Europäischer und globaler Charakter des Krieges
Der Erste Weltkrieg wird vielfach als der erste "totale Krieg" angesehen. Er entlud bereits vorhandene Spannungen und Widersprüchlichkeiten in den konfliktgeprägten Dauerzustand des 20. Jahrhunderts, das durch Krieg, Bürgerkrieg und Blockkonfrontation gekennzeichnet war. Und er war die erste Auseinandersetzung, die neue technische Möglichkeiten nutzte – und so die Zerstörungspotentiale der industriellen Moderne offenbarte.
In Frankreich und England wird der Erste Weltkrieg noch heute als der "Große Krieg" erinnert. Dies verweist auf seine exzeptionelle Bedeutung für die moderne europäische, aber auch globale Geschichte. In der Tat war der Erste Weltkrieg nicht nur, wie man es nach seinen Entstehungszusammenhängen vermuten könnte, ein europäisches Großereignis, sondern er entwickelte sich in kürzester Zeit auch zu einem weltumfassenden, globalen Geschehen. Und seine Dynamik blieb darüber hinaus keineswegs auf die äußere Ausweitung begrenzt. Vielmehr brachte dieser Krieg auch in seinen vielfältigen Erscheinungsformen eine so außergewöhnliche Intensivierung mit sich, dass es heute üblich geworden ist, im Ersten Weltkrieg den ersten "totalen Krieg" der modernen Geschichte zu erkennen. Schließlich erscheint dieser Krieg aus der rückblickenden Perspektive des Historikers als die große "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, die eine generell von Krieg und Bürgerkrieg geprägte Phase der Weltgeschichte eingeleitet hat und ohne die kaum eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts hinreichend erklärt werden kann.
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Wolfgang Kruse: Der Erste Weltkrieg
Trotzdem wird der Erste Weltkrieg hier noch in einen etwas anders konturierten Zusammenhang gerückt: Er soll als Zivilisationskrise der europäischen Moderne gedeutet werden. Zuvor hatte das 'lange’ 19. Jahrhundert der europäischen Geschichte im Zeichen eine säkularen Modernisierungsprozesses gestanden, der – angetrieben von industrieller Revolution, politischer Demokratisierung und sozialer Emanzipation – eine neuartige, bürgerliche Gesellschaft hervorbrachte und mit einem umfassenden Fortschrittsoptimismus verbunden war. Wohlstand, Freiheit, Bildung und Zivilisation waren die Zielpunkte, auf die eine neuzeitlich bewegte Geschichte hinauszulaufen schien. Doch am Ende stand schließlich ein Krieg, der alle produktiven gesellschaftlichen Kräfte für die Zwecke der Zerstörung und Vernichtung mobilisierte. Weit mehr als 10 Millionen Tote , eine noch weit größere Zahl von zerstörten Existenzen, zerrüttete Gesellschaften, zusammenbrechende politische Ordnungen, und auch nach dem formellen Kriegsende nicht enden wollende gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der Völker Europas: Das waren die Ergebnisse und Folgen des sogenannten Großen Krieges, die nicht einfach über das moderne Europa hineingebrochen, sondern die trotz allem Fortschrittsoptimismus tief und ursächlich in ihm verwurzelt waren. Wie es hellsichtige und sensible Geister schon lange prophezeit hatten, trug diese Moderne ganz offensichtlich Widersprüche, Abgründe und Zerstörungspotentiale in sich, die alle Fortschritte und davon ausgehende Entwicklungsperspektiven nicht nur zunichte machen, sondern sie auch selbst für ihr Destruktionswerk nutzbar machen konnten.
Der Rekurs auf den Krisenbegriff beinhaltet trotzdem noch ein Weiteres. Denn Krisen haben ein Janusgesicht, das auch den Ersten Weltkrieg ausgezeichnet hat. Sie zerstören nicht nur die alte Ordnung, aus der sie erwachsen sind, sondern sie setzen zugleich neue, in die Zukunft weisende Kräfte frei, die aus dem Versuch hervorgehen, ihre zerstörerische Kraft zu beherrschen oder zu überwinden. Revolution, Demokratisierung und Selbstbestimmungsrecht der Völker, neuer Mensch, Massenkultur, Avantgarde oder Völkerbund lauteten die Stichworte, die das schöpferische Potential der Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch des großen Krieges anzeigen, aber auch totale Mobilmachung, Volksgemeinschaft, Gewaltkult und Führertum. Die hier vorgelegte Einführung in die Geschichte des Ersten Weltkrieges unternimmt deshalb den Versuch, die verschiedenen Ebenen des Kriegsgeschehens immer unter der doppelten Perspektive von umfassender Destruktion und schöpferischem Aufbruch zu betrachten; Erscheinungen des totalen Krieges allerdings, die – und darin liegt das eigentliche historische Drama – oft in kaum auflösbarer Weise miteinander verbunden waren. […]
Aus: Wolfang Kruse, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009, S. 1f.
Der europäische und globale Charakter des Krieges
Im Kern war der Erste Weltkrieg ein europäischer Krieg. Er entstand auf dem Balkan, ihm lagen die imperialistischen Bestrebungen der europäischen Großmächte zugrunde, und ausgetragen wurde er im wesentlichen zwischen zwei europäischen Machtblöcken und auf dem europäischen Kontinent: Der Entente mit England, Frankreich und Russland, 1915/16 erweitert durch Italien und Rumänien, standen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn gegenüber, denen sich 1915 Bulgarien anschloss. Und auch in allgemeinerer, gesellschaftsgeschichtlicher Weise gründete dieser Krieg in einer umfassenden Krise der europäischen Moderne, deren Entwicklung im Laufe des ‚langen’ 19. Jahrhunderts vielfältige Widersprüche, Gegensätze und Konflikte hervorgebracht hatte: Aus der Idee eines nationalen Völkerfrühlings hatten sich aggressive, in scharfen Feindbildern gegeneinander profilierte Nationalismen gebildet. Der ökonomische Fortschritt hatte nicht nur materiellen Wohlstand, sondern auch nationale Sinnkrisen, klassengesellschaftliche Interessengegensätze und hochgerüstete Militärapparate hervorgebracht. Auf politischer Ebene schließlich waren überall die Demokratisierungstendenzen in der Gesellschaft einerseits, die Herrschaftsansprüche traditioneller Eliten andererseits, in ein höchst virulentes und instabiles Spannungsverhältnis geraten. So war es kaum verwunderlich, dass der Krieg nicht nur die europäische Landkarte umstürzte, sondern auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Europa.
Von vergleichsweise geringer Bedeutung war der frühe Kriegseintritt Japans auf Seiten der Entente. Denn abgesehen von der Besetzung der kleinen deutschen Kolonie Kiautschou blieb das ostasiatische Inselreich weitgehend inaktiv. Weit wichtiger stellte sich der im November 1914 verkündete Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte dar. Mit dem Schicksal dieses Vielvölkerreiches stand nicht nur seine zukünftige Rolle im Kreis der europäischen Mächte zur Disposition, sondern auch die Entwicklung der bislang von den Osmanen beherrschten arabischen Völker in Nordafrika, Klein- und Vorderasien. Während der Sultan in Istanbul am 14. November 1914 zum "Heiligen Krieg" der Muslime aufrief und von Deutschland Versuche ausgingen, die arabischen Völker zum Kampf gegen die englische Herrschaft in Ägypten aufzustacheln, waren die entgegengesetzten Initiativen des englischen Obersten und Abenteurers Lawrence (von Arabien) weit erfolgreicher. Ihm gelang es, die Araber zum gemeinsamen Kampf gegen die Osmanische Herrschaft zu stimulieren. Die versprochene Selbständigkeit wurde ihnen nach Kriegsende dafür allerdings nicht zugestanden, denn bereits 1916 hatten Engländer und Franzosen im Sykes-Picot-Abkommen ihre Interessensphären im arabischen Raum untereinander aufgeteilt. Auch die 1917 vom englischen Außenminister Arthur Balfour zugesagte Schaffung einer Heimstatt für die auswanderungswilligen europäischen Juden in Palästina wurde schließlich nicht verwirklicht.
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Daniel Marc Segesser: Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive
Ein genauerer Blick in die Geschichte zeigt hingegen, dass globale militärische Auseinandersetzungen keineswegs ausschließlich ein Phänomen des 20. Jahrhunderts waren. Der seit dem 15. Jahrhundert im Gang befindliche und im Zeichen der europäischen Expansion nach Übersee stehende Globalisierungsprozess war geprägt von militärischen Konflikten, die auch immer wieder größere Teile des Globus betrafen, dies sowohl in der Form von Auseinandersetzungen zwischen europäischen und indigenen Mächten als auch in der Gestalt von global geführten Kolonialkriegen zwischen den europäischen Staaten. Beispiele für letzteres sind der Österreichische Erbfolgekrieg von 1740-48, der Siebenjährige Krieg von 1756-63 oder der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1775-83. Die meisten Auseinandersetzungen waren also europäische Konflikte, die zwar weltweit ausgetragen wurden, an welchen sich außereuropäische Mächte aber kaum beteiligten. Waren letztere beteiligt, so handelte es sich meist um einen Konflikt regionaler Natur. Für die Zeit bis zum ende des 18. Jahrhunderts ist es daher wohl angemessen, von Kriegen mit globalen Hintergründen zu besprechen, nicht aber von wirklichen Weltkriegen [...]
Stig Förster folgend, ist es wohl besser, erst dann von einem Weltkrieg zu sprechen, wenn es sich um einen Großkonflikt unter maßgeblicher Beteiligung sowohl europäischer als auch autochthoner außereuropäischer Mächte handelte. (…) Inwiefern die Napoleonischen oder Französischen Kriege von 1792 bis 1815 als Weltkriege bezeichnet werden können, wie dies Förster tut, ist umstritten. Es ist zwar durchaus richtig, dass in dieser Zeit nicht nur in Europa Krieg geführt wurde und nur europäische Mächte am Krieg beteiligt waren. Persien, das Osmanische Reich, indische Herrscher, die Wahabiten Arabiens, die Shawnee Indianer in Nordamerika sowie die 1787 entstandenen Vereinigten Staaten beteiligten sich aktiv an dieser Auseinandersetzung. Dennoch waren einige Teile der Welt in diesen Konflikt nicht wirklich verwickelt. Dies gilt einerseits für Australien und den Pazifik, andererseits aber auch für die in globaler Perspektive in der Zeit um 1800 wichtigen Japan und China. Die damaligen Auseinandersetzungen zwischen Japan und Russland um die Kurilen waren nicht Teil eines weltweiten Konfliktes, sondern vielmehr ein regionaler Konflikt im Rahmen der Expansion einer einzelnen europäischen Macht in den außereuropäischen Raum.
Es gibt daher gute Gründe, den Ersten Weltkrieg wirklich als den ersten Weltkrieg zu betrachten, dies nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der noch zu beschreibenden Intensivierung des von Europa ausgehenden Globalisierungsprozesses, der gerade duch die Revolutionierung des Transport- und Kommunikationswesens Krieg führenden Mächten neue Möglichkeiten eröffnete, die auf globaler Ebene im Ersten Weltkrieg erstmals in erheblichem Ausmaß zum Tragen kamen.Hans Ulrich Wehler, Das Ende des „Langen 19. Jahrhunderts“ und der Beginn des „Kurzen 20. Jahrhunderts“.
Aus: Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2012, S. 8-10.
Die Totalisierung des Krieges
Die neuartige Qualität des Krieges trat aber nicht nur in den globalen Dimensionen und in einer auf Sieg oder Kapitulation abzielenden Kriegspolitik zutage. Auch die Kriegsführung an der Front selbst und die Ausrichtung der Gesellschaft auf den Krieg an der sogenannten Heimatfront gewannen im Ersten Weltkrieg einen immer intensiveren, schon zeitgenössisch als "totaler Krieg" gekennzeichneten, später vor allem von den Nationalsozialisten zum Programm erhobenen Charakter. Dieser Begriff ist in der modernen Geschichtswissenschaft zu einem Konzept ausgearbeitet worden, das vor allem die Industrialisierung des Krieges zu fassen versucht, die militärisch in der wachsenden Bedeutung von Kriegsmaschinen, zivil in der Ausrichtung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur auf die Bedürfnisse der Kriegsführung, somit auch in der kriegspolitischen Auflösung der Trennung zwischen Militär und Zivilgesellschaft zum Ausdruck kam. Kanonen und Granaten, Maschinengewehre und Patronengurte, Flugzeuge und Bomben, Unterseebote und Torpedos, Giftgasgranaten und bald auch Panzerwagen prägten dem Kriegsgeschehen einen neuartigen Stempel auf. Und alle diese Waffen mussten von den Industrien der kriegführenden Länder produziert werden, in immer größeren Mengen, um die in rascher Folge verbrauchten und zerstörten Geräte zu ersetzen und die industriellen Vernichtungskapazitäten immer weiter auszubauen. Dafür war es nicht nur nötig, Produktionskapazitäten auf- und auszubauen; auch die Arbeits- und Lebensstrukturen der Zivilisten mussten auf die neuen Erfordernisse der Kriegsproduktion eingestellt, zur Arbeit motiviert oder verpflichtet, zum Verzicht auf Freizeit und Vergnügen angehalten oder genötigt werden. Die eigentlich zivile Gesellschaft in der Heimat wurde so zu einer zweiten Front, an der der Krieg tatsächlich entschieden werden konnte. Den Krieg gewinnen konnten am Ende tatsächlich die Mächte, denen es besser als ihren Gegnern gelang, Waffen und Munition zu produzieren, gleichzeitig aber auch die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen und sie zum "Durchhalten" zu motivieren.

Die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts
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Gefallene und Verwundete des Ersten Weltkriegs
Nach Dupuy/Salewski | |
Frankreich |
1.357.800 Gefallene 4.266.00 Verwundete |
Britisches Empire |
908.371 Gefallene 2.090.212 Verwundete |
Russland |
1.700.000 Gefallene 4.950.000 Verwundete |
Italien |
462.391 Gefallene 953.886 Verwundete |
Deutsches Reich |
1.808.546 Gefallene 4.247.143 Verwundete Ca. 760.000 tote Zivilisten, nahezu alle Opfer der alliierten Blockade |
Österreich-Ungarn |
922.500 Gefallene 3.620.000 Verwundete 300.000 Blockadeopfer |
Kriegstote nach Ferguson/Stevenson | |
United Kingdom | 723.000 |
British Empire (excluding UK) | 198.000 |
Frankreich | 1.398.000 |
Russland | 1.811.000 |
Italien | 578.000 |
USA | 114.000 |
andere Alliierte | 599.000 |
Zusammen | 5.421.000 |
Deutsches Reich | 2.037.000 |
Österreich-Ungarn | 1.100.000 |
Bulgarien, Osmanisches Reich | 892.000 |
Vierbundmächte zusammen | 4.029.000 |
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Gesamt | 9.450.000 |
Gesamtverluste nach Der Große Ploetz, 35. Aufl. | |||
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Gefallene | Verwundete | Gefangene |
Deutschland | 1.808.000 | 4.247.00 | 618.00 |
Frankreich | 1.385.000 |
3.044.000 (1.1 Mill. anerkannte Kriegsinvaliden) |
446.000 |
Großbritannien | 947.000 | 2.122.000 | 192.000 |
Italien | 460.000 | 947.000 | 530.000 |
Österreich-Ungarn | 1.200.000 | 3.620.000 | 2.200.000 |
Russland | 1.700.000 | 4.950.000 | 2.500.000 |
Türkei | 325.000 | 400.000 |
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USA | 115.000 | 206.000 | 4.500 |
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Hans-Ulrich Wehler: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949
In Europa standen die Revolution und der Zusammenbruch des Kaiserreichs samt dem Zerfall tausendjähriger Fürstenherrschaft am Ende des ersten Totalen Krieges, Historisch beispiellose Verluste an Menschen und Ressourcen unterwarfen die deutsche Gesellschaft einer ungeheuren Belastungsprobe. Sie wurde durch die ganz und gar neuartige Erfahrung des ersten industrialisierten Krieges überwältigt. Dazu gehörte auch die Zwangsgewöhnung, an eine Brutalisierung, die durch jahrelanges Moden den einzelnen derart veränderte, daß sie sich im inneren Bürgerkrieg der konkurrierenden politischen Lager fortsetzte.
Die Revolution im Herbst 1918 war nicht nur eine Reaktion auf die gnadenlose Zermürbung durch den ersten Totalen Krieg und unabwendbare Niederlage. Vielmehr war sie auch die Folge eines Dammbruchs nach einem langlebigen Problemstau unter den harten restriktiven Bedingungen der neueren deutschen Gesellschaftsgeschichte. Für jene Mehrheit, welche die Revolution als Kainszeichen empfand, verband sie sich mit dem Makel der Niederlage, mit dem erzungenen Verzicht auf alle glorreichen Kriegsziele, mit dem „Schandfrieden“ von Versailles, mit der „Sklaverei“ der Reparationszahlungen. Der im Krieg hochgesteigerte Radikalnationalismus wurde tief verletzt. Unverzüglich sahen seine Gläubigen in einer umfassenden Revision der Kriegsergebnisse das einzige Heilmittel, um der Nation zu neuer hegemonialer Stärke zu verhelgen, damit ihr der Sieg in dem erwarteten künftigen Großkrieg sicher war.
Im Wirtschaftsleben beendete der Krieg die „goldenen Jahre“ zwischen 1895 und 1913 – jenen langlebigen Konjunkturaufschwung, der Deutschland in das Spitzentrio der Industriestaaten getragen hatte. Darüber hinaus zerstörte der Krieg auch die etablierten Kräfteverhältnisse der eurozentrierten Weltwirtschaft. Die Vereinigten Staaten als der eigentliche ökonomische Kriegsgewinner schoben sich an die Spitze, von der aus sie das „kurze“ 20. Jahrhundert beherrschen sollten. Hinter ihnen stiegen Neulinge des Welthandels wie das Kaiserreich Japan, die Kondominium-Staaten und ressourcenreichen Kolonialländer empor. Eine neue Weltmarktordnung mußte erst mühsam erstritten werden.
Während der Agonie des Kaiserreichs war eine massive Staatsintervention im Zeichen des Kriegskorporativismus vorgedrungen. Seine öffentlich-private Mischverfassung spiegelte auch die Leistungsunfähigkeit und die tiefgreifende Diskreditierung des rein privatwirtschaftlichen Systems wider, und nach dem Krieg hielt der Grundsatzdisput darüber an, welche Wirtschaftsordnung der neuen Zeit angemessen sei.
Vorerst aber traten alle Interessenaggregate die Flucht in die Inflation an, da sie die Bewältigung akuter Probleme erleichterte: die Demobilmachung und den Übergang zur Friedenswirtschaft, die Lohnsteigerung und die Vermittlung von Wachstumsimpulsen, die Exportförderung und die Reparationszahlungen. Der Preis bestand wenig später aus der Hyperinflation, welche die Währung zerstörte, den Lebensstandard absenkte, die Vermögensverteilung umstülpte. Für viele Deutsche dominierten diese ökonomischen Turbulenzen in grellem Kontrast zur verklärten Sekurität der Vorkriegsjahre den Beginn des „kurzen“ 20. Jahrhunderts.
Nicht weniger tief wirkten sich die gesellschaftlichen Zerklüftungen aus. […]
Mit dem Epocheneinschnitt, den das „lange“ 19. Jahrhundert vom „kurzen“ 20. Jahrhundert trennt, ist unvermeidbar die Frage verbunden, ob in Deutschland wegen der grundstürzenden Veränderung im historischen Prozeß Diskontinuität regierte oder os sich in ihm trotzdem Kontinuitätsbrücken stärker als erwarte erwiesen. […] Im Hinblick auf den deutschen „Sonderweg“, dessen Probleme sich wie ein roter Faden durch diese Analyse ziehen, sind hier freilich die Kontinuitätslinien nicht zu übersehen. Nachdem der Ausgang des Weltkriegs die positiv verklärte Vorstellung von einem deutschen „Sonderweg“, der sich im Vergleich mit den westlichen Ländern als überlegener Modernisierungspfad erweisen werde, mit militärischer Härte dementiert hatte, blieben dennoch strukturell tief verankerte Kontinuitätselemente erhalten. Zu diesen Sonderbedingungen der deutsche Geschichte seit der Epoche ihrer „Doppelrevolution“ kam jetzt die enorme Prägewirkung des Totalen Krieges hinzu. Nur aus dieser Fusion läßt sich erklären, warum Deutschland, wie die komparative Perspektive klar zeigt, als einzigen hochzivilisiertes Industrieland den „Zivilisationsbruch“ seines mörderischen Radikalfaschismus begehen konnte.
Aus: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S.222-25.
Im Zentrum dieser Entwicklungen stand, das bleibt bei allen europäischen und globalen Betrachtungsperspektiven festzuhalten, das Deutsche Reich. Nicht nur, weil es die Auslösung des Ersten Weltkriegs wesentlich mit zu verantworten und den Zweiten Weltkrieg gezielt herbeigeführt hatte, sondern weil diese Konflikte auch wesentlich von dem deutschen Versuch geprägt waren, durch kriegerische Mittel die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent zu erringen. "Totaler Staat" (Ernst Forsthoff), "totale Mobilmachung" (Ernst Jünger) und "totaler Krieg" (Erich Ludendorff) lauteten die Konzeptbegriffe, die hier in den 1920er Jahren zunehmend in das Zentrum der politischen Diskurse rückten und mit dem Nationalsozialsozialismus erneut geschichtsmächtig wurden. Erst nach dem totalen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Großdeutschen Reiches 1945 konnte, zuerst einmal durch die Teilung Deutschlands und Europas, die "deutsche Frage" befriedet und eine relativ stabile Friedensordnung in Europa etabliert werden.
Ausgewählte Literatur:
Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert, München 2006.Roger Chickering u. Stig. Förster (Hg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914-1918, Cambridge/Mass. 2000.
Ludwig Dehio, Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert, München 1956.
Marc Ferro, Der Große Krieg 1914-1918, Frankf./M. 1988 (Orig. Paris 1968).
Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg, München 1973.
Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltpolitik des 20. Jahrhunderts, München 1998 (Orig. 1994).
Wolfgang Kruse, Der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009.
Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2012.