach mal so ausreden – aber Kritik an ihrer Begründung ist möglich (und manchmal auch wirkungsvoll).

Darüber hinaus gilt: Identitäten und sogar Ideale sind durchaus flexibel und anpassungsfähig. Wenn es immer etwas klischeehaft heißt, Konflikte sollten "produktiv" sein, dann kann doch damit nicht nur gemeint sein, dass am Ende eines Konflikts eine Lohnerhöhung steht, mit der alle leben können. Vielmehr sollte Streit ein Lernprozess sein, in dem man sich selbst und seine moralischen Vorstellungen am Ende in neuem Licht betrachtet. Wenn man meint, Identitäten seien immer komplex – was von Gegnern der Identitätspolitik ja gern als Argument ins Feld geführt wird (und auch richtig ist) – dann bedeutet dies eben auch, dass sich ganz verschiedene Aspekte der Identität betonen lassen, Identitäten also in gewissem Sinne durchaus "kompromissfähig" sind.

Nur, so könnte man entgegnen: Wer gecancelt wird, muss dann ja wohl für sich alleine lernen, der totale Ausschluss ist per se inkompatibel mit einer demokratischen Streitkultur. Alles richtig, die Frage ist nur: Ist "Canceln" ein empirisch festzumachendes Phänomen oder nicht doch eher ein Kampfbegriff von interessierter Seite, um manche Kritik von vornherein zu delegitimieren? Hier sei noch einmal auf etwas spezifisch Deutsches verwiesen: In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1958 wurde dem Hamburger Publizisten Erich Lüth im Namen der Meinungsfreiheit erlaubt, zum Boykott eines Films von Veit Harlan – Regisseur des antisemitischen Propagandafilms "Jud Süß" – aufzurufen. Karlsruhe sah solches Anstacheln – das man als Canceln avant la lettre verdammen könnte – als legitimen Bestandteil einer in der Demokratie unverzichtbaren ständigen geistigen Auseinandersetzung an. Schließlich konnten sich Harlan und seine Verteidiger auch weiterhin zu Wort melden. So ist denn die vermeintliche Verteidigung der Meinungsfreiheit auch heute oftmals eher eine Forderung nach Freiheit für einen selbst nicht zur Kritik, sondern von Kritik (und Widerspruch).

All das soll nicht heißen, dass jede Forderung von Opfern automatisch Legitimität beanspruchen kann und abgenickt werden muss. Erfahrung (auch die von Leid) ist an sich noch kein Argument; aus Erzählungen ergeben sich nicht zwingend irgendwelche Handlungsanleitungen. Wie Thomas McCarthy einmal bemerkt hat, müssen die Opfer und direkt Betroffenen immer das erste Wort haben – aber nicht unbedingt das letzte. Auch kann man nie ausschließen, dass beispielsweise Rassismusvorwürfe missbraucht werden; dafür lassen sich in den USA genügend Beispiele finden. Nur ist das alles kein Grund, Bewegungen als Ganze zu diskreditieren – schließlich denkt man ja auch nicht, ein oder zwei Betrugsfälle bei der Sozialversicherung zeigten, dass das mit dem Wohlfahrtsstaat ja eh alles nichts sei.

Kritik der Kritik II: Falsche Gleichsetzungen

Eine bekannte Kritik an Identitätspolitik lautet, linke Forderungen nach einer "quotierten und sortierten Gesellschaft" und rechtspopulistische Ideale eines homogenen Volkes seien sich letztlich auf fatale Weise ähnlich: In beiden Fällen würden Individuen – unter Missachtung ihrer Komplexität und Individualität – auf eine bestimmte Identität reduziert, in beiden Fällen käme Kultur und Moral ein Primat in der Politik zu. Verbreitet ist auch die Annahme einer Art historischer Kausalität, nach der am Rechtspopulismus eigentlich die Linken schuld seien, deren überdrehte identity politics rechte Identitätspolitik erst provoziert habe. Spezifisch heißt es dann oft, Hillary Clintons Idee einer "Regenbogenkoalition" habe sie bei der Präsidentschaftswahl 2016 den Sieg gekostet; auf die Politik der Minderheiten seitens der Demokraten habe Donald Trump mit seiner eigenen Politik einer bedrohten weißen Mehrheit geantwortet (wohingegen es Joe Biden 2020 richtig gemacht habe, sich nicht auf das kulturkämpferische Schlachtfeld zu begeben, sondern allein auf soziale Gerechtigkeit zu setzen).

Allerdings: Diese vermeintlich schlagenden Beispiele stimmen empirisch so nicht. Das Thema "Transgendertoiletten" beispielsweise war im Wahlkampf 2016 bestenfalls marginal. Die Themen, die am ehesten mit Clinton in den Medien assoziiert wurden, waren skandalträchtige Stories, die den Verdacht bestärkten, Clinton sei auf irgendeine Weise korrupt (Benutzung ihres privaten E-Mail-Accounts, dubiose Vorgänge bei der Clinton-Stiftung und Ähnliches). Ihre sozial- und wirtschaftspolitischen Ideen drangen in der Öffentlichkeit schlicht nicht durch (mit Trump wurde wiederum fast nur ein Thema verbunden: Einwanderung). Clintons vermeintlicher Appell an "Sonderinteressen" (zu denen ja skurrilerweise auch immer frauenpolitische Themen gerechnet werden) war ganz sicher nicht der Grund für ihre Niederlage.

Darüber hinaus soll angesichts der "zwanghaften Symmetrisierung" (Jürgen Habermas) von rechts und links auch noch einmal daran erinnert werden, dass Bewegungen wie Black Lives Matter oder #MeToo eben nicht auf die absolute Festschreibung bestimmter Identitäten zielen, sondern Bürgerinnen und Bürger mobilisieren wollen, um elementare Rechte einzufordern. Eine solche Mobilisierung erfordert es, erst einmal öffentliche Aufmerksamkeit auf gemeinsame Leidenserfahrungen zu lenken. Das wiederum geht kaum, ohne auf die Identität, die einem (oft abwertend) zugeschrieben worden ist, Bezug zu nehmen. Dass dabei auch versucht wird, negative Erwartungen umzukehren (vom Stigma zu Pride), ist nicht so sehr eine Abgrenzungs-, sondern vielmehr eine Ermutigungsstrategie (beziehungsweise eine taktisch-strategische Vereindeutigung von Identität). Wer Minderheiten dann vorwirft, sie würden ja immer nur narzisstisch von sich selbst reden, belehrt die Stigmatisierten de facto, sie dürften nicht über ihr Stigma sprechen, beziehungsweise verbietet es ihnen, ihre Diskriminierung zu thematisieren. Hannah Arendt bemerkte einmal, wenn man als Jüdin angegriffen werde, müsse man sich als Jüdin wehren. Eine Verteidigung, die sich sofort ins Allgemeine zurückzieht, lässt es gar nicht zu, besondere Umstände und Gründe eines bestimmten Unrechts zu erkennen.

Man muss also erst einmal einzelne Geschichten erzählen – und dabei auch immer über die Geschichte sprechen, weil Grausamkeit, Unterdrückung und Ausbeutung nicht erst gestern angefangen haben. Strukturelle Gründe für Diskriminierung sind das eigentliche Thema der Identitätspolitik, nicht allerlei feinste Verästelungen von Identität. Differenzierungen werden wichtig, wenn es darum geht, die Überschneidungen von verschiedenen Formen von Diskriminierung zu erkennen – mit narzisstischer Selbstbespiegelung haben sie nichts zu tun.

Die Vorstellung einer Symmetrie von liberaler oder linker Identitätspolitik auf der einen und rechtsgerichteter, identitärer auf der anderen Seite ist bestenfalls eine optische Täuschung. Erstere fordert Schutz ein im Lichte genuiner Erfahrungen von Diskriminierung, denen (in der Regel äußerlich sichtbare, wenn auch zugeschriebene) Differenzen zugrunde liegen. Das heißt aber nicht, dass diese Differenzen absolut gesetzt werden, oder dass man die Einzelnen nun identitär auf bestimmte Zuschreibungen festnagelt (so als gelte es, ein neues Kastensystem von Kränkungsgraden zu schaffen). Rechte identitäre Politik verlangt zwar auf den ersten Blick auch eine Form von Schutz – zum Beispiel vor "Umvolkung" – und suggeriert ihren Anhängern, sie seien Opfer (Trump appellierte beispielsweise im Dezember 2020 mit dem Satz "We’re all victims" an seine Bewegung). Aber sie kann nicht plausibel machen, worin hier Diskriminierung oder auch Leiden eigentlich bestehen sollen, denn in ihrem Fall werden gar keine Identitäten in Frage gestellt oder angegriffen. Auf die imaginäre Attacke wird dennoch mit einer Vereindeutigung der eigenen (nationalen) Identität geantwortet.

Ganz simpel gesagt: Rechtspopulisten betreiben systematisch den Ausschluss von Minderheiten. Ihre Rede lautet: "Ihr gehört gar nicht dazu." Bewegungen wie Black Lives Matter sagen hingegen: "Ihr hört (uns) gar nicht zu" (weswegen rassistische Polizeigewalt auch jahrzehntelang ungestraft blieb). Antipluralismus ist das politische Geschäftsmodell der Rechtspopulisten; eine Neuaushandlung von Pluralismus das Anliegen der Minderheiten, die Teilhabe einfordern.

Und der Zusammenhalt … ?

Eine Ironie des Gebrauchs von "Identitätspolitik" als Schlagwort besteht darin, dass es dabei eigentlich um das Nicht-Identische geht – um das also, was in ein Verständnis von demokratischer Gleichheit als Gleichmacherei oder gar Homogenität der Staatsbürger gerade nicht passt und deswegen ungerecht behandelt oder gar unterdrückt wird. Anders sein ohne Angst – diese von Theodor W. Adorno inspirierte Formulierung trifft, worauf Identitätspolitik eigentlich abzielt. Und das ist gerade kein "identisch machen".

Bestärkt das nicht aber doch gerade die Sorge, in einer schön sauber in Communities aufgeteilten Gesellschaft gehe der berühmte Zusammenhalt beziehungsweise der Gemeinsinn verloren? Dieser Einwand übersieht zweierlei: Zum einen versuchen Minderheiten ja gerade, an eigentlich gemeinsam geteilte Prinzipien zu appellieren. Die von Gegnern der Identitätspolitik vorgebrachte Forderung, die Minderheiten sollten sich doch bitte auf das Verbindende, und nicht auf das Trennende, konzentrieren, verkennt, dass die Verpflichtung auf die Idee, Rechte zu erweitern und auch immer wieder neu auszuhandeln, gerade das Verbindende sein könnte. Wie der Jurist Christoph Möllers zu Recht schreibt: "Vieles, was vermeintlich als Verwerfung oder Zersplitterung gedeutet wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine soziale Erweiterung der Inanspruchnahme von Rechten."

Bei dieser Erweiterung muss von bestimmten Gruppen die Rede sein, ohne damit einen demokratischen Gesamtzusammenhang in Frage zu stellen. So ist es befremdlich, wenn beispielsweise jegliche Rede von "kollektiven Identitäten" für suspekt erklärt wird. Hätten Sozialisten nie von der Arbeiterklasse sprechen dürfen? Ist es gefährlich, wenn man von Europa (Vorsicht: kollektive Identität!) eine herausragende Rolle beim weltweiten Menschenrechtsschutz fordert? Repräsentative Demokratie kann ohne Verallgemeinerungen über Gruppen gar nicht funktionieren. Selbstverständlich müssen solche Ansprüche und Appelle ("Wir als Partei möchten Euch vertreten!") für Widerspruch und Revisionen offen bleiben. Aber nicht jede Verallgemeinerung ist eine illegitime Vereinnahmung.

Zum anderen kann, entgegen der Annahme mancher Kritiker der Identitätspolitik, das Allgemeine oder Verbindende (oder was die amerikanischen Anti-Identitätspolitik-Aktivisten Jonathan Haidt und Greg Lukianoff ohne einen Anflug von Ironie common-humanity identity politics genannt haben) nicht ohne Weiteres von jedem in Anspruch genommen werden. Denn die Frage bleibt: Wie allgemein ist das Allgemeine, und wer definiert das "Zusammen" beim Zusammenhalt? Immer und immer wieder in der Geschichte mussten auch Menschen, die sich in keiner Weise des Rassismus oder Sexismus verdächtig fanden, feststellen, dass ihre vermeintlich umfassenden Kategorien von "Bürger" oder "Mensch" (und den Rechten, die dann für diese Kategorien konstruiert werden) eben nicht so universal codiert waren wie gedacht. Im Grunde sagt man denen, die sich herausnehmen, die blinden Flecken verschiedener Formen von Universalismus zu benennen: "Hier gibt es nichts zu sehen. Wir haben schon alles erreicht an Rechten und allem, was es überhaupt nur geben kann." Es wird selten erwähnt, dass eines der zentralen Ziele des berühmten feministischen "Combahee River Collective" (das für die Anti-Identitätspolitiker die Quelle allen Übels ist) schlicht folgendes war: "To be recognized as human, levelly human, is enough."

Zu Recht hat die Soziologin Silke van Dyk – im Gegensatz zu den Kritikern, die ihn als irgendwie lästigen Partikularismus denunzieren – einen solchen Universalismus, der einen real existierenden Universalismus als Produkt partikularer Interessen enttarnt, einen "rebellischen Universalismus" genannt. Das Ziel ist also, Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit, die an sich schon geteilt werden, besser zu verwirklichen – und nicht, sie im Namen des Partikularen zu unterlaufen oder gar abzuschaffen. Dass dies schwierig und nervig sein kann: keine Frage. Aber Demokratie braucht eben immer wieder das, was der Bürgerrechtler John Lewis einmal good trouble, necessary trouble nannte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Nicole Deitelhoff et al., Gesellschaftlicher Zusammenhalt – Umrisse eines Forschungsprogramms, in: Nicole Deitelhoff/Olaf Groh-Samberg/Matthias Middell (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Ein interdisziplinärer Dialog, Frankfurt/M.–New York 2020, S. 9–40.

  2. Vgl. Rainer Forst, Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Zur Analyse eines sperrigen Begriffs, in: Deitelhoff/Groh-Samberg/Middell (Anm. 1), S. 41–53.

  3. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 174.

  4. Vgl. Adam Przeworski, Why Bother with Elections?, Cambridge 2018.

  5. Vgl. Nancy Fraser, The End of Progressive Neoliberalism, 2.1.2017, Externer Link: http://www.dissentmagazine.org/online_articles/progressive-neoliberalism-reactionary-populism-nancy-fraser.

  6. Dass Fragen moralisch aufgeladen sind, bedeutet nicht, dass jeder Streit über sie "moralisierend" sein muss. Siehe Christian Neuhäuser/Christian Seidel (Hrsg.), Kritik des Moralismus, Berlin 2020.

  7. Ich wiederhole hier Argumente aus einem früheren Aufsatz. Vgl. Jan-Werner Müller, "Das wahre Volk" gegen alle anderen. Rechtspopulismus als Identitätspolitik, in: APuZ 9–11/2019, S. 18–24.

  8. Siehe die bahnbrechende Studie von Yochai Benkler/Robert Faris/Hal Roberts, Network Propaganda: Manipulation, Disinformation, and Radicalization in American Politics, New York 2018.

  9. Vgl. Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum 1/1989, S. 139–167.

  10. Christoph Möllers, Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik, Berlin 2020, S. 97.

  11. Vgl. Gesine Schwan, Wider das Gift kollektiver Identität, in: Süddeutsche Zeitung, 26.2.2021, S. 17.

  12. Vgl. Jonathan Haidt/Greg Lukianoff, The Coddling of the American Mind. How Good Intentions and Bad Ideas Are Setting Up a Generation for Failure, London 2019.

  13. Zugänglich unter Externer Link: http://www.blackpast.org/african-american-history/combahee-river-collective-statement-1977.

  14. Vgl. Silke van Dyk, Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen: Für einen rebellischen Universalismus, in: APuZ 9–11/2019, S. 25–32.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jan-Werner Müller für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Roger Williams Straus Professor of Social Sciences an der Princeton University und derzeit Senior Fellow am Exzellenzcluster "Contestations of the Liberal Script" in Berlin. E-Mail Link: jmueller@princeton.edu