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Too much information – Risikokommunikation zwischen Rasanz und Resonanz | Risikogesellschaft | bpb.de

Too much information – Risikokommunikation zwischen Rasanz und Resonanz

Georg Ruhrmann

/ 4 Minuten zu lesen

"Too much information": Dieses Phänomen – von Kognitionswissenschaftlern schon in den 1950er Jahren analysiert – erleben heute die Nutzer im Netz im Sekundentakt. Das gilt besonders für die Wahrnehmung drohender Risiken. Der Jenaer Kommunikationsforscher Georg Ruhrmann zu möglichen sozialen Folgen.

Wieviel Informationen kann der Mensch verarbeiten ohne sich überfordert zu fühlen? (CC, Speeeeeeed von Externer Link: Raúl A) Lizenz: cc by-nd/2.0/de

Die Medien sind voll mit Meldungen und Informationen zu möglichen Risiken. Die Vielzahl an Meldungen über Gewalt und soziale Verwerfungen an den Rändern der Metropolen, weltweite Terroranschläge oder Glaubwürdigkeitsprobleme von Banken und Politik führt dazu, dass die Bevölkerung die Komplexität ökonomischer, politischer und sozialer Prozesse kaum noch überschauen kann.

Diese Komplexität und die damit einhergehende Überforderung lässt sich mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann selbst als Risiko interpretieren. Denn den geschilderten Entwicklungen liegen jeweils individuelle oder organisatorische Entscheidungen zugrunde. Diese können so oder auch ganz anders ausfallen. Oder anders formuliert: Weil jede getroffene Entscheidung – sei es in der Wirtschaft, in der Politik oder im Rechtssystem – auch hätte anders ausfallen können, erzeugt diese damit einhergehende Erwartungsunsicherheit eine Unsicherheit über eben jene Komplexität.

Das Tempo, mit dem Informationen verbreitet werden, beschleunigt sich rasant. Zugleich ist allerdings nicht besser als früher voraussagbar, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Risiko – ein Bankencrash oder ein Terroranschlag z. B. – eintritt und wie schnell dazu von den Behörden gewarnt und in den Medien berichtet werden kann. Es ist auch meist ungewiss, welche Gruppen es im Ereignisfall dann wirklich direkt trifft. Und wie die Betroffenen und Geschädigten die Glaubwürdigkeit der Information von Behörden und Medien wahrnehmen.

Die Verunsicherung ist oft hausgemacht

In sachlicher Hinsicht verfügen die Experten und Wissenschaftler – von der Informatik bis hin zu den Sicherheitsbehörden – nicht zwangsläufig über evidentes Wissen über den Eintritt und die Folgen eines Ereignisses, z.B. eines Anschlags. Zu unterschiedlich fallen einzelne Schadensszenarien – von beschädigter Infrastruktur im Bereich von Wasser und Verkehr, über lahmgelegte digitale Netzwerke, bis hin zum Ausbruch von Seuchen – aus, um sie glaubwürdig voraussagen zu können. Trotzdem werden mögliche Risiken oft mehr oder weniger bewusst öffentlich dramatisiert. Einerseits durch forcierte Kommunikationspolitik und Ratschläge seitens der Industrie und Politik – in der Hoffnung, die Bevölkerung zu warnen und vorzubereiten. Andererseits durch einen quotenorientierten Journalismus, der die Verunsicherung in der Bevölkerung selbst zum politischen Thema macht und moralisierend aufbauscht.

Hinzu kommt, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Informationen immer häufiger aus dem Social Web, in dem sich die Authentizität von Beiträgen nicht sofort prüfen lässt, beziehen. Authentisch ist oft nur das, was von möglichst vielen Nutzern geteilt wurde. Die eigentliche Quelle der Information wird dann zur Nebensache; Fakten und Fiktionen verschmelzen miteinander. Gleichzeitig ist zu beobachten, wie der politische Gehalt einer differenziert argumentierenden und dabei auch auf gültige, systematisch erhobene und zuverlässige Daten und Fakten begründeten Kommunikation einer aufgeklärten Öffentlichkeit teilweise zu verkümmern droht.

Was bedeutet das für die Risikowahrnehmung? Empfinden die Bürger die Welt heute als riskanter? Haben sie mehr Angst? Und was wissen Politiker und Bürger über die zukünftigen Folgen der Risiken, die wir heute eingehen? Etwa wenn Finanzmarktakteure auf Wetten von Wetten von übermorgen wetten? Anders gefragt: Welches Sicherheits- und Kommunikationsbedürfnis haben wir heute? Was bedeutet das für verantwortungsvollen Umgang mit einer Überfülle von Informationen?

Populisten nutzen die neuen Kommunikationsräume

Ein gutes Beispiel für die veränderte Risikowahrnehmung ist wohlmöglich das Jahrhundertthema Migration. Durch eine stark zugenommene mediale Kommunikation in Web, TV und Presse hat es eine große öffentliche Resonanz ausgelöst. Ein Teil der Bevölkerung empfindet angesichts der Bilder, die in den Medien vermittelt werden, existentielle Unsicherheiten. Das rührt u. a. aus Unwissen über die Hintergründe und Ursachen von Flucht und Migration.

Rechtspopulisten greifen diese Unsicherheiten auf und forcieren in den Echokammern des Netzes die ansteigende Fremdenfeindlichkeit, verstärken Rassismus und chauvinistischen Nationalismus ihrer Zielgruppen. Sie verschärfen den Ton und radikalisieren die Sprache. Kultiviert wird "die Angst vor den anderen", wie der britische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem kürzlich veröffentlichten und bemerkenswerten Essay sagt. Dabei hat die Netzkommunikation je nach Einstellung und Persönlichkeit der Nutzer ganz unterschiedliche und noch nicht umfassend empirisch erforschte Einflüsse auf die Risikowahrnehmung.

Gute Risikokommunikation ist möglich

Staat und Zivilgesellschaft haben die Chance, im Netz, in Presse und Fernsehen die Bürger – durchaus auch kontrovers – mittels fachlich fundierter Risikokommunikation aufzuklären. Hier haben vor allem Fachpolitiker, professionelle Journalisten, ausgewiesene Experten in moderierten Blogs und die überregionalen Zeitungen eine besondere Verantwortung. Denn sie können Fakten professionell, kriteriengestützt und journalistisch recherchieren, sie kriteriengestützt als Nachricht auswählen und sie für eine Mehrheit ausgewogen, sachlich und verständlich formulieren.

Dann kann der informierte Bürger seine Betroffenheiten nicht nur erleben, sondern auch (wieder)erkennen. Er findet weniger seine Wunschvorstellungen, sondern vielmehr seine Interessen politisch berücksichtigt. Er findet nicht nur politisches Gehör, sondern kann sich gerade auch im Netz öffentliches Gehör mit seinen Risikowahrnehmungen verschaffen. Andere Medien greifen diese auf und entwickeln sie weiter. Im Sinne des prominenten Soziologen Hartmut Rosa kann derart politische, soziale und kulturelle Resonanz entstehen, "Demokratie als Resonanzversprechen" verwirklicht werden.

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Prof. Dr. Georg Ruhrmann ist Kommunikationforscher an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena.