Kriegswirtschaft und Kriegsgesellschaft
Deutschland war nicht auf einen lange andauernden industriellen Abnutzungskrieg vorbereitet. Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges kam es daher zu einer massiven Umstellungskrise der deutschen Wirtschaft. Trotz der Einberufung von Millionen Männern zum Militär wuchs die Arbeitslosigkeit rasch an. Darauf folgte eine starke Kriegskonjunktur, bedingt durch staatliche Aufträge an die Rüstungsindustrie. Gleichzeitig machte sich ein gravierender Arbeitskräftemangel bemerkbar, der starke gesellschaftliche und soziale Veränderungen mit sich brachte.
Zwar wurde die deutsche Zivilgesellschaft im Ersten Weltkrieg nur in geringem Maße - durch Bombenangriffe in grenznahen Gebieten - unmittelbar durch Kampfhandlungen betroffen. Trotzdem übte der zunehmend totale Krieg beträchtliche Einflüsse auf Wirtschaft und Gesellschaft an der sogenannten Heimatfront aus. Die Wirtschaft wurde immer rigoroser auf Kriegsproduktion umgestellt, Frauen spielten eine wachsende Rolle im öffentlichen Leben. Die Menschen begannen Entbehrungen und materielle Not zu erleiden, und in der Gesellschaft bildeten sich immer deutlicher klassengesellschaftliche Gegensätze und soziale Protestpotentiale aus, die bald auch kriegsgegnerische Ausprägungen gewannen.
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„Hunger“-Flugblatt (Juni 1916)
Herr von Bethmann-Hollweg klagt England des Verbrechens an, den Hunger in Deutschland verschuldet zu haben, und die Kriegsdurchhalter und Regierungszuhälter schwätzen es nach. Indessen die deutsche Regierung hätte wissen müssen, daß es so kommen mußte: Der Krieg gegen Rußland, Frankreich und England mußte zur Absperrung Deutschlands führen. Es war auch stets Brauch unter den edlen Brüdern im Kriege, einander wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, die Zufuhr von Lebensmitteln abzusperren. Der Krieg, der Völkermord ist das Verbrechen, der Aushungerungsplan nur eine Folge dieses Verbrechens.
Die bösen Feinde haben uns ‚eingekreist‘, plärren die Kriegsmacher. Warum habt ihr eine Politik gemacht, die zur Einkreisung führte? Ist die einfachste Gegenfrage. […]
Auf das Verbrechen der Anzettelung des Weltkriegs wurde ein weiteres gehäuft: die Teuerung tat nichts, um dieser Hungersnot zu begegnen. Warum geschah nichts? Weil den Regierungssippen, den Kapitalisten, Junkern, Lebensmittelwucherern der Hunger der Massen nicht wehe tut, sondern zur Bereicherung dient. Weil, wenn man von Anfang an den Kampf gegen Hunger und Not durch ernsthafte Maßnahmen aufgenommen hätte, den verblendeten Massen der furchtbare Ernst der Lage klar geworden wäre. Dann wäre aber die Kriegsbegeisterung alsbald verraucht.
Deshalb hat man die Volksmassen mit Siegestriumphgeheul betäubt und sie gleichzeitig den agrarischen und kapitalistischen Lebensmittelwucherern ausgeliefert. […]
Was soll werden?
Man kann noch ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes Jahr Krieg führen, indem man die Menschen langsam verhungern läßt. Dann wird aber die künftige Generation geopfert. Zu den furchtbaren Opfern an Toten und Krüppeln der Schlachtfelder kommen weitere Opfer an Kindern und Frauen, die infolge des Mangels dem Siechtum verfallen.
Aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 8, S. 415f.
Vorrang und Organisation der Kriegsproduktion
Ähnlich wie in allen anderen am Krieg beteiligten Ländern war die Wirtschaft auch in Deutschland nicht auf einen lange dauernden industriellen Abnutzungskrieg vorbereitet. Erschwerend kam hier der durch die Absperrung vom Weltmarkt verursachte Mangel an erforderlichen Rohstoffen wie etwa Salpeter hinzu, das für die Produktion von Schießpulver benötigt wurde. Auf Initiative und unter Leitung des AEG-Direktors Walther Rathenau wurde deshalb schon am 13. August 1914 im Preußischen Kriegsministerium eine Kriegsrohstoffabteilung gegründet. Sie organisierte die Erfassung und Verteilung von kriegswichtigen Rohstoffen und die Produktion von Ersatzstoffen wie künstliches Salpeter nach dem Haber-Bosch-Verfahren und wurde so zur Keimzelle für den Ausbau der deutschen Rüstungswirtschaft. Ausgehend von der Metall- und Chemieindustrie wurden unter ihrer Anleitung immer mehr Wirtschaftsbereiche zu sogenannten Kriegsrohstoffgesellschaften zusammengeschlossen, in denen im Zusammenspiel von wirtschaftlicher Selbstverwaltung und militärbehördlicher Aufsicht die Verteilung von kriegswichtigen Rohstoffen organisiert wurde.”
Bericht über die Entwicklung der Volksgesundheit im Ersten Weltkrieg
So teilte Geheimrat Rubner u. a. mit: Die zensurierten Äußerungen der Presse ließen den Gesundheitszustand der Bevölkerung als gut erscheinen. Aber eine vertrauliche Umfrage im Dezember 1917 zeigte ein rasches Steigen der gesamten Sterblichkeit, insbesondere auch an Tuberkulose. Verzweifelt lauteten die Berichte aus Anstalten, wo nur die rationierte Ernährung gegeben wurde, Eine weitere Untersuchung scheiterte an dem Widerstand gewisser mächtiger Persönlichkeiten: Es fehlt jeder Maßstab, wie weit das Elend geht, das nicht nur die Großstädte, sondern auch Kleinstädte, und schließlich auch das Land ergriffen hat. Geheimer Medizinalrat Kraus besprach u. a. die durch Unterernährung entstehende Krankheit „Hungerödem“, die zunächst nur bei älteren und schwer arbeitenden Personen zum Tode führte, später aber auch Jugendlich und die widerstandsfähigeren Altersstufen ergriff. Geheimrat Ezernh besprach besonders die Wirkungen auf die Kinder. Bis 1916 täuschte das gute Aussehen der Kinder, aber die Kinder wurden nur dadurch ausreichend ernährt, daß die Eltern hungerten. Jetzt werden auch schon die Brustkinder in Mitleidenschaft gezogen, da die Milch der Mütter ungenügend wird.
Die Vertreter des Reichsamts des Innern und der Stadt Berlin gaben vor allem einiges statistisches Material:
Die Gesamtsterblichkeit der Zivilbevölkerung zeigte im Jahre 1917 eine Zunahme von 32 v. H., in den ersten dreiviertel Jahren 1918 von 34 v. H. gegenüber 1913. Dabei sind die Grippefälle nicht mitgerechnet. An Tuberkulose starben in Städten von mehr als 150000 Einwohnern 1913 40334 Menschen. Im ersten Halbjahr 1918 41800. An Erkrankung der Atemorgane starben 1913 46000, 1917 61000. Im ersten Halbjahr 1918 335000 Menschen, ohne die Grippefälle. Für Berlin hat sich ergeben, daß die Todesfälle an Lungen- und Halsschwindsucht sich gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 1913 und 1916 im Jahre 1917 verdoppelt haben. Besonders groß ist die Sterblichkeit der Frauen.
Aus: Sociale Praxis, 28. Jg. 1918/19, Sp. 215f.
Arbeitskräftemangel und Arbeitszwang
Bei Kriegsbeginn war es anfangs zu einer massiven Umstellungskrise der deutschen Wirtschaft mit einer trotz der Einberufung von Millionen Männern zum Militär rasch wachsenden Arbeitslosigkeit gekommen. Sie wurde jedoch bald von einer starken Kriegskonjunktur in den von staatlichen Aufträgen begünstigten Rüstungsbetrieben abgelöst. Hier machte sich nun ein gravierender Arbeitskräftemangel bemerkbar, der durch Umschichtungen aus den Friedensindustrien nur teilweise ausgeglichen werden konnte. Staat und Industrie versuchten, dieses Problem auf verschiedene Weise zu lösen: Zum ersten durch die Rückstellung hochqualifizierter Industriearbeiter vom Kriegsdienst, was allerdings angesichts des wachsenden Bedarfs an Soldaten auf enge Grenzen stieß; zum zweiten durch die Heranziehung von Kriegsgefangenen, eine Praxis, die jedoch im Bereich der Kriegsproduktion völkerrechtswidrig war und oft nur mit Zwang durchgesetzt werden konnte; zum dritten durch Nutzung ausländischer Arbeitskräfte, wobei vor allem gegen Zivilisten aus Polen und Belgien auch rigide Zwangsmaßnahmen angewendet wurden, die vor allem im Falle der Zwangsdeportation von gut 60.000 belgischen Arbeitern ins Reich heftige internationale Proteste auslösten; zum vierten durch Versuche zur Erhöhung der Frauenarbeit, die insbesondere bei Arbeiterfrauen mit Kindern aber nur mäßig erfolgreich waren; schließlich durch die Einschränkung der Freizügigkeit und andere Zwangsmaßnahmen gegen die deutsche Arbeiterschaft.”
Größe und Zusammensetzung der deutschen Arbeiterschaft 1913 und 1918
Absolute Zahlen jeweils in 1000 Arbeitern; relative Veränderungen in Prozent
1913 | 1918 | Veränderung | |
Männer und Frauen insgesamt | 7387 | 6787 | -8% |
davon erwachsen | 6816 | 6185 | -9% |
davon unter 16 | 571 | 602 | +6% |
Männer insgesamt | 5794 | 4467 | -23% |
davon erwachsen | 5410 | 4046 | -25% |
davon unter 16 | 384 | 421 | +10% |
Frauen insgesamt | 1593 | 2320 | +46% |
davon erwachsen | 1406 | 2139 | +52% |
davon unter 16 | 187 | 181 | -3% |
Quelle: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988, S. 27.
Lebensmittelbewirtschaftung und materielle Not
Das zivile Leben an der Heimatfront war von Kriegsbeginn an von Mangel und wachsender Not geprägt. Eine Ursache dafür lag in der britischen Seeblockade, doch kamen andere, hausgemachte Gründe hinzu. Während etwa in England durch die Ausweitung von Anbauflächen die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sichergestellt werden konnte und erst im letzten Kriegsjahr Rationierungen eingeführt werden mussten, setzte das Deutsche Reich mit seinem prinzipiellen Vorrang für die Kriegsproduktion bei Lebens- und Bedarfsmitteln von Anfang an auf Mangelbewirtschaftung. Angefangen mit Grundnahrungsmitteln wie Brotgetreide und Kartoffeln, wurden frühzeitig von den Militärbehörden Beschlagnahmungen verhängt, Höchstpreise festgesetzt und Lebensmittelrationen zugewiesen.”
Arbeitsverdienste und Nahrungsmittelversorgung zu Zeiten des Ersten Weltkriegs
Realverdienste männlicher Arbeiter, März 1914 = 100
Sept. 1914 | März 1915 | Sept. 1915 | März 1916 | Sept. 1916 | März 1917 | Sept. 1917 | März 1918 | Sept. 1918 | |
Kriegsindustrien | 90,8 | 91,8 | 89,8 | 88,9 | 78,4 | 76,2 | 78,8 | 77,8 | 77,4 |
Zwischengruppe | 92,3 | 83,4 | 81,6 | 79,9 | 68,3 | 62,3 | 62,8 | 60,4 | 64,2 |
Friedensindustrien | 83,5 | 82,6 | 77,5 | 73,5 | 57,9 | 54,3 | 52,7 | 52,2 | 55,5 |
Durchschnitt insgesamt | 88,9 | 85,9 | 83,0 | 80,8 | 68,2 | 64,3 | 64,8 | 63,4 | 65,7 |
Quelle: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988, S. 33.
Gewicht der offiziellen Lebensmittelrationen
In Prozent des Gewichts des Friedensverbrauchs
1916/1917 | 1917/1918 | 1.7. bis 28.12.1918 | |
Fleisch | 31,2 | 19,8 | 11,8 |
Eier | 18,3 | 12,5 | 13,3 |
Schmalz | 13,9 | 10,5 | 6,7 |
Butter | 22 | 21,3 | 28,1 |
Zucker | 48,5 | 55,7-66,7 | 82,1 |
Kartoffeln | 70,8 | 94,2 | 94,3 |
Pflanzliche Fette | 39 | 40,5 | 16,6 |
Quelle: Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988, S. 35.
Soziale Gegensätze und Antikriegsproteste
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Bericht des Berliner Polizeipräsidenten an den Preußischen Innenminister über Unruhen vor Lebensmittelgeschäften im Oktober 1915
Schließlich hat auch im Bezirk des 70. Polizeireviers im Südosten in der Reichenbergerstraße 137 um 7 ¾ Uhr ein Angriff auf das Eiergeschäft von Leo Intrators tatgefunden. Es waren 500 bis 600 Personen versammelt, denen es infolge der Plötzlichkeit des Angriffs gelang, die Schaufensterscheiben und die Vorräte im Schaufenster zu zerschlagen, ohne daß ein Einschreiten der Schutzmannschaft und Feststellung der Täter erfolgen konnte. Ein verstärkter polizeilicher Schutz hinderte dann weitere Ausschreitungen, und die Menge hatte sich um 10 Uhr verlaufen.
Die an sich in einer Großstadt wie Berlin unter dem gegenwärtigen Druck der Lebensmittelfrage nicht besonders bedenklichen Ausschreitungen trage ich deshalb so ausführlich vor, weil die Gefahr besteht, daß sie sich wiederholen und einen immer größeren Umfang annehmen werden. […]
Aus: Dokumente aus geheimen Archiven, Bd. 4, S. 90f.
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Forderungen der Berliner Arbeiterräte im Januarstreik 1918
4. Der Belagerungszustand ist sofort aufzuheben. Das Vereinsrecht tritt vollständig wieder in Kraft, ebenso das Recht der freien Meinungsäußerung in der Presse und in Versammlungen. Die Schutzgesetze für Arbeiterinnen und Jugendliche sind schleunigst wieder in Kraft zu setzen. Alle Eingriffe der Militärverwaltung in die gewerkschaftliche Tätigkeit sind rückgängig zu machen und neue zu verhindern.
5. Die Militarisierung der Betriebe ist gleichfalls aufzuheben.
6. Alle wegen politischer Handlungen Verurteilte und Verhaftete sind sofort freizulassen.
7. Durchgreifende Demokratisierung der gesamten Staatseinrichtungen in Deutschland, und zwar zunächst die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle Männer und Frauen im Alter von mehr als 20 Jahren für den preußischen Landtag.
ENTSCHLIEßUNG
Da nur unbedingte Solidarität Erfolg verheißt, geloben wir, jede Maßregelung unserer Führer, Vertreter und Beauftragten mit aller Macht abzuwehren. Wir richten aber auch an die Proletarier Deutschlands wie der anderen kriegführenden Länder insgesamt die dringende Aufforderung, wie schon die Arbeitskollegen in Österreich-Ungarn erfolgreich uns vorangegangen sind, so nunmehr gleichfalls in Massenstreiks einzutreten, denn erst der gemeinsame internationale Klassenkampf schafft uns endgültig Frieden, Freiheit und Brot.
Aus: Dokumente aus geheimen Archiven, S. 246f.
Ausgewählte Literatur:
Roger Chickering, Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag, Paderborn 2008 (Orig. Cambridge/Mass. 2007).Hans Joachim Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, 2 Bde., Hamburg 1981.
Hans G. Ehlert, Die wirschaftliche Zentralbehörde des Deutschen Reiches 1914-1919. Das Problem der "Gemeinwirtschaft " in Krieg und Frieden, Wiesbaden 1982.
Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914-1918, Bonn u. Berlin 1985 (Orig. 1966).
Ders., The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, Oxford 1993.
Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Frankf./M. 1988 (zuerst Göttingen 1973).
Kai Rawe, "… wir werden sie schon zur Arbeit bringen." Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, Essen 2005.
Anne Roerkohl, Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen während des Ersten Weltkrieges, Stuttgart 1991.
A. Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart u.a. 1927.
Jens Thiel, "Menschenbassin Belgien ". Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2007.
Friedrich Zunkel, Industrie und Staatssozialismus, Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914-1918, Düsseldorf 1974.
Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997.