Burgfrieden und Innenpolitik
Innen- und Außenpolitik waren im Deutschen Kaiserreich während des Ersten Weltkrieges eng miteinander verwoben. Jahrelang hielt der "Burgfrieden" in der Politik. Als er brüchig wurde, zeigten sich auch die inneren Widersprüche: So standen beispielsweise der monarchisch verbrämten Militärdikatur der III. Obersten Heeresleitung die Parlamentarisierungsbestrebungen der Reichstagsmehrheit gegenüber.
Am Beginn des Krieges standen die einstimmige Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag und der Burgfriedensschluss aller Parteien zur Unterstützung der deutschen Kriegspolitik, der sich zur Überraschung und Freude der bürgerlichen Öffentlichkeit auch unter Einschluss der Sozialdemokratie vollzog. Die Innenpolitik der folgenden Kriegsjahre vollzog sich im Zeichen dieses Burgfriedens, der lange bewahrt wurde, zugleich aber immer mehr innere Widersprüche hervorbrachte und sich schließlich aufzulösen begann. Dabei bildeten sich verschiedene Entwicklungstendenzen heraus, die auf unterschiedliche Weise über den Status quo der konstitutionellen Monarchie der Vorkriegszeit hinauswiesen: die monarchisch verbrämte Militärdiktatur der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) unter den Generälen Hindenburg und Ludendorff; die Parlamentarisierungsbestrebungen der Reichstagsmehrheit aus gemäßigten Mehrheitssozialdemokraten, Liberalen und Zentrum; schließlich auch die politische und soziale Revolution, wie sie in der Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei und in den großen Streikbewegungen der Jahre 1917/18 Gestalt zu gewinnen begann.
Kriegszieldiskussion und innenpolitische "Neuorientierung"
Außen- und Innenpolitik waren unter den Bedingungen des Krieges eng miteinander verbunden, und dies wurde insbesondere in der Frage der äußeren Kriegsziele und der inneren "Neuorientierung" deutlich. Obwohl öffentliche Diskussionen über beide Themen im Zeichen des Burgfriedens verboten waren, traten die höchst unterschiedlichen Vorstellungen der verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kräfte doch schnell zutage und wurden zu einem Sprengsatz für die nationale Geschlossenheit. Bereits zum Jahreswechsel 1914/15 war eine Diskussion über die Kriegsziele nicht mehr zu verhindern, nachdem einflussreiche Interessengruppen weit über die proklamierte Landesverteidigung hinausweisende Eroberungen gefordert hatten. Mit Ausnahme einer Minderheit in der Sozialdemokratie traten zwar alle politischen Lager für offensive Kriegsziele ein, auch das Mitteleuropa-Programm der eher gemäßigten Kräfte ging grundsätzlich von einem Siegfriedensschluss aus und zielte auf die deutsche Hegemonie auf dem Kontinent ab. Doch wie umfangreich die gewünschten Annexionen ausfallen und in welchem Maße direkte oder indirekte Formen der deutschen Herrschaft angestrebt werden sollten, wurde bald höchst kontrovers diskutiert.”
Eduard Bernstein, Hugo Haase, Karl Kautsky: Das Gebot der Stunde (Juni 1915)
Forderungen, für die schon in früheren Monaten eine gewisse Presse sowie Vereinigungen […] systematisch Stimmung gemacht hatten, sind in den letzten Wochen von Persönlichkeiten in hervorragender Stellung sowie von einflußreichen Körperschaften in teilweise sogar noch verschärfter Form vertreten worden. Programme werden aufgestellt, die dem gegenwärtige Kriege den Stempel eines Eroberungskrieges aufdrücken. […]
Angesichts aller dieser Kundgebungen muß sich die deutsche Sozialdemokratie die Frage vorlegen, ob sie es mit ihren Grundsätzen und mit den Pflichten, die ihr als Hüterin der materiellen und moralischen Interessen der arbeitenden Klassen Deutschlands obliegen, vereinbaren kann, in der Frage der Fortführung des Krieges an der Seite derjenigen zu stehen, deren Absichten in schroffstem Widerspruch sind zu den Sätzen der Erklärung unserer Reichstagsfraktion vom 4. August 1914, in denen diese aussprach, daß sie im Einklang mit der Internationale jeden Eroberungskrieg verurteilt.
Dieser Satz würde zur Lüge gestempelt werden, wenn die deutsche Sozialdemokratie jenen Erklärungen aus den Kreisen der Machthaber gegenüber es bei dem Ausspruch akademischer Friedenswünsche bewenden ließe. Zu deutlich haben wir es erfahren müssen, daß man auf solche Bekundungen auch nicht die geringste Rücksicht nimmt.
Was verschiedene unter uns befürchtet haben, zeichnet sich immer bemerkenswerter ab: Man erlaubt der deutschen Sozialdemokratie, die Kriegsmittel zu bewilligen, man geht aber kühl über sie hinweg bei den für die Zukunft unsere Volkes folgenschwersten Beschlüssen. Dürfen wir dieses Verhältnis fortbestehen lassen, das uns die Möglichkeit raubt, die Kraft der deutschen Arbeiterklasse für eine Politik geltend zu machen, die nach unserer innersten, auf die Erfahrungen der Geschichte gestützten Überzeugung das Interesse des deutschen Volkes und mit diesem das aller beteiligten Völker gebietet?
Ungeheuer sind die Opfer, die dieser Krieg den in ihn hineingerissenen Völkern schon verursacht hat und die jeder Tag vermehrt. Die Weltgeschichte kennt keinen zweiten Krieg, der auch nur annähernd gleich mörderisch gewirkt hätte. Es ist die Grausamkeit barbarischer Zeitalter, verbunden mit den raffiniertesten Mitteln der Zivilisation, welche die Blüte der Völker dahinrafft. Nicht minder unerhört sind die Opfer an Gütern, die der Krieg den Völkern entreißt. Weite Gebiete werden verwüstet, und Summen, die für Kulturzwecke in einem Jahr auszugeben man sich gescheut hat, werden in diesem Krieg in einer Woche für die Tötung von Menschen und die Vernichtung von Grundlagen künftiger Wohlfahrt ausgegben. Allen beteiligten Nationen starrt bei Verlängerung des Krieges der Bankrott entgegen.
In weiten Teilen unseres Volkes und derjenigen Völker, mit denen das Deutsche Reich im Krieg liegt, macht sich denn auch immer stärkere Friedenssehnsucht geltend. Während die Herrschenden davor zurückschrecken, diesem Friedensbedürfnis zu entsprechen, blicken Tausende und aber Tausende auf die Sozialdemokratie, die man als die Partei des Friedens zu betrachten gewohnt war, und erwarten von ihr das erlösende Wort und das ihm entsprechende Verhalten.
Nachdem die Eroberungspläne vor aller Welt offenkundig sind, hat die Sozialdemokratie die volle Freiheit, ihren gegensätzlichen Standpunkt in nachdrücklichster Weise geltend zu machen, und die gegebene Situation macht aus der Freiheit eine Pflicht. […]
Wir wissen, daß Friedensbedingungen, die von einer Seite der Kriegführenden der anderen aufgezwungen werden, keinen wirklichen Frieden bringen, sondern nur neue Rüstungem mit dem Ausblick auf neuen Krieg bedeuten. Ein wirklicher und dauernder Friede ist nur möglich auf der Grundlage freier Vereinbarung.
Diese Grundlage zu schaffen, ist nicht der Sozialdemokratie eines einzelnen Landes gegeben. Aber jede einzelne Partei kann nach Maßgaber ihrer Stellung und ihrer Kräfte dazu beitragen, daß diese Grundlage hergestellt wird.
Die gegenwärtige Gestaltung der Dinge ruft die deutsche Sozialdemokratie auf, einen entscheidenden Schritt zu diesem Ziel zu tun. Sie ist heute vor die Wahl gestellt, diesem Gebot Folge zu leisten oder dem Vertrauen einen tödlichen Stoß zu versetzen, das sie bisher im deutschen Volk und in der gesamten Welt als Verfechterin des Völkerfriedens genoß.
Wir zweifeln nicht, daß unsere Partei diejenigen Folgerungen ziehen wird, die sich für unsere parlamentarische und außerparlamentarische Haltung hieraus ergeben. Mit den schönsten Überlieferungen der Sozialdemokratie steht die Zukunft unseres Volkes auf dem Spiel, seine Wohlfahrt und seine Freiheit. Hat unserer Partei nicht die Macht, die Entscheidungen zu treffen, so fällt doch uns die Aufgabe zu, als treibende Kraft die Politik in der Richtung vorwärts zu drängen, die wir als richtige erkannt haben.
Aus: Peter Friedemann, Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1917, S. 904-06.
Militärdiktatur und nationalistische Mobilisierung
Das Deutsche Kaiserreich war strukturell eine Militärmonarchie, und dies trat naturgemäß im Krieg besonders deutlich zutage. Unter dem bei Kriegsbeginn verhängten Belagerungszustand ging die vollziehende Gewalt von den Zivilbehörden an die Militärbefehlshaber der Stellvertretenden Generalkommandos über. Das Militär wurde so zu einem allein vom Kaiser als Oberstem Kriegsherrn kontrollierten politischen Machtfaktor, der vielfältige Befugnisse von der Pressezensur über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Lebensmittelbewirtschaftung bis zur Organisation der Kriegswirtschaft ausübte. Unter der im August 1916 berufenen 3. Obersten Heeresleitung mit den kommandierenden Generälen Hindenburg und Ludendorff begann sich die Militärführung darüber hinaus politisch immer mehr zu verselbständigen und diktatorische Tendenzen auszubilden. Sie setzte im zunehmend totalen Krieg auf die Mobilmachung der ganzen Gesellschaft, um doch noch einen umfassenden Siegfrieden erreichen zu können. Auf ihren Druck musste Reichskanzler Bethmann Hollweg, der als zu zaudernd galt, schließlich zurücktreten. Insbesondere in der Außenpolitik handelte das Militär nun weitgehend autonom, so als die OHL zum Jahreswechsel 1917/18 in Brest-Litowsk unter Ausschaltung ziviler Regierungsvertreter einen Gewaltfrieden gegen das bolschewistische Russland diktierte. In der Innenpolitik traten die antiparlamentarischen Tendenzen der Militärführung immer deutlicher zutage, vor allem nachdem der Reichstag im Juli 1917 eine Friedensresolution verabschiedet hatte. Im Gegenzug wurde unter Beteiligung führender Militärs im September 1917 die Deutsche Vaterlandspartei als ein Sammelbecken rechtsgerichteter Organisationen gegründet, die für einen militärischen Siegfrieden und gegen demokratische Reformen agitierte.”
Gründungsaufruf der Deutschen Vaterlandspartei (September 1917)
Wen gäbe es nicht, der nicht mit heißem Herzen den Frieden ersehnte! Nervenschwache Friedenskundgebungen verzögern aber nur den Frieden. Unsere auf die Vernichtung Deutschlands bedachten Feinde erblicken in ihnen nur den Zusammenbruch deutscher Kraft. Und das zu einer Zeit, da wir nach dem Zeugnis unseres Hindenburg militärisch günstiger dastehen denn je zuvor. Sichern wir dem Feinde zu, daß für ihn jederzeit ein ehrenvoller Verständigungsfriede zu haben ist, so kann er durch Fortsetzung des Krieges nur gewinnen und nichts verlieren.
Unsere Regierung befindet sich nach den Geschehnissen der Vergangenheit in einer Zwangslage. Ohne einen starken Rückhalt im Volk kann die Regierung allein der Lage nicht Herr werden. Sie braucht für eine kraftvolle Reichspolitik auch ein kraftvolles Werkzeug. Ein solches Werkzeug muß sein eine große, auf weiteste vaterländische Kreise gestützte Volkspartei.
Nicht Sonderbestrebungen zur Erringung parteipolitischer Macht dürfen jetzt das Deutsche Reich zersplittern, der unbeugsame, nur auf des Vaterlandes Sieg bedachte Wille muß es einen! In dankbarem Aufblick zu unserem unvergeßlichen geliebten ersten Kaiser und seinem eisernen Kanzlern, den Einigern der deutschen Stämme, eingedenk des Titanenkampfes gegen den verderblichen Parteigeist, den Otto v. Bismarck mit flammenden Worten vor Gott und der Geschichte anklagte, haben die unterzeichneten ostpreußischen Männer, treu den Überlieferungen ihrer Vorväter die Deutsche Vaterlands-Partei gegründet, um das deutsche Vaterland in dieser größten und ernstesten Stunde deutscher Geschichte vor dem Erbübel der Uneinigkeit und Parteiung zu schützen und zu schirmen.
Die Deutsche Vaterlands-Partei bezweckt die Zusammenfassung aller vaterländischen Kräfte ohne Unterschied der politischen Parteistellung. Sie besteht aus vaterländisch gesinnten Einzelpersonen und Vereinigungen. Sie will Stütze und Rückhalt sein für eine krafvolle Reichsregierung, die nicht in schwächlichem Nachgeben nach innen und außen, sondern in deutscher Standhaftigkeit und unerschütterlichem Glauben an den Sieg die Zeichen der Zeit zu deuten weiß! […]
Wir wollen keine innere Zwietracht! Über innerem Hader vergessen wir Deutsche zu leicht den Krieg. Der Feind vergißt ihn keinen Augenblick! Die in der Deutschen Vaterlands-Partei zusammengeschlossenen Deutschen verpflichten sich, mit allen Kräften dahin zu wirken, daß bis zum Friedensschluß der innere Zwist ruht. Mag der einzelne zu den inneren Streitfragen stehen, wie er will, die Entscheidung hierüber ist der Zeit nach dem Kriege vorbehalten. Dann sind unsere Tapferen aus dem Felde heimgekehrt und können am inneren Ausbau des Reiches mitwirken. Jetzt gilt es nur zu siegen! […] Aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 8, S. 440f.
Reichstagsmehrheit und Parlamentarisierung
Die in der Kriegszielfrage gemäßigteren, im Innern zu Reformen bereiten politischen Kräfte des Reichstages bildeten seit 1915 Kooperationsformen aus, die schließlich im Juli 1917 mit der Bildung des "Interfraktionellen Ausschusses" ihren Höhepunkt fanden. In diesem Ausschuss fanden sich die Linksliberalen, das Zentrum und anfangs auch die Nationalliberalen gemeinsam mit der gemäßigten Mehrheit der Sozialdemokraten zu formellen Absprachen über gemeinsame Initiativen im Reichstag zusammen, in dem sie zusammen über eine große Mehrheit verfügten. Mit der Friedensresolution der Reichstagsmehrheit im Juli 1917 formulierten sie zugleich den Anspruch, auf wesentlichen, bisher der Regierung vorbehaltenen Handlungsfeldern wie der Außenpolitik politisch mitgestalten zu wollen.”
Friedensresolution des Deutschen Reichstages, am 19. Juli 1917 verabschiedet mit den Stimmen der SPD, der FVP und des Zentrums
Mit einem solchen Frieden sind erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar.
Der Reichstag weist auch alle Pläne ab, die auf eine wirtschaftliche Absperrung und Verfeindung der Völker nach dem Kriege ausgehen.
Die Freiheit der Meere muß sichergestellt werden.
Nur der Wirtschaftsfriede wird einem freundschaftlichen Zusammenleben der Völker den Boden bereiten.
Der Reichstag wird die Schaffung internationaler Rechtsorganisationen tatkräftig fördern.
Solange jedoch die feindlichen Regierungen auf einen solchen Frieden nicht eingehen, solange sie Deutschland und seine Verbündeten mit Eroberung und Vergewaltigung bedrohen, wird das deutsche Volk wie ein Mann zusammenstehen, unerschütterlich ausharren und kämpfen, bis sein und seiner Verbündeten Recht auf Leben und Entwicklung gesichert ist.
In seiner Einigkeit ist das deutsche Volk unüberwindlich. Der Reichstag weiß sich darin einig mit den Männern, die in heldenhaftem Kampfe das Vaterland schützen. Der unvergängliche Dank des ganzen Volkes ist ihnen sicher. Aus: Gunther Mai, Das Ende des Kaiserreichs, S. 209f.
Spaltung der SPD und Basisrevolutionierung
Eine wesentliche Folge der Burgfriedenspolitik war die Spaltung der SPD. Dabei ging es im Kern noch nicht um den später hervortretenden Konflikt zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, sondern vor allem um Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialdemokratie. Obwohl eine keineswegs unbedeutende Minderheit in der SPD die politische Unterstützung der Kriegspolitik des Reiches von Anfang an kritisch betrachtet hatte, war der Burgfrieden erst einmal auch in die Partei hinein verlängert worden. Selbst der profilierteste Antimilitarist in der SPD-Reichstagsfraktion, Karl Liebknecht, hatte sich am 4. August 1914 der Parteidisziplin gefügt und den Kriegskrediten zugestimmt. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Hugo Haase trug sogar die Erklärung zur Kriegskreditbewilligung im Reichstag vor, obwohl er in der Fraktion dagegen gestimmt hatte. Doch als offensive Kriegsziele nicht nur der politischen Rechten, sondern auch der deutschen Regierung immer deutlicher hervortraten, wurde der Ruf nach einer selbstständigen Politik der SPD bald immer lauter. Ab Dezember 1914 stimmte Liebknecht, etwas später gefolgt von Otto Rühle, im Reichstag gegen weitere Kriegskredite, und im Frühjahr 1915 traten die Gegner der Burgfriedenspolitik auch publizistisch in der Öffentlichkeit hervor. Dabei handelte es sich keineswegs nur um die radikale, von Liebknecht und Rosa Luxemburg angeführte "Gruppe Internationale", aus der der Spartakusbund als Keimzelle der KPD hervorging. Die Kritiker der sozialdemokratischen Kriegspolitik umfassten vielmehr ein breites Spektrum parteipolitischer Richtungen, zu denen auch erklärte Revisionisten wie Eduard Bernstein zählten, der im Juni 1915 zusammen mit Haase und dem Parteitheoretiker Karl Kautsky in dem berühmten Aufruf "Das Gebot der Stunde" für eine Abkehr von der Kriegsunterstützung warb. Alle diese Kräfte sahen in der Burgfriedenspolitik eine Aufgabe grundsätzlicher Positionen der Sozialdemokratie, die möglichst schnell revidiert werden sollte.”
Grundlinien der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (April 1917)
Aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 8. S. 434f.
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Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie
Vorbei ist der Rausch. Vorbei der patriotische Lärm in den Straßen, die Jagd auf Goldautomobile, die einander jagenden falschen Telegramme, die mit Cholerabazillen vergifteten Brunnen, die auf jeder Eisenbahnbrücke Berlins bombenwerfenden russischen Studenten, die über Nürnberg fliegenden Franzosen, die Straßenexzesse des spionenwitternden Publikums, das wogende Menschengedränge in den Konditoreien, wo ohrenbetäubende Musik und patriotische Gesänge die höchsten Wellen schlugen; ganze Stadtbevölkerungen in Pöbel verwandelt, bereit, zu denunzieren, Frauen zu mißhandeln, Hurra zu schreien und sich selbst durch wilde Gerüchte ins Delirium zu steigern; eine Ritualmordatmosphäre, eine Kischinjow-Luft, in der der Schutzmann an der Straßenecke der einzige Repräsentant der Menschenwürde war.
Die Regie ist aus. Die deutschen Gelehrten, die "wankenden Lemuren", sind längst zurückgepfiffen. Die Reservistenzüge werden nicht mehr vom lauten Jubel der nachstürzenden Jungfrauen begleitet, sie grüßen nicht mehr das Volk aus den Wagenfenstern mit freudigem Lächeln; sie trotten still, ihren Karton in der Hand, durch die Straßen, in denen das Publikum mit verdrießlichen Gesichtern dem Tagesgeschäft nachgeht.
In der nüchternen Atmosphäre des bleichen Tages tönt ein anderer Chorus: der heisere Schrei der Geier und Hyänen des Schlachtfeldes. Zehntausend Zeltbahnen garantiert vorschriftsmäßig! 100.000 Kilo Speck, Kakaopulver, Kaffee-Ersatz, nur per Kasse, sofort lieferbar! Granaten, Drehbänke, Patronentaschen, Heiratsvermittlung für Witwen der Gefallenen, Ledergurte, Vermittlung von Heereslieferungen – nur ernst gemeinte Offerten! Das im August, im September verladene und patriotisch angehauchte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in den Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in die Halme schießt. Es gilt, rasch die Ernte in die Scheunen zu bringen. Über den Ozean strecken sich tausend gierige Hände, um mitzuraffen.
Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völker recht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere als Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend; und Hungertumulte in Venetien, in Lissabon, in Moskau, in Singapur, und Pest in Rußland, und Elend und Verzweiflung überall.
Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.
Mitten in diesem Hexensabbat vollzog sich eine weltgeschichtliche Katastrophe: die Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie. Sich darüber zu täuschen, sie zu verschleiern, wäre das Törichtste, das Verhängnisvollste, was dem Proletariat passieren könnte. "... der Demokrat" (das heißt der revolutionäre Kleinbürger), sagt Marx, "geht ebenso makellos aus der schmählichsten Niederlage heraus, wie er unschuldig in sie hineingegangen ist, mit der neugewonnenen Überzeugung, daß er siegen muß, nicht daß er selbst und seine Partei den alten Standpunkt aufzugeben, sondern umgekehrt, daß die Verhältnisse ihm entgegen zureifen haben." Das moderne Proletariat geht anders aus geschichtlichen Proben hervor. Gigantisch wie seine Aufgaben sind auch seine Irrtümer. Kein vorgezeichnetes, ein für allemal gültiges Schema, kein unfehlbarer Führer zeigt ihm die Pfade, die es zu wandeln hat. Die geschichtliche Erfahrung ist seine einzige Lehrmeisterin, sein Dornenweg der Selbstbefreiung ist nicht bloß mit unermeßlichen Leiden, sondern auch mit unzähligen Irtümern gepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung hängt davon ab, ob das Proletariat versteht, aus den eigenen Irrtümern zu lernen. Selbstkritik, rückisichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung. Der Fall des sozialistischen Proletariats im gegenwärtigen Weltkrieg ist beispiellos, ist ein Unglück für die Menschheit. Verloren wäre der Sozialismus nur dann, wenn das internationale Proletariat die Tiefe dieses Falls nicht ermessen, aus ihm nicht lernen wollte. [...]
Auszug aus: Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie [Die "Junius"-Broschüre] (1916)
Ausgewählte Literatur:
Udo Bermbach, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung im Deutschen Kaiserreich. Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 und die Parlamentarisierung der Reichsregierung, Köln u. Opladen 1967.Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997.
Karl-Heinz Janßen, Der Kanzler und der General. Die Führungskrise um Bethmann Hollweg und Falkenhayn (1914-1916), Göttingen 1967.
Konrad H. Jarausch, The Enigmatic Chancellor. Bethmann Hollweg and the Hybris of Imperial Germany, New Haven u. London 1973.
Martin Kitchen, The Silent Dictatorship. The Politics of the German High Commandt unter Hindenburg and Ludendorff 1916-1918, London 1976.
Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974.
Torsten Oppeland, Reichstag und Außenpolitik im Ersten Weltkrieg. Die deutschen Parteien und die Politik der USA 1914-1918, Düsseldorf 1995.
Eugen Prager, Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschland, Glashütten i. Ts. 1978 (zuerst 1921).
R. Schiffers, Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915-1918. Formen und Bereiche der Kooperation zwischen Parlament und Regierung, Düsseldorf 1979.
Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969.