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Demokratische Innovation durch Bürgerräte | Zustand der Demokratie | bpb.de

Zustand der Demokratie Editorial Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert Freiheit, Gleichheit, Zusammenhalt – oder: Gefährdet "Identitätspolitik" die liberale Demokratie? Aus dem Gleichgewicht. Zum Zustand demokratischer Öffentlichkeit Demokratie in Gefahr? Repräsentative Politik zwischen Demokratisierung und Entdemokratisierung Krise (und Ende?) der Volksparteien Demokratische Innovation durch Bürgerräte

Demokratische Innovation durch Bürgerräte

Lukas Kübler Claus Leggewie Patrizia Nanz

/ 17 Minuten zu lesen

Krisendiagnosen zum Zustand der Demokratie sind in der jüngeren Vergangenheit allgegenwärtig. Die Rede ist etwa von einer akuten Repräsentationskrise und dass das Verhältnis von Regierenden und Regierten – verstärkt noch durch die Pandemiekrise – umkippe in Misstrauen und Verdruss. Volksparteien verlieren Mitglieder und Stammwähler, soziale Milieus "ganz oben" und "ganz unten" nehmen nicht mehr an Wahlen teil. Die politische Beteiligung verlegt sich auf die Straße, das politische Klima polarisiert sich, viele haben sich desillusioniert vom politischen Betrieb abgewandt und kommentieren ihn zynisch. Populisten adressieren "das Volk" als ihre Basis und richten es gegen das "Establishment" aus – gegen die Parteien, das Parlament, die Regierung, auch die Medien und selbst gegen Gerichte. Völkisch-autoritäre Nationalisten stellen "das Volk" über das bestehende Recht und zerstören, wo sie an der Macht sind, die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative. Diese Trends summieren sich weltweit zu demokratischen Regressions- und Krisentendenzen.

So weit, so bekannt. Darlegungen zum "Sterben der Demokratie" füllen ganze Bibliotheken. Man weiß, was schiefgelaufen ist und weiterhin schiefläuft, wie Autoritäre und Autokraten gegen die liberale Demokratie als Herrschafts- und Lebensform vorgehen. Indes: Was kann man diesem Trend entgegensetzen? Was kann die Entdemokratisierung bremsen, was die seit kurz nach der Jahrtausendwende zu beobachtende Entwicklung umkehren? Schon immer war Demokratie instabil und gefährdet – immer standen dem jedoch auch gegenläufige Tendenzen einer "Demokratisierung der Demokratie" entgegen. Mehr soziale Gruppen wurden wahlberechtigt, das Wahlalter gesenkt, hierarchische soziale Systeme mussten sich Forderungen nach sozialer Gleichheit und Mitwirkung öffnen. Welche Ideen gibt es heute, um Demokratie zu vertiefen?

Notwendige Innovationen

Die gute Nachricht ist: Dem verbreiteten Verdruss über etablierte politische Prozeduren korrespondiert eine Lust auf Beteiligung – weniger bei den "Verdrossenen" selbst, die nur hier und da auf der Straße Druck ablassen, als bei den politisch ohnehin Interessierten, denen die Abgabe ihrer Wählerstimme alle vier Jahre zu wenig ist, die Mitgliedschaft in einer Partei, einem Verein oder einer Initiative jedoch zu mühsam beziehungsweise zu altmodisch erscheint. Der Zulauf etwa zu sozialen Bewegungen, zu Nichtregierungsorganisationen, zum Freiwilligenengagement oder zum sozial-ökologischen Unternehmertum ist so zu erklären. Aber auch diese Partizipationsformen leiden oft unter einem Mangel an Strukturen für kontinuierliche und nachhaltige Mitwirkung, die der Demokratie neuen Schwung geben könnten. Einen Ersatz scheinen die sozialen Medien zu bieten, die jedoch oft eher zum Eintauchen in Echokammern und zum "Dampfablassen" dienen und sich weniger, wie von manchen erhofft, zu einer Plattform für e-democracy gemausert haben.

Damit kommen wir zum Punkt: Sowohl der parlamentarischen als auch der in sozialen Medien geführten Debatte mangelt es oft an einer gründlichen Erörterung von Entscheidungsalternativen. Die politisch-mediale Debatte ist meist personalisierend und präsentistisch, demoskopiegetrieben und zukunftsblind. Das hat vor allem in ökologischen Fragen zu einem kolossalen Versagen speziell der Berufspolitik geführt, das Protestbewegungen wie Fridays For Future und Extinction Rebellion vor Augen geführt haben. Gerade aufgrund der Komplexität des Themas wäre es hilfreich, eine gute Portion Bürgerverstand und "Common Sense" von Menschen aller Altersstufen, Herkunftsregionen und politischen Orientierungen miteinzubeziehen, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und auf kooperative Lösungen setzen. Dass dies möglich ist, lässt sich nur beweisen, wenn man einschlägige politische Experimente und Innovationen auf seriöse Weise in die Wege leitet, gründlich auswertet und zielführend in den politischen Entscheidungsprozess einbringt.

Dass in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer mehr direkte Bürgerbeteiligung gefordert und gewährt wurde, ist die Folge einer bereits länger währenden "partizipativen Revolution" – und des mit ihr seit dem Wertewandel in den 1960er Jahren weltweit einhergehenden Anspruchs, Berufspolitik nicht als einzig legitimen Ausdruck des Politischen zu begreifen und hinzunehmen, sondern Agenden, die im politischen Alltagsbetrieb unterrepräsentiert sind, mit "unkonventioneller Beteiligung" aufzugreifen: vom Straßenprotest über soziale Bewegungen, die Gründung von Bürgerinitiativen, Petitionen und Volksinitiativen bis hin zu zivilem Ungehorsam.

Komplementär zu diesem maßgeblich "von unten" angetriebenen Spektrum unkonventioneller Beteiligungsformen entstand global aber auch eine heterogene Strömung von Akademiker*innen und anderen professionellen – häufig sogar staatlichen oder administrativen – Akteuren, die versuchten, die partizipative Revolution in konstruktive, stärker formalisierte Experimente zu überführen. Diese Ansätze sehen die Erneuerung der Demokratie wesentlich als ein Problem des "institutionellen Designs" an und zielen daher auf die Entwicklung von "demokratischen Innovationen" beziehungsweise "demokratischen Experimenten".

Bürgerräte im Feld demokratischer Innovationen

Die Idee eines demokratischen Experimentalismus ist nicht neu. In gewissem Sinn entstand bereits die athenische Demokratie aus einer Folge unterschiedlicher Experimente. Ein explizites Programm eines "demokratischen Experimentalismus" formulierte im 20. Jahrhundert der US-amerikanische Sozialphilosoph John Dewey. Schwächen und Dysfunktionen demokratischer Regierungsformen ließen sich, so Dewey, angesichts sich verändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen im Normalfall nicht durch "Mehr vom Gleichen" beheben, sondern müssten auf eine Vertiefung demokratischer Partizipation und Teilhabe abzielen. Dieser Geist hat die oben skizzierten Bewegungen der "partizipativen Revolution" seit rund zehn Jahren in einer Diskussion über "demokratische Innovationen" zusammengeführt. Die Rede von "demokratischen Innovationen" schließt an einen Diskurs über "soziale Innovationen" an. Ähnlich wie bei einem erfolgreichen technischen Prototypen könne sozialer Wandel nicht als übergreifende politische Reform, sondern als schrittweise ("melioristische") Verbesserung konzipiert werden: Zunächst testet man neuartige – eben "innovative" – Instrumente für die Gestaltung sozialer Prozesse in einem zeitlich, thematisch und gegebenenfalls auch räumlich eng abgegrenzten Rahmen. Sofern sie sich als erfolgreich erwiesen haben, können sie per Nachahmung und Adaption auf andere Kontexte übertragen werden und so kumulativ die Problemlösungsfähigkeit der Gesellschaft verbessern, ohne eine große "Makro-Reform" anzustoßen. Als "demokratisch" lassen sich soziale Innovationen dann charakterisieren, wenn sie die Rolle von Bürger*innen in öffentlichen und politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen aufwerten und neue Gelegenheiten für politische Teilhabe, Deliberation und Einfluss eröffnen.

So verstanden ist das Feld demokratischer Innovationen sehr plural und divers, schon allein deshalb, weil sich einzelne Ansätze durch Adaption und Interpretation beständig verändern. Dennoch lassen sie sich grob in vier Kategorien einteilen: erstens direktdemokratische Ansätze, zweitens kommunale Mitbestimmungsformate, drittens zufallsbasierte "Mikro-Öffentlichkeiten" (mini-publics) und viertens digitale Beteiligungsinstrumente.

  1. Am bekanntesten sind direktdemokratische Vorstellungen, nach denen politische Entscheidungen von den Bürger*innen direkt (das heißt: mit bindender Wirkung) getroffen werden sollen, zum Beispiel per Referendum über eine aus der politischen Arena vorgeschlagene Maßnahme oder gar in Form einer Abstimmung über eine Volksinitiative. Allerdings weisen solche direktdemokratischen Verfahren diverse Schwierigkeiten auf, wie etwa das Beispiel des Brexits zeigt: Sie werden häufig von politischen Eliten für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert und können aufgrund ihrer dichotomen "Ablehnung/Zustimmung"-Struktur die politische Polarisierung befördern. Außerdem müssen Bürger*innen in ihnen komplexe Entscheidungen treffen, deren umfassende und langfristige Folgen für sie schwer zu beurteilen sind. Entsprechend haben sie sich bis auf wenige Ausnahmen (beispielsweise in der Schweiz oder einzelnen Bundesstaaten der USA) nur mit Einschränkungen durchgesetzt (in Deutschland etwa nur auf Länderebene). Insgesamt gibt es Anzeichen dafür, dass direktdemokratische Ansätze eher an Bedeutung verlieren. So hat die Partei Bündnis 90/Die Grünen vergangenes Jahr die Forderung nach direktdemokratischer Beteiligung nach 40 Jahren aus ihrem Grundsatzprogramm gestrichen und sich stattdessen für Bürgerräte als Partizipationsform ausgesprochen. In den USA gibt es Bestrebungen, in den vergangenen Jahrzehnten eingeführte direktdemokratische Elemente auf Ebene der Bundesstaaten durch Bürgerräte zu ergänzen (siehe hierzu die Ausführungen weiter unten), um den polarisierenden Wirkungen von Referenden entgegenzuwirken. Ein Beispiel hierfür ist der "Oregon Citizens’ Initiative Review", bei dem Volksinitiativen im Bundesstaat Oregon einer Überprüfung durch ein Gremium zufällig ausgewählter Bürger*innen unterzogen werden, um zur Vorbereitung eines Referendums ausgewogene Entscheidungsgrundlagen für die Bevölkerung zu erstellen.


  2. Schon immer war die kommunale Ebene ein wesentlicher Ort partizipatorischer demokratischer Experimente. Bereits in ihrer Entstehung in der Antike war die Demokratie bekanntlich als Regierungsform kleiner Stadtstaaten angelegt. Und auch die Wiederkehr von Republikanismus und Demokratie in der Moderne nahm wesentlich von Stadtrepubliken wie Genf oder den town hall meetings im nordamerikanischen New England ihren Ausgang. Befördert durch starke Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ist in jüngerer Vergangenheit wieder ein Trend zur Kommunalisierung von Politik zu beobachten: Veränderungsprozesse bottom-up als Grundlage eines neuen demokratischen Selbstverständnisses. Weltwelt bilden sich lokale Allianzen, um unter Beteiligung von Bürger*innen ihre Zukunft vor Ort zu gestalten – gerade auch in Gemeinden mit schlechter Infrastruktur und fehlenden Arbeitsplätzen. Ein Modell, das sich in den letzten Jahrzehnten global weit verbreitet hat, ist das sogenannte participatory budgeting. Ursprünglich wurde es Ende der 1980er Jahre in Porto Alegre (Brasilien) entwickelt und institutionalisiert. Die Bestimmung über die Ausgaben von wesentlichen Teilen des kommunalen Haushalts wird dabei an offene Bürgerversammlungen übertragen, die in mehreren Runden über förderungswürdige Projekte befinden.


  3. Die grundlegende Idee hinter "Mikro-Öffentlichkeiten" (mini-publics) ist, politisch kontroverse Fragen und Probleme in (relativ) kleinen, losbasierten Bürgerräten beziehungsweise -versammlungen zu beraten. Es wird durch das Losverfahren eine nach bestimmten Kategorien (etwa Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen) für die Bevölkerung repräsentative Kleingruppe von 25 bis 500 Bürger*innen ermittelt. Diese verständigt sich dann unter für den kommunikativen Austausch möglichst vorteilhaften Bedingungen (insbesondere einer inklusiven und lösungsorientierten Moderation) stellvertretend für die Gesamtheit der Bürger*innen über ein politisches Problem. Weil sie auf Beratung und Verständigung – das heißt: gelingende Deliberation – zugeschnitten sind, sind Bürgerräte vor allem in der neueren deliberativen Demokratietheorie von zentraler Bedeutung. Die Funktion solcher Bürgerräte ist maßgeblich konsultatorisch, das heißt, sie sollen die politischen Entscheidungsträger*innen beraten und damit das repräsentativ-demokratische System um partizipative und deliberative Elemente ergänzen, es aber keineswegs ersetzen. Dabei können Bürgerräte auf ganz unterschiedlichen Ebenen stattfinden: Im österreichischen Bundesland Vorarlberg etwa wurden Bürgerräte maßgeblich auf kommunaler und regionaler Ebene eingesetzt, während sie in Irland auf nationaler Ebene zur Beratung über Verfassungsfragen eingerichtet wurden.


  4. Im Bereich digitaler Beteiligungsinstrumente hat sich zunächst mit der Entstehung des Internets und den dadurch ermöglichten digitalen Öffentlichkeiten und sozialen Plattformen viel Hoffnung für eine Vitalisierung der demokratischen Öffentlichkeit verknüpft. Diese Hoffnung wurde angesichts der durch das Internet ausgelösten Krise des Journalismus, der Fragmentierung und Polarisierung von Diskursen auf sozialen Plattformen sowie der Verbreitung von Online-Mobbing und hate speech enttäuscht. In diesem Zuge sind auch die Erwartungen an demokratische Innovationen der Online-Beteiligung wie "Liquid Democracy" (unter anderem im Zusammenhang mit dem temporären Erfolg der Piratenpartei in einzelnen europäischen Ländern) oder auch der Etablierung von elektronischen Beteiligungsplattformen wie "Consul" nüchterner geworden. Bemerkenswert ist, dass solche Instrumente bislang wenig bis gar nicht vom jüngsten Digitalisierungsschub während der Covid-19-Pandemie profitieren konnten, während etwa Bürgerräte und verwandte Beteiligungsformate durch die virtuelle Durchführung als Videokonferenz einen starken Schub erlebt haben. Gleichwohl ist durch die technologische Entwicklung mittelfristig mit stärkeren Veränderungen und Transformationen zu rechnen, in denen sich einzelne Innovationen womöglich zu integrierten Konzepten wie "Open Democracy" verbinden.

Werden diese unterschiedlichen Arten demokratischer Innovationen einen Beitrag dazu leisten können, den eingangs skizzierten Krisen- und Regressionsphänomenen zu begegnen? Demokratische Innovationen können politische Prozesse inklusiver machen, die Einflussmöglichkeiten der Bürger*innen auf deren Ergebnisse stärken und die Qualität beziehungsweise Transparenz politischer Entscheidungen verbessern. Indem sie soziales Lernen und politische Bildung stärken, leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Verfahren und der politischen Kultur parlamentarischer Demokratien. Ob sie das aber tatsächlich erreichen, hängt stets davon ab, ob ihr Design auf die jeweiligen Kontexte und Ziele zugeschnitten ist. Nach unserer Überzeugung kommt insbesondere deliberativen Mini-Öffentlichkeiten eine entscheidende Rolle in der Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie zu. Tatsächlich haben sie in den vergangenen Jahren auch entscheidend an Einfluss gewonnen, weshalb wir im Folgenden die neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der Bürgerräte beleuchten wollen.

Idee und Umsetzung

Die oben skizzierten deliberativen Grundprinzipien von Bürgerräten beziehungsweise Bürgerversammlungen finden sich in ganz verschiedenen Beteiligungsformaten wieder, die auf unterschiedliche Kontexte und Probleme ausgerichtet sind (siehe Abbildung). Sie unterscheiden sich nach der Zahl und dem Auswahlmodus der Teilnehmer*innen, Dauer und Institutionalisierung des Partizipationsprozesses, nach der zu verhandelnden Thematik sowie in der Frage, ob die Initiierung durch die Verwaltung, Vereine oder unorganisierte Bürger*innen erfolgt. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Grundannahme, dass komplizierte und strittige Agenden am besten in einem offenen und fairen Meinungsaustausch bearbeitet werden können, an dessen Ende ein möglichst von allen oder zumindest der Mehrheit getragener Konsens steht.

Abbildung: Stimmenanteile von CDU/CSU und SPD bei den Bundestagswahlen 1949 bis 2017, in Prozent (© bpb)

Welchen Beitrag können nun speziell Bürgerräte zur Überwindung von Krisen- und Regressionstendenzen der parlamentarischen Demokratie leisten? Zunächst institutionalisieren sie einen kooperativen Politikstil, der auf einen bei Hannah Arendt exemplarisch entfalteten Machtbegriff zurückgeht: "Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln." Anders als bei Max Weber geht es nicht um die "Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation". So hat Jürgen Habermas schon vor Jahrzehnten die deliberative Form der Demokratie begründet: "Die Verständigung derer, die sich beraten, um gemeinschaftlich zu handeln (…) bedeutet Macht, soweit sie auf Überzeugung, und damit auf jenem eigentümlich zwanglosen Zwang beruht, mit dem sich Einsichten durchsetzen."

Wichtig ist dabei vor allem der Dialog. Kooperation und Dialogfähigkeit setzen wiederum Empathie voraus. Verstanden als Achtsamkeit und Empfänglichkeit für andere Menschen, geht Empathie über eine rein kognitiv-argumentative Ebene hinaus, die in der politischen Theorie lange präferiert wurde. Die an der Harvard-Universität "demokratische Werte" lehrende Jane Mansbridge vertritt hingegen eine alltagsweltliche, pragmatische Perspektive, nach der der demokratische Weg zum Gemeinwohl über Kooperation und Empathie führt: "Empathie kann dazu führen, dass wir das Wohl eines Anderen zu unserem eigenen machen. Individuelle Interessen überlappen nicht nur; getrennte Individuen verschmelzen gewissermaßen zu einem."

In diesem Sinne schaffen Bürgerräte im Betrieb parlamentarischer Demokratien, der wesentlich durch gegensätzliche, kurzfristig orientierte Interessen und fragmentierte Zuständigkeiten geprägt ist, Inseln gemeinwohlorientierter Kooperation und Empathie. In diesem geschützten Raum lassen sich konstruktive und langfristig orientierte Lösungen für gravierende politische Probleme erarbeiten, die schließlich von politischen Entscheidungsträger*innen aufgegriffen werden können. Dementsprechend informieren sie Politik und Verwaltung über reflektierte Einstellungen und Werte der Bürger*innen, die durch übliche Meinungsabfragen nicht zu ermitteln sind. Damit tragen Bürgerräte zur Steigerung der Legitimation politischer Entscheidungen bei und können komplexe politische oder soziale Probleme so aufbereiten, dass sie der Willensbildung in Parteien und der allgemeinen politischen Öffentlichkeit Orientierung geben. Nicht zuletzt sind Bürgerräte somit Orte des gegenseitigen Lernens, an denen Normen und Standards für die politische Auseinandersetzung ausgebildet werden.

Dass Politik und Verwaltung von diesen Vorteilen, die Bürgerräte zu bieten haben, zunehmend Gebrauch machen, zeigt sich an der Zahl praktisch durchgeführter Bürgerräte, die in den vergangenen zehn Jahren sprunghaft gewachsen ist.

Kein Zufall ist dabei insbesondere die seit 2019 zu beobachtende Ausbreitung von Bürgerräten, die sich mit dem Problem der Klimapolitik beschäftigen. Das prominenteste Beispiel für solche Klimaräte ist die Convention Citoyenne pour le Climat (CCC) in Frankreich, die Staatspräsident Emmanuel Macron 2019 in Reaktion auf die Proteste der "Gelbwesten" einberufen hat und für die per Zufall 150 Bürger*innen ausgewählt wurden, um über die Frage zu beraten, wie Treibhausgasemissionen auf sozial gerechte Weise reduziert werden können. Auch das House of Commons des Vereinigten Königreichs hat Ende 2019 bis Anfang 2020 eine Climate Assembly mit 108 Bürger*innen durchgeführt, und in Berlin wurde im Mai 2021 durch einen Beschluss des Abgeordnetenhauses ein Klimarat auf den Weg gebracht, der auf die erfolgreiche Volksinitiative "Klimaneustart" zurückgeht. Auch auf nationaler Ebene tagt derzeit ein Klimarat unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der jedoch nicht mit einem institutionellen Mandat ausgestattet ist.

Das französische Beispiel kann dabei die Potenziale des Einsatzes von Bürgerräten für die Bearbeitung von konfliktträchtigen Zukunftsthemen wie auch die Gefahren, die aus einer überhasteten und unverbindlichen Verwendung dieses Instruments erwachsen, illustrieren. Einerseits zeigte sich, dass die 149 Maßnahmenvorschläge, die vom CCC – fast alle einstimmig oder mit starken Mehrheiten – erarbeitet wurden, ausgesprochen ambitioniert waren und die ursprünglichen Pläne der Regierung Macron bei Weitem überstiegen. Das belegt, dass in der Bevölkerung eine Bereitschaft zur radikalen Transformation vorhanden ist, die Parteipolitiker mit ihrem Fokus auf Gruppeninteressen zuvor für unmöglich gehalten haben. Auch wurden die Verfahrensmerkmale der CCC – Zufallsauswahl und deliberative Qualität – in Medien und Öffentlichkeit überwiegend positiv gesehen und ihren Empfehlungen ein hohes Maß an Vertrauen und Sachverstand zugemessen. Allerdings wurde seit der Übergabe der Vorschläge im Sommer 2020 zunehmend deutlich, dass der französische Staatspräsident hinter seinem Versprechen, "alle" Vorschläge umsetzen zu wollen, weit zurückbleiben wird. Die Enttäuschung über die Unaufrichtigkeit von Macrons "deliberativ-partizipativer Wende" könnte den Zulauf zu populistischen (und rechtsnationalistischen) Strömungen weiter fördern.

Richtungsentscheidungen

Die benannten Probleme drohen auch in anderen Fällen. Dass die Frage, wie die Entscheidungsträger*innen im politischen System mit den Beratungsergebnissen von Bürgerräten umgehen sollen, nicht hinreichend verbindlich geregelt ist, birgt das eminente Risiko, Bürgerräte zum demokratischen "Feigenblatt" verkommen zu lassen, das die Krise der parlamentarischen Demokratie nur kurzfristig überdeckt. Bestärkt wird dies dadurch, dass die Durchführung eines Bürgerrates häufig als Einzelmaßnahme begriffen und nicht in einen breiteren Rahmen der demokratischen Erneuerung eingebettet wird – und so gewissermaßen als Flicken fungiert, der notdürftig die Löcher eines Systems schließen soll, das eigentlich an allen Nähten auseinandertreibt. Deshalb möchten wir abschließend an dieser Stelle an die bereits vor mehreren Jahren ausgearbeitete Idee der zu einer "Konsultative" verknüpften "Zukunftsräte" erinnern. Beide Begriffe verweisen auf Dimensionen, die in der gegenwärtigen Konjunktur der Bürgerräte nicht adäquat eingelöst wurden. Sie erscheinen uns aber essenziell, wenn die Chancen der gegenwärtigen Erneuerungsbewegungen nicht direkt wieder verspielt werden sollen. Vor allem ist ein Zukunftsrat ein dauerhaft institutionalisierter Bürgerrat. Anders als die heute verbreiteten Experimente (mit wenigen Ausnahmen) ist damit sein Verhältnis zu anderen (ebenfalls dauerhaften) Institutionen und Gremien des demokratischen Prozesses verbindlich, klar und langfristig geregelt. Gleiches gilt für die professionelle Unterstützung durch hauptamtliche Initiativteams, die als Moderatoren und Geschäftsstelle tätig sind. Schließlich befasst sich ein Zukunftsrat als dauerhaftes Gremium (selbst wenn die individuelle Mitgliedschaft auf zwei Jahre begrenzt ist) inhaltlich weniger mit Ad-hoc-Problemen als mit den zukunftsträchtigen Transformationen, die unsere politischen Gemeinschaften auf Jahre und Jahrzehnte beschäftigen werden. So baut die Vorstellung der Konsultative auf einem zwar inkrementell-melioristischen, aber dennoch systemischen Verständnis demokratischer Innovation auf: Zukunftsräte werden eine umfassende Kraft für die Erneuerung der Demokratie im Sinne einer "vierten Gewalt" nur dann entfalten können, wenn sie keine Einzelfälle bleiben, sondern sich zu einem Netzwerk vieler unterschiedlicher Räte und kurzfristiger Beteiligungsformate auf den unterschiedlichen Ebenen des politischen Systems verknüpfen. Zu einem solchen systemischen Verständnis demokratischer Innovation gehört, dass Institutionen, die das Umfeld der Konsultative bilden – Verwaltung, legislative und exekutive Gremien – ebenfalls lernen müssen, mit der Veränderung der politischen Architektur umzugehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur globalen Entwicklung vgl. Adam Przeworski, Crises of Democracy, Cambridge 2019; in langfristiger Perspektive David Runciman, The Confidence Trap. A History of Democracy in Crisis from World War I to the Present, Princeton 2013; zur Krise des deutschen parlamentarischen Regierungssystems vgl. Florian Meinel, Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus, München 2019; zum Aufschwung populistischer Bewegungen und Parteien vgl. u.a. Pierre Rosanvallon, Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte, Theorie, Kritik, Hamburg 2020.

  2. Vgl. Graham Smith, Can Democracy Safeguard the Future?, Cambridge 2021, Kap. 1; zum Beispiel des Klimawandels vgl. Claus Leggewie, Nicht die beste der Welten. Von der Corona-Krise zum Klima-Kollaps: Wie lernfähig ist die Weltgesellschaft?, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Corona. Pandemie und Krise, Bonn 2021, S. 175–185.

  3. Vgl. für einen systematischen Überblick Patrizia Nanz/Miriam Fritsche, Handbuch Bürgerbeteiligung. Verfahren und Akteure, Chancen und Grenzen, Bonn 2012 (2. Aufl. i.E. 2021); zum Einfluss staatlicher Akteure vgl. Mark E. Warren, Governance-driven Democratization, in: Critical Policy Studies 3/2009, S. 3–13.

  4. Vgl. Mogens Herman Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, Berlin 1995.

  5. Vgl. John Dewey, The Public and Its Problems, Athens 1954 [1927], S. 144.

  6. Vgl. Stephen Elstub/Oliver Escobar, Defining and Typologising Democratic Innovations, in: Handbook of Democratic Innovation and Governance, Cheltenham 2019, S. 11–31.

  7. Vgl. Geoff Mulgan, Social Innovation. How Societies Find the Power, Bristol 2019, Kap. 1.

  8. Vgl. Elstub/Escobar (Anm. 6); Graham Smith, Democratic Innovations. Designing Institutions for Citizen Participation, Cambridge 2009, S. 1–29.

  9. Diese Typologie stammt von Smith (Anm. 8), Kap. 2–5.

  10. Vgl. Frank Decker, Bürgerräte – Abhilfe gegen die Repräsentationskrise oder demokratiepolitisches Feigenblatt?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2021, S. 125–140.

  11. Vgl. John Gastil/Katherine R. Knobloch, Hope for Democracy. How Citizens Can Bring Reason Back Into Politics, Oxford 2020. Vgl. die Überlegungen zur Verknüpfung von sogenannten deliberative polls mit Volksinitiativen u.a. in Kalifornien bei James Fishkin, When the People Are Thinking, Oxford 2018, S. 79–91, S. 163–172.

  12. Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 19842 [1835], S. 69ff.

  13. Vgl. Charles Taylor/Patrizia Nanz/Madeleine Beaubien Taylor, Das ist unsere Stadt. Wie Bürger:innen die Demokratie erneuern, Hamburg 2021.

  14. Vgl. Maija Setälä/Graham Smith, Mini-Publics and Deliberative Democracy, in: André Bächtiger et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Deliberative Democracy, Oxford 2018, S. 300–314. Kritisch hierzu Cristina Lafont, Democracy Without Shortcuts. A Participatory Conception of Deliberative Democracy, Oxford 2020.

  15. Vgl. Patrizia Nanz/Claus Leggewie, Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2018. Das grenzt Bürgerräte entscheidend gegenüber alternativen demokratischen Innovationen ab, die für losbasierte Gremien eigene legislative Kompetenzen vorsehen, beispielsweise in Form eines Zwei-Kammer-Systems aus losbasierten und gewählten Gremien. Siehe hierfür John Gastil/Erik O. Wright, Legislature by Lot: Envisioning Sortition Within a Bicameral System, in: dies. (Hrsg.), Legislature by Lot. Transformative Designs for Deliberative Governance, London 2019, S. 3–38.

  16. Vgl. David M. Farrell/Jane Suiter, Reimagining Democracy. Lessons in Deliberative Democracy from the Irish Front Line, Ithaca u.a. 2019.

  17. Vgl. Joshua Cohen/Archon Fung, Democracy and the Digital Public Sphere, in: Lucy Bernholz/Hélène Landemore/Rob Reich (Hrsg.), Digital Technology and Democratic Theory, Chicago 2021, S. 23–61.

  18. Vgl. Claudia Chwalisz, The Pandemic Has Pushed Citizen Panels Online, in: Nature 7842/2021, S. 171.

  19. Vgl. Hélène Landemore, Open Democracy. Reinventing Popular Rule for the Twenty-First Century, Princeton 2020.

  20. Vgl. Smith (Anm. 8), Kap. 1.

  21. Vgl. Nanz/Leggewie (Anm. 15), S. 31f., S. 41f.

  22. Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, S. 45.

  23. Jürgen Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht, in: Merkur 341/1976, S. 946–960, hier S. 947. Vgl. auch ders., Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Demokratie, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, München-Zürich 1992, S. 11–24.

  24. Jane Mansbridge, Beyond Adversary Democracy, Chicago-London 1983, S. 27. Dieser Ansatz wird auch durch neuere bahnbrechende Studien zum "homo cooperativus" unterstützt. Vgl. Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010; Martin A. Nowak/Roger Highfield, Kooperative Intelligenz. Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, München 2013.

  25. Vgl. Simon Niemeyer/Julia Jennstål, Scaling Up Deliberative Effects. Applying Lessons of Mini-Publics, in: Bächtiger et al. (Anm. 14), S. 329–347.

  26. Die OECD ordnet Bürgerräte einer übergreifenden "deliberativen Welle" zu. Vgl. OECD, Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions. Catching the Deliberative Wave, Paris 2020. Eine laufend aktualisierte Liste von Bürgerräten bietet die Website Externer Link: http://www.buergerrat.de/aktuelles/buergerraete-weltweit. Prominente Beispiele in Deutschland sind, neben den im Text genannten, der Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt" und der Bürgerrat "Bildung und Lernen".

  27. Vgl. Lukas Kübler/Nicolina Kirby/Patrizia Nanz, Alle Macht den Klimaräten? Demokratische Experimente für eine progressive Klimapolitik, in: Mittelweg 36 6/2020, S. 101–122.

  28. Für eine detaillierte Analyse vgl. ebd., S. 116–122.

  29. Vgl. Nanz/Leggewie (Anm. 15).

  30. Ein Lehrbeispiel ist die Gestaltung des geplanten "Hauses der Demokratie" in beziehungsweise an der Paulskirche in Frankfurt am Main. Beschränkt man sich dort auf eine eher museal-antiquarische Aufbereitung der deutschen Demokratiegeschichte, oder wagt man ein demokratiepolitisches Experiment mit der Installierung eines Nationalen Zukunftsrates? Vgl. hierzu Patrizia Nanz/Claus Leggewie, Ein Haus der Demokratie in Frankfurt am Main, 1.12.2020, Externer Link: http://www.fr.de/kultur/gesellschaft/ein-haus-der-demokratie-in-frankfurt-am-main-90117685.html. Die Frage stellt sich auch bei der Verwendung von Mitteln der Demokratieförderung: Werden sie nur für die Abwehr antidemokratischer Bewegungen eingesetzt oder auch für die Erprobung demokratischer Innovationen?

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ist Politikwissenschaftler und Referent im Arbeitsstab der Vizepräsidentin des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE).
E-Mail Link: lukas.kuebler@bfe.bund.de

ist Professor für Politikwissenschaft sowie Senior-Professor am Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) der Justus-Liebig-Universität Gießen.
E-Mail Link: claus.leggewie@zmi.uni-giessen.de

ist Vizepräsidentin des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) und Ko-Direktorin des Deutsch-Französischen Zukunftswerks.
E-Mail Link: patrizia.nanz@bfe.bund.de