Die sexuelle Revolution
Interview mit Martin Goldstein
Martin Goldstein war 1969 der erste "Dr. Sommer" der BRAVO. Im bpb- Interview erzählt er von der rigiden Sexualmoral der 50er Jahre, wie die 68er dagegen rebellierten und warum sexuelle Aufklärung seiner Meinung nach "Quatsch" ist.In den 50er Jahren war das Thema Sex tabu. Einem unverheirateten Paar Gelegenheit zur "Unzucht" zu bieten, stand ebenso unter Strafe wie Homosexualität. Dieser rigiden Sexualmoral sagten die 68er den Kampf an. Im Zuge der neuen Offenheit bot Martin Goldstein alias "Dr. Sommer" in der Jugendzeitschrift BRAVO Rat in Sachen Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Die 68er-Bewegung war auch eine sexuelle Revolution. Wie sah die Befreiung der Sexualität konkret aus?

Gegen welche Formen von sexueller Bevormundung oder Unterdrückung begehrten die 68er denn auf?
Martin Goldstein: Was man bis dahin in Bezug auf Sexualität lernte, waren nichts weiter als Drohungen und Warnungen. Möglichst nichts tun, alles später. Und was du tust, ist falsch, ist Sünde, macht krank, macht dich schwul, du kriegst keine Kinder mehr, findest keinen Partner und wirst ein unglückliches Leben führen. Das war alles eine reine Drohbotschaft. Die deutlichste Drohung war: Wenn du Selbstbefriedigung machst, gerätst du ins Unglück. Du beschädigst deinen Körper und du machst deine sexuelle Kraft dadurch geringer. Und schließlich wirst du mal zu früh zu Ende sein und dann gibt es nichts mehr. Oder du bekommst Rückenmarkschwindsucht. Ich habe noch damals in einem Buch gelesen, dass der Orgasmus für eine Frau schädlich sei. Jede Frau sollte gefälligst dafür sorgen, dass sie keinen Orgasmus bekommt. Mit gütigen Worten und Engelszungen wurde gesagt: "Das ist heilig! Lass die Finger davon weg!" Das war die generelle so genannte sexuelle Aufklärung. Es war die heimliche – nein – die unheimliche Aufforderung, keusch zu leben und seine Sexualität zu verleugnen. Das geht aber nicht. Da kommt man in einen Konflikt.
Waren es wirklich erst die 68er oder gab es nicht schon früher ein Aufbegehren gegen diese rigide Sexualmoral?
Martin Goldstein: Einer der frühesten, der das Gespräch aufgetan


Martin Goldstein: Ja, als Dr. Sommer musste ich mich auch mit solchen Obrigkeiten auseinandersetzen. Zwei Nummern der Bravo wurden 1972 als jugendgefährdend eingestuft. Ich habe darin die Selbstbefriedigung von Jungen und Mädchen beschrieben und dazu gesagt: "Macht euch erstens keine Sorgen, es ist nicht schädlich. Im Gegenteil! Zweitens: Seid euch bewusst, dass eure Eltern und Lehrer nicht dieser freien Meinung sind. Und drittens: Denkt nicht, dass Selbstbefriedigung ein Problem der Jugendzeit ist. Das ist es nicht, Erwachsene onanieren auch." Das hat mir Vater Staat übel genommen und mir die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf den Hals gehetzt. Das durfte nicht gesagt werden. Der Kernsatz des Verbotes damals war: "Die Geschlechtsreifen allein berechtigt noch nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane." Es durfte eben keine Ermutigung zum Erleben der Sexualität geben, sondern allenfalls eine Duldung. Das ist bis heute so. An dieser Stelle kann ich ihnen sagen, dass ich der Meinung bin, dass sexuelle Aufklärung Quatsch ist. Die wirkliche Revolution wäre eine sexuelle Einweihung.
Wie sollte denn eine solche sexuelle Einweihung aussehen?
Martin Goldstein: Das hat mit Ermutigung zu tun. Es sollte doch darum gehen, jungen Menschen ein positives Gefühl zu vermitteln. Schon 1971 hat die evangelische Kirche eine Denkschrift verfasst, in der eine solche Ermutigung drinsteht. Aufgabe der Kirche sei es, alle Jugendliche auf dem Wege des Erlebens der Sexualität zu begleiten, um ihnen eine positive Haltung zu verschaffen. Das gilt bis heute. In dieser Denkschrift steht auch, dass Homosexualität nicht krank ist und nicht erworben wird, sondern ein natürliches Phänomen ist, das man nicht diskriminieren sollte. Sexuelle Aufklärung sollte durch das Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen geschehen - vor allem indem man darüber spricht. In unserer Gesellschaft wird über Sexualität aber nicht gesprochen. Dagegen habe ich als Dr. Sommer gekämpft. Ich habe aber nicht über Sex aufgeklärt. Das ist Quatsch. Denn ich sehe Sexualität immer unter dem Aspekt der Beziehung. Es ist keine Frage der Technik der einzelnen Körperteile, sondern es geht immer um eine Beziehung zwischen Menschen. Die Engländer haben da einen Vorteil. Sie habe zwei Wörter für Sexualität: sexuality und sensuality. Letzteres ist Sinnlichkeit, sind persönliche Empfindungen, über die miteinander gesprochen wird. Aber eben diese sensuality haben die 68er nicht gefördert. Das kam bei denen überhaupt nicht vor. Persönliche Empfindungen waren ja nicht politisch. Und auch heute noch sind die Menschen nicht geschult zum kommunikativen Leben, auf emotionalen Gebiet von ihrem Leben zu erzählen und einander zuzuhören.