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Placebos mit Nebenwirkungen: Über die Fallstricke der Onlinedemokratie | Politische Teilhabe im Netz | bpb.de

Placebos mit Nebenwirkungen: Über die Fallstricke der Onlinedemokratie

Markus Linden

/ 3 Minuten zu lesen

Nicht nur ist das demokratisierende Potential des Internets maßlos überschätzt. Neue Teilhabemöglichkeiten im Netz tragen zudem zur Machtkonsolidierung der Exekutive bei und entwerten die Institution der Wahl. Politikwissenschaftler Dr. Markus Linden erklärt warum die Onlinedemokratie auf falschen Vorstellungen aufbaut und wie man sie mit demokratischen Prinzipien in Einklang bringen kann.

Placebo ( weisserstier/Flickr) Lizenz: cc by/2.0/de

Viele Verfahren der Bürgerbeteiligung ermöglichen Partizipation nur zum Schein.Bei vordergründiger Betrachtung bieten verschiedene Arten der onlinebasierten politischen Partizipation erstaunliches Potential. Nicht umsonst werden sie von Politik und Gesellschaft gleichermaßen als Innovation zur Überwindung bekannter Krisenphänomene gepriesen. Das Versprechen besteht in der Reintegration politikverdrossener Wutbürger durch netzbasierte Verfahren, die alle Meinungen zu Wort und alle Interessen zum diskursiven Ausgleich kommen lassen. "Die Menschen mitnehmen“ heißt der passende Slogan der Politik.

Schon diese vermeintliche Leerformel enthält jedoch einen paternalistischen Machtanspruch, der an Platons antipluralistisch-führungszentriertes Bild vom Politiker als wissendem Steuermann erinnert. Im praktischen Anwendungsbereich der Onlinedemokratie zeigt sich diese Asymmetrie. Zumeist handelt es sich um exekutiv dominierte Verfahren, die eher geschickten Werbekampagnen gleichkommen. Die jeweilige Intention ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist, dass Vorstrukturierung und Fragestellung durch die Exekutive erfolgen. Wenn der Bürgerhaushalt auf Sparvorschläge und die Bürgerkonsultation auf Entwürfe des Ministeriums beschränkt bleiben, hat das wenig mit Demokratie zu tun. Derartige Legitimitätsbeschaffungsmaßnahmen suggerieren lediglich Beteiligung. Mehr noch: Statt Probleme des herkömmlichen politischen Prozesses zu beheben, konterkariert die exekutiv dominierte Onlinedemokratie den parteipolitischen Parlamentarismus. Die ausführenden Institutionen berufen sich dann auf manipulationsanfällige Debatten in begrenzten Spezialöffentlichkeiten. Im Umkehrschluss leidet die Verantwortlichkeit gegenüber repräsentativ gewählten Vertretungsorganen. Die Wahl, also die Beteiligungsform mit der geringsten sozialen Selektivität, wird weiter entwertet – nicht trotz, sondern wegen neuer Beteiligungsverfahren.

Onlinedemokratie fußt auf falschen Vorstellungen von Demokratie und Politik

Dagegen mag man die Nichtentsprechung von Theorie und Praxis der digitalen Demokratie ins Feld führen. Entscheidend ist diesbezüglich jedoch, dass auch den theoretischen Konzeptionen der Onlinedemokratie zumeist eine nicht angemessene Demokratie- und Politikvorstellung zugrunde liegt, wie sie etwa von Jürgen Habermas vertreten wird. Das Diktum von der prozeduralen Zusammenführung von Meinungen und Interessen zu allgemein zustimmungsfähigen Ergebnissen erweist sich als gefährliche Illusion. Schon auf der theoretischen Ebene wären einhellige Ergebnisse nur dann möglich, wenn man sich auf einen umfassenden, allgemeingültigen Wertehorizont einigt, der dem Politischen vorausgeht. Demokratie heißt jedoch, dass auf der Basis eines verfahrensrechtlichen Grundkonsenses über Alternativen gestritten wird. Wer die Alternativen rationalistisch begradigt, beerdigt das Politische – und die Demokratie gleich mit. Ein derartiger technischer Funktionalismus liefe dem prinzipiellen Wert von Handlungsoptionen entgegen. Der Charakter und die Integration politischer Gemeinwesen gründen auf Alternativsetzung und Kontingenz. Die minimale Option besteht in der Abwählbarkeit der Regierung. Ein diffuser Beteiligungszirkus ohne Orientierung untergräbt selbst dieses Grunderfordernis.

Onlinedemokratie in Einklang mit demokratischen Institutionen und Normen bringen

Sollen onlinebasierte Beteiligungsverfahren eine Bereicherung der Demokratie darstellen, müssen sie auf ihre Kompatibilität mit deren institutionellen und normativen Grundlagen hin befragt werden: (1) Sie sollten an die Parlamente angekoppelt werden, nicht an die Exekutive. (2) Es muss um die Diskussion parteipolitischer Alternativen gehen, nicht um die rein imaginäre bottom-up Generierung von angeblich "besten Problemlösungen“. (3) Die Prinzipien der repräsentativen Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit dürfen nicht unterlaufen werden, sonst haben Wahlen keinen Wert und die prinzipielle Abwählbarkeit der Macht gehört ebenso der Vergangenheit an wie das dialogische Wechselspiel von Repräsentanten und Repräsentierten.

Wohin das postparlamentarische, postparteipolitische und vernunfttechnokratische Regieren führt, zeigt das System der Europäischen Union. Dessen (im bürgerschaftlichen Sinne) politische Integrationskraft bleibt mangels transparenter Alternativsetzungen zwangsläufig beschränkt. Die bisherigen Theorien der Liquid Democracy scheinen sich dies zum Vorbild genommen zu haben. Die Praxis wiederum kommt, nimmt man positive Ansätze des Petitionswesens aus, gerne als Verneblungsmaschine daher. Diffusität läuft auf Fremdbestimmung hinaus.

Markus Linden

Dr. Markus Linden (geb. 1973) ist Politikwissenschaftler im Forschungszentrum Europa an der Universität Trier (FZE), Bereich "Partizipation und Ungleichheit“

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