Außenpolitik und Imperialismus
Bismarcks Außenpolitik konzentrierte sich auf die Erhaltung des europäischen Friedens. Ein massiver Kurswechsel erfolgte erst nach seiner erzwungenen Abdankung am 18.3.1890: Bündnisse wurden auf ihre Kriegstauglichkeit hin geprüft. Und Deutschland forderte einen "Platz an der Sonne".Die Überlebensfähigkeit des mit dem Kaiserreich neu gegründeten Nationalstaats hing nicht allein von den Möglichkeiten und Grenzen einer geschickten Außenpolitik ab. Doch ihre Bedeutung geht schon daraus hervor, dass Bismarck sie immer auch als einen Hebel begriff, um die innenpolitische Stabilisierung des Klassenstaates zu betreiben. Das "Bündnis zwischen Rittergut und Hochofen" (Bismarck) galt es auch durch außenpolitische Erfolge zu zementieren. Gerade angesichts des vorhandenen Umsturzpotentials in den europäischen Monarchien – der Aufstand der Pariser Commune im deutsch-französischen Krieg hatte dies nochmals vor Augen geführt – blieb die Außenpolitik Bismarcks wie seiner Nachfolger daher nicht nur bestimmt vom "Alptraum der Koalitionen" (cauchemar des coalitions), sondern auch vom "Alptraum der Revolution".
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Otto von Bismarck im "Kissinger Diktat" vom 15. Juni 1877
Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Lauf der Jahre, würde ich als wünschenswerte Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns ansehn:
- Gravitierung (im Sinne von: Schwerpunktbildung/Ausrichtung) der russischen und der österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin,
- der Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen, und unseres Bündnisses zu bedürfen,
- für England und Rußland ein befriedigender status quo, der ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben,
- die Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich wegen Ägyptens und des Mittelmeers,
- Beziehungen zwischen Rußland und Österreich, welche es beiden schwierig machen, die antideutsche Konspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu welcher zentralistische oder klerikale Elemente in Österreich etwa geneigt sein möchten.
Hegemoniale Konsolidierung unter Bismarck
Den vorläufig sinnfälligsten Ausdruck bekam die Furcht vor einer antideutschen Koalition im September 1872, als sich Zar Alexander II., Kaiser Franz Joseph von Österreich und Kaiser Wilhelm I. zusammenfanden, um sich ihrer monarchischen Verbundenheit für "die Aufrechterhaltung des europäischen Friedens gegen alle Erschütterungen" zu versichern. Das Treffen führte direkt zum so genannten Dreikaiserabkommen vom Juni bzw. Oktober 1873.Außenpolitisch diente es vor allem der Isolation Frankreichs. Jenem Land, das nach der Niederlage gegen Preußen-Deutschland und der danach erzwungenen Abtretung Elsass-Lothringens sowie einer Reparationszahlung von 5 Milliarden Francs auf Revanche sann. Bereits im Sommer 1871 begannen französische Diplomaten mit der Annäherung an Russland. Vor allem dieser Entwicklung vermochte Bismarck mit dem Dreikaiserabkommen vorerst einen Riegel vorzuschieben. Überhaupt sollte die außenpolitische Isolation des als "Erbfeind" geltenden westlichen Nachbarn ein zentraler Eckpfeiler der Außenpolitik bleiben. Schon das Krisenjahr 1874 zeigte allerdings, dass sich das deutsch-russische Verhältnis wieder abzukühlen begann und Frankreich auch weiterhin den Schulterschluss mit dem östlichen Nachbarn Deutschlands suchte.
Vor diesem Hintergrund versuchte Bismarck, die im Umfeld der Einigungskriege so erfolgreiche Strategie der Kriegsdrohung wieder aufzunehmen, um Frankreich einerseits in seinen Revanchekriegsgelüsten zu disziplinieren und andererseits unter den europäischen Mächten zu isolieren. In der Krieg-in-Sicht-Krise des Jahres 1875 kulminierten diese Versuche – und scheiterten: Nachdem im März 1875 in Frankreich ein Gesetz erlassen worden war, das eine militärische Verstärkung zur Folge hatte, erschien am 8. April in der regierungsnahen Zeitung "Die Post" und wahrscheinlich mit Billigung Bismarcks ein Artikel unter der Schlagzeile "Ist der Krieg in Sicht?" Zwar hegte Bismarck – anders als viele führende Militärs – nicht die Absicht, einen Präventivkrieg gegen Frankreich zu führen. Aber der Fall eignete sich in seinen Augen vorzüglich, um vor allem die Reaktionen Englands und Russlands zu erproben und nebenbei auch Österreich-Ungarn die militärische Entschlossenheit des Reiches zu demonstrieren.
Doch die unmissverständlichen Reaktionen Russlands und Englands, einen ähnlichen Krieg wie den 1870 herbeigeführten keinesfalls zu dulden bzw. durch ihr Nichteingreifen überhaupt erst zu ermöglichen, führten dem Kanzler eines deutlich vor Augen: Die Option Krieg kam nicht in Frage, um die europäischen Machtverhältnisse zu beeinflussen und die Existenz des Deutschen Reiches zu sichern. Was folgte, war eine "Politik der relativen Selbstbescheidung" (Jost Dülffer), ja, die Entdeckung eines "Bewegungsgesetz(es), nämlich durch kontrollierte Benutzung machtpolitischer Rivalitäten Ausgleich zu schaffen und durch gezügelte Pflege internationaler Spannungen Frieden zu stiften". (Klaus Hildebrand) Das mag etwas zu idealistisch formuliert sein, charakterisiert aber den Grundcharakter der hegemonialen Sicherungsversuche in den 1870er und 1880er Jahre recht präzise.
Das Reich ist saturiert
Die neu gewonnenen Erkenntnisse zu erproben, boten die offene orientalische Frage – womit nichts anderes gemeint ist als der allmähliche Verfall des Osmanischen Reiches und die daraus resultierenden Gebietsansprüche der europäischen Mächte – und eine der vielen Balkan-Krisen eine erste Gelegenheit. Seit dem Sommer 1875 hatten Aufstände gegen die türkische Herrschaft auf dem Balkan zugenommen. Direkt betroffen waren hier aber auch die Interessen Russlands und Österreich-Ungarns und – nachdem der Zar am 24. April 1877 einen Krieg gegen die Türkei begonnen und am 3. März 1878 mit einem Diktatfrieden beendet hatte – auch englische Ambitionen zu berücksichtigen. Seit dem Krimkrieg (1853-1856), der ebenfalls als russisch-türkischer Krieg begonnen hatte und in dem schließlich der religiös instrumentalisierte Eroberungswillen Russlands auf den entschiedenen Widerstand Englands und Frankreichs gestoßen war, drohte jeder Konflikt in dieser Region zum europäischen Krieg zu werden.”
Otto von Bismarck in einer Rede vor dem Reichstag am 19. Februar 1878 im Hinblick auf den Berliner Kongress im Juni und Juli 1878
Ich habe eine langjährige Erfahrung in diesen Dingen und habe mich oft überzeugt: wenn man zu zweien ist, fällt der Faden öfter, und aus falscher Scham nimmt man ihn nicht wieder auf. Der Moment, wo man den Faden wieder aufnehmen könnte, vergeht, und man trennt sich in Schweigen und ist verstimmt. Ist aber ein Dritter da, so kann dieser ohne weiteres den Faden wieder aufnehmen, ja, wenn getrennt, bringt er sie wieder zusammen. Das ist die Rolle, die ich mir denke.
Aus: Otto von Bismarck, Gesammelte Werke (alte Friedrichsruher Ausgabe), 19 Bde., 1924-1933, Bd. 11, S. 526/27.
Die außenpolitischen Ambitionen Bismarcks konzentrierten sich auf die Erhaltung des europäischen Friedens, weil ein Krieg das Reich zerstören würde. "Wir haben", so führte er in einer Reichstagsrede am 11. Januar 1887 aus, "keine kriegerischen Bedürfnisse, wir gehören zu den – was der alte Fürst Metternich nannte: saturierten Staaten, wir haben keine Bedürfnisse, die wir durch das Schwert erkämpfen könnten." Das hieß allerdings nicht, dass das Schwert für den kommenden Krieg und für die Abwehr innerer ´Feinde` nicht scharf gehalten werden sollte. Noch unter Bismarck und von ihm unterstützt wurden in den Jahren 1887 und 1890 zwei Wehrvorlagen verabschiedet, die zusammen mit der von 1893 fast zu einer Verdoppelung der personellen Heeresstärke führten.
Die neue Außenpolitik
Nach der erzwungenen Abdankung Bismarcks (18.3.1890) erfolgte eine scharfe Wende in der deutschen Außenpolitik. Der junge, nach dem Tod seines Vaters und Großvaters inthronisierte Kaiser Wilhelm II. (15. Juni 1888) berief am 23. März 1890 den General der Infanterie Leo von Caprivi (1831-1899) zum neuen Reichskanzler. Mit ihm sollte ein "Neuer Kurs" in der Außenpolitik gefahren werden, der die als stagnierend wahrgenommene Diplomatie Bismarcks in Bewegung zu bringen hatte. Das vorhandene Bündnissystem wurde nun nach einem Wort des Historiker Klaus Hildebrands nicht auf seine Friedens-, sondern auf seine Kriegstauglichkeit hin beurteilt. Da sich die neue Führung aber mittlerweile einen Zweifrontenkrieg durchaus zu- und dem Zarenreich grundsätzlich misstraute sowie den Vertrag als unvereinbar mit den Prinzipien des Dreibunds interpretierte, ließ man den im März 1890 zur Verlängerung anstehenden Rückversicherungsvertrag auslaufen. Die Wendung gegen Russland sollte durch eine Annäherung an England und durch den Ausbau und die Stabilisierung des Dreibundes – vor allem durch Handelsverträge – ausgeglichen werden. Dies alles geschah zu einer Zeit, da global der Übergang zu einem forciert betriebenen Imperialismus unübersehbar geworden war. Nachdem Bismarck anfangs eher zögerlich die Einrichtung deutscher Schutzgebiete vor allem in Afrika (Deutsch Südwestafrika, Deutsch Ostafrika, Kamerun) unterstützt hatte, trat das imperialistische Weltmachtstreben auch in Deutschland bald immer deutlicher in den Vordergrund. Es ging in der Politik nach Innen mit einer zunehmenden Zentralisierung und Kartellbildung der prosperierenden Wirtschaft zusammen. Sie konnte vor allem ihr industrielles Produktionsvolumen binnen weniger Jahre bedeutend steigern.”
Unmittelbar nach dem Ausscheiden Bismarcks als Reichskanzler reflektierte am 25. März 1890 der Unterstaatssekretär des Äußeren, Maximilian Graf von Berchem, in einem Vermerk die Gründe, die zur Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Russland geführt hatten
Aus: Institut für Auswärtige Politik in Hamburg (Hg.), Die Auswärtige Politik des Deutschen Reiches 1871-1914, einzige vom Auswärtigen Amt autorisierte gekürzte Ausgabe der amtlichen Großen Aktenpublikation der Deutschen Reichsregierung. Leitung: Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme, Berlin 1928, Bd. I, S. 461/62.
Wilhelminismus und Weltpolitik
Der junge Kaiser, dessen vermeintlich "persönliches Regiment" der Epoche den Stempel aufdrückte, war nicht allein ein begeisterter Außenpolitiker, er engagierte sich auch von Anfang an auch für eine nach Expansion und Kolonialbesitz strebende Weltpolitik. Im Tagesgeschäft wurde er von den jeweiligen, für die Außenpolitik zuständigen Kanzlern und den Staatssekretären des Auswärtigen beraten und gelenkt. Zur unübertroffenen Meisterschaft darin brachte es Bernhard von Bülow (1849 – 1929), 1897 zum Staatssekretär des Äußeren und drei Jahre später zum Reichskanzler berufen. Namentlich in der Frage der Modernisierung und des Ausbaus der Kriegsmarine trafen von Bülow und der 1897 als Staatssekretär des Reichsmarineamts berufene Admiral Alfred von Tirpitz (1849 – 1930) beim marinebegeisterten Kaiser auf offene Ohren. Spätestens seit Mitte der 1890er Jahre blieb dessen außenpolitische Vorstellungswelt beherrscht vom Bau neuer Kriegsschiffe und einer offensiven Seestrategie. Er reagierte damit auch auf eine öffentliche Meinung und deren wachsende Bedeutung; vor allem in den bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Schichten des Kaiserreichs, den eigentlichen Trägern eines überschießenden Nationalismus, brach sich die ungehemmte Begeisterung für die neue Flottenpolitik Bahn, die gleichermaßen den Status der Weltmacht gegen England sichern wie ein Kolonialreich errichten sollte. Außenpolitisch führte die vom Kaiser gebilligte, von Bülow vertretene und von Tirpitz durchgeführte Flottenpolitik – die mit einer bis dahin unbekannten Mobilisierung der öffentlichen Meinung verbunden war - zu einer massiven deutsch-britischen Rivalität.”
Der ein Jahr später zum Staatssekretär im Reichsmarineamt ernannte Alfred von Tirpitz erläutert dem früheren Chef der Admiralität Albrecht von Stosch am 13.23.1896 die Motive der Flottenrüstung
Wollen wir aber gar unternehmen, in die Welt hinauszugehen und wirtschaftlich durch die See zu erstarken, so errichten wir ein gänzlich hohles Gebäude, wenn wir nicht gleichzeitig ein gewisses Maß von Seekriegsstärke uns verschaffen. Indem wir hinausgehen, stoßen wir überall auf vorhandene oder in der Zukunft liegende Interessen. Damit sind Interessenkonflikte gegeben. Wie will nun die geschickteste Politik, nachdem das Prestige von 1870 verraucht ist, etwas erreichen ohne eine reale, der Vielseitigkeit der Interessen entsprechende Macht? Weltpolitisch vielseitig ist aber nur die Seemacht. Darum werden wir, ohne daß es zum Kriege zu kommen braucht, politisch immer den kürzeren ziehen. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß England den Glauben wohl etwas verloren hat, daß wir unsere Armee zu seinen Gunsten gegen Rußland ins Feuer schicken. Umgekehrt kann England Rußland schon sehr erhebliche Konzessionen in Ostasien machen, wenn Deutschland die Zeche zahlt. In letzterem Umstand liegt die Gefahr, wenn wir z. Zt. in einen Konflikt verwickelt werden, der Rußland, Frankreich und England betrifft. Wenn wir auch sagen wollten, wir führen keinen Krieg wegen transatlantischer Interessen, so sagen dasselbe nicht anderen drei Staaten und so arbeiten wir fortgesetzt im politischen Nachteil. (…)
Aus: Ritter, Das Deutsche Kaiserreich, S. 301f.
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Der Schriftsteller Theodor Fontane schreibt in einem Brief an seinen Freund, den Amtsgerichtsrat Georg Friedländer, am 5. April 1897 über den Kaiser
Er ist ganz unkleinlich, forsch und hat ein volles Einsehen davon, daß ein Deutscher Kaiser was andres ist als ein Markgraf von Brandenburg. Er hat eine Million Soldaten und will auch hundert Panzerschiffe haben; er träumt (und ich will ihm diesen Traum hoch anrechnen) von einer Demüthigung Englands. Deutschland soll obenan sein, in all und jedem. Das alles – ob es klug und ausführbar ist, laß ich dahingestellt sein – berührt mich sympathisch und ich wollte ihm auf seinem Thurmseilwege willig folgen, wenn ich sähe, daß er die richtige Kreide unter den Füßen und die richtige Balancirstangen in Händen hätte. Das hat er aber nicht. Er will, wenn nicht das Unmögliche so doch das Höchstgefährliche, mit falscher Ausrüstung, mit unausreichenden Mitteln. (…)
Preußen - und mittelbar ganz Deutschland – krankt an unseren Ost-Elbiern. Ueber unseren Adel muß hinweggegangen werden; man kann ihn besuchen wie das aegyptische Museum und sich vor Ramses und Amenophis verneigen, aber das Land ihm zu Liebe regieren, in dem Wahn: dieser Adel sei das Land, - das ist unser Unglück und so lange dieser Zustand fortbesteht, ist an eine Fortentwicklung deutscher Macht und deutschen Ansehns nach außen hin gar nicht zu denken.
Aus: Theodor Fontane, Briefe, herausgegeben von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, 4 Bde., Bd. 4 (1890-1898), 642/43.
Dennoch gab es 1898 nochmals eine Chance zur Verständigung mit England. Der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain (1836 – 1914) unterbreitete dem deutschen Botschafter in London, Paul Graf von Hatzfeld (1831 – 1901), den "Wunsch" nach einem Vertrag mit dem Dreibund. Überzeugt, dass England sich weltpolitisch zu überheben drohte und deshalb nach Bündnispartnern suchen müsse, war das Angebot durchaus ernst gemeint. Doch es wurde von der deutschen Regierung nicht einmal ernsthaft geprüft. In der Wilhelmstraße war man fest davon überzeugt, die durch den angeblich unüberbrückbaren Gegensatz zwischen England und Russland garantierte und durch die kolonialen Konflikte zwischen England und Frankreich noch verstärkte außenpolitische Handlungsfreiheit beibehalten zu können.
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Aus der ersten Reichstagsrede des Staatssekretärs des Äußeren, Bernhard von Bülow, im Reichstag am 6.12.1897
Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen. (...)Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die deutschen Waaren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.
Aus: Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik. Hrsg. von Johannes Penzler, Bd. 1, Berlin 1907, S. 71.
Am Ende der Amtszeit Bülows war man auf der Einbahnstraße der selbst verschuldeten außenpolitischen Isolierung weit vorangekommen. Das noch Bismarck wie einen Alp belastende Schreckensbild eines Zweifrontenkrieges konnte Wirklichkeit werden. Und über den "Erbfeind" Frankreich und das zum absoluten Feindbild geronnene Zarenreich hinaus zählte nun auch Großbritannien, provoziert durch den deutschen Schlachtflottenbau, zu den möglichen Gegnern in einem großen europäischen Krieg. Dem neuen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856 – 1921) gelang es zwar im gemeinsamen Krisenmanagement mit England, die Balkankriege 1912/13 zu lokalisieren. Doch die Idee, die "Einkreisung" durch eine Flucht nach vorn in einen vermeintlichen Präventivkrieg aufzubrechen, gewann in Deutschland immer mehr Befürworter
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Nach dem Friedens- und Bündnisangebot durch den britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain an Deutschland im Januar 1901, vermerkte der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, der – seit ihn der Publizist Maximilian Harden so genannt hat – Inbegriff der "Grauen Eminenz", Friedrich von Holstein
Wir können warten, die Zeit läuft für uns. Ein vernünftiges Abkommen mit England, d.h. ein solches, wo der beinahe sicheren Kriegsgefahr, welcher wir uns dabei aussetzen, gebührende Rechnung getragen wird, läßt sich meines Erachtens erst dann erreichen, wenn das Gefühl der Zwangslage in England allgemeiner als heute geworden ist.
Aus: Johannes Hohlfeld (Hg.), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. 2 Bde., Bd. II, S.122
Ausgewählte Literatur:
Konrad Canis, Bismarcks Außenpolitik 1870-1890. Aufstieg und Gefährdung, Paderborn 2003Ders., Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 – 1902, Berlin 1997
Ders., Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902 – 1914, Paderborn 2011
Christopher Clark, Wilhelm II. – Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008 (2000)
Jost Dülffer, Hans Hübner (Hg.), Otto von Bismarck. Person – Politik – Mythos, Berlin 1993
Ders., Karl Holl (Hg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914, Göttingen 1986
Klaus Hildebrandt, Deutsche Außenpolitik 1871 – 1918, München 1994 (1989)
Ders., Das Vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871 – 1945, Stuttgart 1995
Andreas Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972
Rainer Lahme, Deutsche Außenpolitik 1890 – 1894. Von der Gleichgewichtspolitik Bismarcks zur Allianzstrategie Caprivis, Göttingen 1990
Wolfgang J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt am Main, Hamburg 1987 (1969)
Ders.: Großmachtstellung und Weltpolitik 1870-1914. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches, Berlin 1993
Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1973 (1969)
Gilbert Ziebura (Hg.), Grundfragen der deutschen Außenpolitik seit 1871, Darmstadt 1975 (Wege der Forschung, Bd. CCCXV)