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Ohne Frauen keine Revolution 68er und Neue Frauenbewegung

Kristina Schulz

/ 11 Minuten zu lesen

Freigabe der Anti-Baby-Pille, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Abschaffung des Paragraphen 218: Die Forderungen der Neuen Frauenbewegung waren vielfältig. Doch zunächst mussten Frauen innerhalb der Protestbewegung selbst gegen machohaftes Verhalten und männliche Machtstrukturen kämpfen.

Wie in anderen westlichen Industrieländern entstanden um 1968 auch in der Bundesrepublik Deutschland Frauengruppen, die sich zunächst mit den Protestformen und Zielen der 68er Bewegung identifizierten. Sehr bald aber suchten sie einen eigenen Weg und strebten Unabhängigkeit an.

Der BH als Symbol der patriarchalen Unterdrückung: Mit öffentlichen BH-Verbrennungen forderten Frauen die Freigabe der Pille, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und das Ende der männlichen Vorherrschaft. (© AP)

Die neue Frauenbewegung machte wenige Jahre nach der 68er-Bewegung landesweit mit Protesten auf die Anliegen von Frauen aufmerksam. Sie hat damit ihre Wurzeln ebenso in der 68er-Bewegung wie in der historischen Frauenbewegung. Diese war in Deutschland rund hundert Jahre zuvor entstanden, und hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erlebt. Ihre sozialistischen und jüdischen Führerinnen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben und ermordet. Und ihre bürgerlichen Vertreterinnen mussten sich den neuen Herrschern anpassen oder aber auf jegliches Engagement verzichten. Krieg und Trümmerjahre bedeuteten das vorläufige Ende der alten Frauenorganisationen.

Zwar gründeten Frauen in den Parteien ebenso wie in Gewerkschaften und Kirchen bald wieder neue Frauengruppen, als deren Dachorganisation sich ab 1949 der Deutsche Frauenrat konstituierte. Ein so dichtes und aktives Netz von Frauenbünden und Frauenligen wie es um die Jahrhundertwende bestanden hatte, konnte aber nicht wieder geschaffen werden. Für die Öffentlichkeit blieben die moderaten Forderungen der konventionellen Frauenverbände nach rechtlicher Gleichstellung von Frau und Mann, nach Mitsprache in politischen Gremien und Entlastung erwerbstätiger Mütter weitgehend unsichtbar.

Ende der 1960er Jahre trat eine neue Generation von Aktivistinnen auf den Plan, jünger, spritziger, fordernder als ihre älteren "Schwestern". Welches waren die Gründe für ihre Unzufriedenheit?

Die Frauen der Wohlstandsgesellschaft

Es gilt zu bedenken, dass die Frauen, von denen nun die Rede ist, eine gänzlich andere Generationserfahrung gemacht hatten als ihre Vorläuferinnen. Geboren in den Jahren nach 1945 wuchsen sie in einer Zeit relativen wirtschaftlichen Wohlstands und politischer Stabilität auf. Das Leben vieler Frauen wurde durch mehrere Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend geprägt: Zum einen führte der soziale Aufstieg der neuen Mittelschichten dazu, dass immer mehr Familien ihren Kindern eine gute Bildung und Ausbildung ermöglichen konnten. Weiter entstanden vermehrt Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit, was besonders Frauen den Einstieg ins Erwerbsleben erleichterte und damit eigene Einkommen und finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte. Schließlich verlagerte sich die Erwerbsarbeit zunehmend vom industriellen und landwirtschaftlichen Sektor in den Dienstleistungssektor. All diese wirtschaftlichen Veränderungen führten dazu, dass immer mehr besser ausgebildete Frauen auf den Arbeitsmarkt strömten und dies in einer Phase der wirtschaftlichen Konsolidierung und des stetigen Wachstums, in der ein steigender Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften bestand.

Zu diesen ökonomischen Prozessen gesellte sich ein mentaler Wandel: eine "Veränderung in den Köpfen", die allerdings nur sehr langsam voranschritt und auf der gesellschaftlichen Ebene, aber auch im individuellen Leben vieler Frauen zu kontroversen Auseinandersetzungen führte. Nach dem Krieg, in dem Frauen zu Tausenden berufliche Aufgaben der im Kriegsdienst mobilisierten Männer übernommen hatten, waren die meisten Frauen zurück an den Herd gekehrt. Die Berufstätigkeit von Frauen war, wenngleich sie immer existierte, in der kollektiven Wahrnehmung etwas, das sich nicht gehörte und die altbewährte Geschlechterordnung durcheinander brachte. Das Bild des außer Haus erwerbstätigen Mannes und der Haus und Heim wahrenden Frau, das zum Teil noch heute existiert, dominierte bis in die 1960er Jahre hinein das Denken. Nur allmählich gewöhnte man sich an die Berufstätigkeit von zunächst alleinstehenden oder geschiedenen, dann auch von verheirateten Frauen. Am schwersten tat man sich damit, die Erwerbsarbeit von Müttern zu akzeptieren.

Die Einrichtung von Teilzeitstellen milderte das kollektive Unbehagen etwas ab, ebenso wie die Vorstellung, dass weibliche Berufstätigkeit sich ja in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich darstellen könne: Ausbildung und Erwerbstätigkeit bis zur Geburt des ersten Kindes, Familien- und Hausarbeit, solange die Kinder im Hause waren, schließlich Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt. Wie man sieht, die Vorschläge und Modelle waren zahlreich. Sie alle konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bedingungen, die einst zum Rückzug - oder wenn man so will: zum Ausschluss von Frauen von außerhäuslichen Tätigkeiten - geführt hatten, nicht mehr existierten: Dank der Technisierung nahm der Haushalt immer weniger Zeit und körperliche Kraft in Anspruch, die durchschnittliche Kinderzahl sank, was unter anderem durch die Erfindung der "Anti-Baby-Pille" Anfang der 1960er Jahre ermöglicht wurde, und das Bildungsniveau von Frauen stieg. Alles sprach dafür, dass die "Stunde der Frauen" als gleichberechtigte Arbeitnehmerinnen gekommen war. Viel fehlte unter diesen Umständen nicht mehr, damit Frauen sich ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung bewusst wurden und es satt hatten, als beliebig einsetzbares Arbeitskräftepotential je nach Konjunkturbedingungen eingestellt oder entlassen zu werden, zu niedrigeren Löhnen und schlechteren Bedingungen zu arbeiten als die männlichen Arbeitnehmer und neben der Erwerbsarbeit auch noch die ganze Last der Familienarbeit zu tragen.

Geschlechterbeziehungen im Kreuzfeuer

Simone de Beauvoir: Ihr Werk "Das andere Geschlecht" machte sie zur Mutter des modernen Feminismus. (© AP)

Bereits 1949 prangerte die französische Philosophin Simone de Beauvoir in ihrem Buch "Das andere Geschlecht" die gesellschaftlichen Mechanismen an, durch die Frauen in der Abhängigkeit von Männern gehalten wurden. Das Buch wurde in unzählige Sprachen übersetzt und auch in Deutschland viel gelesen. So richtig in die Kritik geriet die herkömmliche Aufgabenverteilung zwischen Männern und Frauen aber erst in Kreisen derjenigen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre an den landesweiten Protesten der 68er-Bewegung beteiligten. Intellektuelle, auf die diese Bewegung zurückgriff, um ihre gesellschaftspolitischen Ziele und Mittel des Kampfes zu definieren, hatten schon seit den 1930er Jahren Überlegungen zu neuen Formen eines – wie man später plakativ sagte - "antiautoritären" Umgangs zwischen Eltern und Kindern, Frauen und Männern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Staat und Individuum nachgedacht. Die Ideen von – um nur einige zu nennen – wichtigen Vertretern der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse, beeinflussten die 68er-Bewegung. In Kommune-Projekten, antiautoritären Kinderläden oder in so genannten Kritischen Universitäten versuchte man, mit traditionellen Strukturen der Verteilung von Macht und Autorität zu brechen und ihnen neue, auf Gleichheit und Autonomie zielende Formen des Miteinander entgegenzusetzen.

In der Praxis gelang das nicht immer, vor allem haperte es bei der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Bewegung selbst. Während, so die Wahrnehmung der weiblichen Bewegungsanhänger, die männlichen Aktivisten demonstrierten, diskutierten und repräsentierten, blieben an den Frauen die Zuarbeiten hängen. Die randständige Bedeutung, die Frauen in der 68er-Bewegung bislang beigemessen wurde, korrespondiert mit der Darstellung der Frauen in den zeitgenössischen Medien: Sie wurden als kämpferische Amazonen beschrieben, als "windelmüde Jungmütter" (Der Spiegel), als "Damen in Pantherfellen" (Die Welt) oder, wie Uschi Obermaier, als schönes Beiwerk der Kommune-Bewegung. 1968 führte die Tatsache, dass die Männer der Bewegung die Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft, aber auch in der Bewegung selbst ignorierten, zum Eklat: Eine Vertreterin des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen bewarf das Präsidium des die Revolte führenden Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) auf einer Delegiertenkonferenz mit Tomaten. Die Aktivistinnen wiesen die Anwesenden darauf hin, dass auch das Private politisch sei, folglich eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch beim Wandel der Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ansetzen müsse.

"Ohne Frauen gibt´s keine Revolution" – Formierung in Berlin und Frankfurt

Der Aktionsrat zur Befreiung der Frauen war im Januar 1968 im Umkreis der Freien Universität Berlin entstanden. Er erhielt großen Zulauf. Im Sommer 1968 liefen bereits eine Reihe von Arbeitskreisen sowie die ersten antiautoritären Kinderläden. Sie wurden in ehemaligen Tante-Emma-Läden in verschiedenen Teilen Berlins eröffnet und strebten, über die auf psychoanalytischen Theorien beruhenden Erziehungskonzeption einer "repressionsfreien" Erziehung hinaus, auch die Entlastung von Müttern an.

Auch in Frankfurt, das neben Westberlin einen der wichtigsten Schauplätze der studentischen Proteste darstellte, entstand ein antiautoritäres Erziehungsprojekt: die Frankfurter Kinderschule. An deren Spitze stand mit Monika Seifert eine Frau. Die Kinderschule zielte auf die Verwirklichung einer antiautoritären Erziehungspraxis, die innerhalb der bestehenden Verhältnisse Modellcharakter für eine zukünftige, "freie" Gesellschaft haben sollte. Kam die Idee zur Gründung der Frankfurter Kinderschule von einer Frau, so waren Planung und Durchführung des Projekts das Ergebnis der Arbeit einer gemischt-geschlechtlichen Gruppe von Müttern und Vätern.

Lust ohne Last: Gegen den Paragraphen 218 protestieren in Frankfurt/Main Frauen mit einer Unterschriftenaktion an der belebten Hauptwache. (© AP)

Die Frage der Frauenemanzipation wurden hier nicht direkt mit der Kindererziehung in Zusammenhang gebracht. Anders war das im Frankfurter Weiberrat, der sich in Anlehnung an den Berliner "Aktionsrat" in der Main-Metropole im Herbst 1968 gründete und explizit die Befreiung von Frauen ins Zentrum seiner Aktivitäten rückte. Auch in Münster, München, Hamburg und anderen größeren, überwiegend Universitätsstädten entstanden Frauen- und Weiberräte. Diese arbeiteten einerseits eng mit ihren linken "Genossen" zusammen, kritisierten andererseits deren machohaftes Verhalten ebenso wie die mangelnde Einbeziehung der Geschlechterbeziehungen in ihre Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Machtstrukturen.

Theorie und Praxis der 68er lieferten Anlass genug dafür, dass Frauen sich in reine Frauengruppen zurückzogen und nach und nach den Glauben an ein gemeinsames "revolutionäres Projekt" der 68er Bewegung verloren. "Das Steak eines Revolutionärs muss genau so lange braten wie das eines Bourgeois" – diesen in Frankreich zirkulierenden Slogan unterschrieben auch die Anhängerinnen der deutschen Bewegung. Ob Frauen in bürgerlichen Verhältnissen oder unter dem Banner der "Revolution" Kaffee kochten, Texte tippten und Kinder hüteten, um den Männern den Rücken frei zu halten, kam in der Wahrnehmung der Zeitgenossinnen auf dasselbe raus: die gesellschaftliche Ohnmacht von Frauen und ihre Reduzierung auf den Reproduktionsbereich. Gehör fanden die Frauen bei den männlichen Bewegungsanhängern nicht, die Anliegen des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen wurden vom SDS nicht auf die Agenda übernommen. "Unterdrücker seid ihr", warf daher die Vertreterin einer der zahlreichen neu gegründeten Frauenaktionsgruppe den männlichen Delegierten des SDS bei einer Versammlung im November 1968 an den Kopf, "insofern Ihr Träger zementierter Herrschaft im SDS seid."

Ende der 1960er Jahre zerfielen die Frauen- und Weiberräte ebenso wie die 68er-Bewegung, innerhalb der sie sich formierten. Als es aber wenige Jahre später darum ging, erneut für die Rechte von Frauen einzutreten, standen die Netzwerke von damals immer noch zur Verfügung.

Legale Abtreibung! Eine soziale Bewegung kommt ins Rollen

Auslöser für eine bundesweite Mobilisierung von Frauen war das Abtreibungsverbot. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von links-progressiven und radikalen feministischen Kreisen kritisiert, geriet es zu Beginn der 1970er Jahre erneut unter Beschuss. Im Frühjahr 1971 wurde unter der Federführung der Journalistin Alice Schwarzer eine Unterschriftensammlung eingeleitet, die mit einem der großen gesellschaftlichen Tabus brach: "Ich habe abgetrieben" bekannten 374 Frauen in einer am 6. Juni 1971 in der Zeitschrift Stern erschienenen öffentlichen Selbstbezichtigung. Sie gestanden damit kollektiv ein, was eine einzelne Frau sich nicht hätte erlauben können: eine Straftat begangen zu haben, auf die laut Gesetz Gefängnis und Geldbusse standen. Innerhalb weniger Wochen wurden Tausende von Unterschriften gesammelt - dank der Unterstützung durch im Fahrwasser der 68er-Bewegung entstandenen autonomen studentischen Frauengruppen sowie institutionell gebundener Gruppen aus dem nicht-universitären Bereich wie den Volkshochschule und der Humanistischen Union. Die Aktion wurde von vielen als praktische Umsetzung der Forderung aufgefasst, "das Private politisch" zu machen, die 1968 von den Frauenaktionsräten, aber auch in den Kommunen und Kinderläden formuliert worden war.

Die Aktion wirkte nach innen: Sie trug zur Vernetzung von Gruppen und Personen bei, die zuvor nichts voneinander wussten. Sie schaffte ein "Wir"-Gefühl unter betroffenen und noch nicht betroffenen Frauen. Und schließlich war sie ein Ausgangspunkt für immer neue Protesthandlungen, wie das Verteilen von Flugblättern, Aufrufen zu Demonstrationen, Straßentheater oder auch demonstrative Abtreibungsfahrten – zum Beispiel nach Holland, wo der Schwangerschaftsabbruch von den gesetzlichen Autoritäten geduldet wurde. Die Unterschriftensammlung wirkte zugleich nach außen, denn sie brachte Politiker, Richter, die Polizei in Handlungsdruck. Eine Reform des Abtreibungsparagraphen war angesichts der massenhaften und demonstrativen Gesetzesübertritte nun unaufschiebbar.

Tatsächlich wurde eine Reform in den folgenden Jahren im Parlament und in zahlreichen Spezialausschüssen immer wieder diskutiert und schließlich im April 1974 zur Abstimmung gestellt. Aber die liberale Fristenlösung, die eine legale Abtreibung währen der ersten drei Schwangerschaftsmonate vorsah und für welche die knappe Mehrheit der Abgeordneten stimmte, wurde vom Bundesverfassungsgericht im Januar 1975 für unzulässig erklärt. Nach Neuverhandlungen beschloss der Bundestag im Februar 1976 ein Gesetz, das den Schwangerschaftsabbruch zwar prinzipiell für strafbar erklärte, Fälle, in denen eine medizinische, ethische, soziale oder eugenische Indikation vorlag, aber ausnahm.

Zerfall – Und wie ging's weiter?

Konfrontation während des ökumenischen Pfingsttreffens: Ordensschwestern und Demonstrantinnen der "Aktion 218". (© AP)

Für die Frauenbewegung, die für die ersatzlose Streichung des Paragraphen 218 gekämpft hatte, war die Indikationslösung ein herber Rückschlag. Eine dauerhafte Mobilisierung auf nationalem Niveau schien nach dem Scheitern der Fristenlösung nicht mehr möglich. Keiner Gruppe gelang es fortan, die unterschiedlichen Anliegen und divergierenden Aktionsstrategien innerhalb der Frauenbewegung auf einen Nenner zu bringen. Die Anliegen jener, welche die Veränderung sozialer Institutionen anstrebten – sei es im Rückgriff auf neo-marxistische Deutungen in Form revolutionärer Umstürze, einem "Marsch durch die Institutionen" oder der Gründung autonomer Frauenprojekte – und jener, die eine Veränderung "in den Köpfen", also im Bereich des Denkens, der Sprache, der Psyche anstrebten - divergierten stark.

Allerdings trat die Frauenbewegung damit nicht spurlos von der öffentlichen Bühne ab. War sie im Abtreibungskampf gescheitert, so war es ihr doch eines gelungen: In zahlreichen Städten hatte sie Räume erobert, in denen sich ein feministisches Selbstverständnis weiter entfalten konnte. Bereits 1973 eröffneten Frauen in Berlin das erste Frauenzentrum, im selben Jahr begannen auch Frankfurter Aktivistinnen, sich nach geeigneten Räumlichkeiten umzusehen. Frauenzeitschriften und Bulletins wurden gegründet, Frauenbuch-Verlage und Bibliotheken eröffnet. Die Aktivitäten der nun auch anderswo entstehenden Frauenzentren waren vielfältig: Es wurde gedichtet, gelesen, diskutiert, gesungen, Feste wurden gefeiert, Aktionen geplant. Unter dem Dach der Frauenzentren trafen sich auch dem Vorbild des US-amerikanischen "Women´s Liberation Movement" nachempfundene so genannte consciousness-raising-groups, in denen es um Selbst- und Gruppenerfahrung ging. Weiterhin beherbergten manche Zentren auf Selbsthilfe und gynäkologische Selbstuntersuchungen zielende Gruppen, in denen Wissen erarbeitet wurde, das Frauen eine größere Unabhängigkeit von der (männlichen) Ärzteschaft ermöglichen sollte. Neben den Frauenzentren entstanden auch die ersten Anlaufstellen und Notruf-Telefone für Frauen. Anfang der 1980er Jahre wurden die ersten Frauenhäuser eröffnet, in denen bedrohte und geschlagene Frauen mit ihren Kindern Zuflucht finden konnten. Unzählbar sind die Initiativen, Projekte und Institutionen, die direkt oder indirekt aus der Frauenbewegung der 1970er Jahre hervor gegangen sind.

Allerdings hatte dieser Durchbruch – zumindest aus der Sicht der Aktivistinnen "der ersten Stunde" – auch eine Kehrseite: den Verlust der Autonomie gegenüber staatlichen Instanzen und gegenüber anderen – gemischt-geschlechtlichen – Organisationen. Denn eines wurde sehr schnell deutlich: Nur die wenigsten aus der Frauenbewegung hervorgegangen Initiativen konnten sich ohne die Unterstützung einflussreicher Bündnispartner wie Parteien oder Gewerkschaften oder, was häufiger der Fall war, staatlicher Stellen, dauerhaft über Wasser halten. Der Ende der 1970er Jahre einsetzende Prozess der Demobilisierung markiert also den Zerfall einer sozialen Bewegung und zugleich den Neubeginn anderer Formen feministischen Handelns. Neu war das Vorhaben, Frauenprojekte "vor Ort" dauerhaft zu institutionalisieren und ihre Anerkennung durch öffentliche oder private Träger anzustreben – dazu gehörten auch handfeste ökonomische Forderungen wie die Rückerstattung von medizinischen Leistungen durch die Krankenkassen.

Die neue Stoßrichtung war nur möglich unter geänderten Vorzeichen: Das politische System öffnete sich auch jenseits der Abtreibungsproblematik für die Anliegen der Frauenbewegung. Allerdings passten die jeweiligen Instanzen, Parteien, Institutionen des Staats- und Verwaltungsapparats die Forderungen an ihren eigenen Modus der Politikausübung an. Abschließend lässt sich festhalten: Der Preis des erfolgreichen Agenda-Settings von Frauenbelangen durch die Frauenbewegung war eine Anpassung an die Spielregeln des politischen Systems, eine Abschwächung der Forderungen und der Formen ihrer Artikulation.

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Dr. Kristina Schulz ist wissenschaftliche Oberassistentin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Lausanne. Dort lehrt sie Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre Promotion trug den Titel: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegungen in der Bundesrepublik und in Frankreich.