Die gestaute Republik
Missglückter Generationswechsel und Reformstau als Voraussetzungen der Friedlichen Revolution
Das Gelingen der Friedlichen Revolution ist nicht allein dem mutigen Engagement der oppositionellen Gruppen in der DDR zu verdanken. Ermöglicht wurde es vor allem auch durch das Zögern und Zurückweichen der SED, wie Christian Booß in seinem Essay darlegt.Auch zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution wird wieder an die mutigen Männer und Frauen erinnert werden, die den politischen Umbruch 1989 angestoßen haben. Sofern solche Ehrungen den geschichtspädagogischen Impuls ausdrücken, dass gesellschaftliche Veränderungen hin zur Freiheit die Zivilcourage von Einzelnen oder Gruppen voraussetzen, ist nichts dagegen einzuwenden. Zweifelsohne liegt das Verdienst der Bürgerbewegten in der DDR darin, alternativ zum SED-Staat universelle Werte artikuliert, als Avantgarde mit Aktionen den Angstfaktor aufgeweicht, lokale Initiativen vernetzt, für die Zivilität der Proteste gesorgt und eine Kompromisskultur garantiert zu haben. Gerade die beiden letzten Faktoren sind angesichts der Bürgerkriegs-Turbulenzen im Nahen Osten, in Nordafrika und neuerdings der Ukraine nicht hoch genug zu würdigen.
Zurückweichen, nicht Implodieren
Als dominante Ursache für das Gelingen der Friedlichen Revolution greift der Blick auf die Bürgerrechtsbewegung aber zu kurz. Hier soll nicht der These der Implosion des SED-Staates das Wort geredet werden.[1] Gesellschaften und Staaten kollabieren nicht einfach so, immer sind Menschen beteiligt. Doch auch Darstellungen, die mehrere Faktoren auflisten - wie die ökonomische und geistige Krise, die Unbeweglichkeit der Gerontokratie, den Aufbruch in den Nachbarländern, die Bewegung in der evangelischen Kirche, die spezifisch deutsch-deutsche Situation und last, but not least Gorbatschows Perestroika - vernachlässigen allzu häufig, was sich in Teilen des Systems selbst abspielte.[2] Nicht selten wird in öffentlichen Diskussionen mit Lenins geflügeltem Wort, dass es dann eine revolutionäre Situation gibt, wenn "die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen" weggekalauert, dass das Zurückweichen "der da oben" eine der wesentlichen Bedingungen für das Gelingen der Friedlichen Revolution war.[3] Man muss demgegenüber auch differenzierter als bisher den Zustand der herrschenden SED selbst analysieren, nicht nur den Protest oder gar nur die Opposition.Nur wenig Protestpotenzial, aber viel (theoretisches) Unterdrückungspotenzial
Das Protestpotenzial in der DDR war im September 1989 kaum über das übliche Maß hinausgewachsen. Die Zahl der Oppositionellen war überschaubar. Der Staatssicherheitsdienst zählte 1989 etwa 60 Personen zu den "unbelehrbaren" Meinungsführern und rund 600 zu den "Führungsgremien" in den Gruppen – keine unglaubwürdige Schätzung. Das Potenzial der "Teilnehmer von Aktivitäten/Veranstaltungen", das bei Friedens- und Protestaktionen Ende der 1980er Jahre mobilisierbar war, umfasste demnach 2.500 Personen plus "Sympathisanten oder politisch Irregeleitete".[4] Den berühmten Gründungsaufruf des Neuen Forums, der zum gesellschaftlichen Dialog aufrief, hatten bis Ende September gerade einmal 5.000 Menschen unterschrieben.[5] Damit war das Protestpotenzial, wie es das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) aufaddiert hatte, ausgereizt. Die Mehrheit der DDR-Bürger verhielt sich noch abwartend. Für den Fall der Fälle hielt die Polizei aber 90.000 Haftplätze bereit.[6] Die Staatssicherheit bereitete nach einem Geheimplan noch einmal 85.000 Haftplätze für Oppositionelle und andere "unsichere Kantonisten" in Lagern vor.[7] Rein numerisch hätte das durchaus noch "ausgereicht", um die Volksbewegung zu unterdrücken.Von Leipzig springt der Funke über
Die Situation in Leipzig stellte daher auch eher eine Anomalie dar. Durch das Zusammenwachsen von Kirchenkreisen, Oppositionellen und Ausreiseantragstellern entwickelte sich hier die Montagsdemonstration zu einer neuen Protestform. Sie fanden seit September 1989 im Anschluss an die Friedensgebete statt, die seit Mitte der 1980er Jahre jeden Montag in der Nikolai-Kirche abgehalten wurden. Die Montagsdemonstration wurde als Modell und Ereignis zum "Motor der Revolution".[8] Die Leipziger Demonstrationen erhielten relativ früh erstaunlichen Zulauf aus der Region. So demonstrierten am 25. September bereits etwa 5.000 Menschen.[9]Doch der Funke sprang erst auf andere Städte über, als die SED "Schwäche" zeigte. Am 29. September wurde bekannt gegeben, dass die Flüchtlinge in den Botschaften der Bundesrepublik noch vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober ausreisen dürfen. Selbst in Leipzig überstieg die Zahl der Demonstranten erst nach dieser Ankündigung die Grenze von Zehntausend. Sie schwoll am 2. Oktober auf 20.000 an. Am Jahrestag der DDR-Gründung waren es 10.000, am 9. Oktober 70.000,[10] nach anderen Angaben sogar mehr als 124.000 Personen.[11]
Die quantitative Demonstrationsdynamik folgte am Anfang offenbar vor allem der Ausreise- und Fluchtdynamik.[12] Die ersten nennenswerten Proteste außerhalb von Leipzig, vor allem in Dresden, fanden dann auch anlässlich der Zugfahrten statt, mit denen die Botschaftsflüchtlinge am 4./5.Oktober durch Sachsen in die Bundesrepublik transportiert wurden. Stimulierend wirkte auch der relative Rückzug der SED, als am Morgen des 9. Oktober in Dresden das erste Dialoggespräch mit Demonstrationsvertretern, der sogenannten Gruppe der 20, stattfand.[13] Am Gründungsfeiertag selbst waren die beachtlichen Demonstrationen von über 10.000 Personen in Plauen und anderen Städten durch die Ereignisse um die Botschaftsflüchtlinge, die provozierenden Feierlichkeiten der SED und den Besuch des sowjetischen Hoffnungsträgers Gorbatschow angefeuert worden.[14]
Konflikte innerhalb der SED
Die SED-Funktionäre in Leipzig und Dresden, die wie Hans Modrow und Wolfgang Berghofer mit den Demonstranten sprachen, wurden in der Berliner SED-Zentrale mit den Worten "Verräter" und "Kapitulanten" bedacht. Diese Worte belegen die wachsende Entfremdung zwischen unterschiedlichen Gruppierungen des SED-Führungspersonals.[15]Erst nach dem Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober stieg die Beteiligung an den Demonstrationen auch außerhalb der drei sächsischen Bezirksstädte bedeutend an. Die Teilnehmerzahlen nahmen nach der Maueröffnung zwar ab, es blieb aber ein fester Kern von Aktiven. Erst nach dem Sturz von Egon Krenz und dem Politbüro Anfang Dezember ging die Zahl der Demonstrationen nennenswert zurück.[16] Die Proteste in Sachsen wuchsen also in dem Maße, in dem die SED zurückwich.
Lenin soll einmal gesagt haben, dass die Deutschen sich eine Bahnsteigkarte kaufen würden ehe sie einen Bahnhof stürmten. Es scheint, als hätte die Mehrheit nur darauf gewartet, dass Egon Krenz ihnen diese Bahnsteigkarte aushändigte. Die Aufforderung zum Dialog durch die SED in paradoxer Paarung mit einem gleichzeitig unzureichenden Dialogangebot stimulierten offenbar das Protestverhalten, bis Krenz und Co. schließlich vertrieben wurden. Ob das dargelegte Protestverhalten für die gesamte DDR zutrifft, müsste genauer untersucht werden.[17] In Ostberlin kam es erst wieder am 4. November zu einer Großdemonstration, bei der Theatermacher, Teile der SED und der Opposition gemeinsam auftraten, wo sich also Protestpotenzial und Dialogangebot trafen.[18]
Agonie der Staatspartei
Damit stellt sich die Frage nach der Rolle der SED in der Friedlichen Revolution. Als Staatspartei war sie durch die jahrelange Unterdrückung der Freiheitsrechte diskreditiert. Dieses bestätigte sich zu Beginn der Revolution noch einmal. Daher wurde der SED und ihren Funktionären in Revolutions- und Oppositionsdarstellungen vor allem die Rolle des Gegenparts, Unterdrückers und bestenfalls die des Bremsers zugebilligt.[19]Dabei liegt es auf der Hand, dass gerade die Agonie der Staatspartei, ihr Zögern und widersprüchliches Handeln, eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für den Erfolg der Revolution war. Es reicht kaum aus, nur auf den Starrsinn der gesundheitlich angeschlagenen alten Männer im Politbüro zu schauen. Zur Selbstblockade gehörten auch die Funktionäre in der zweiten und dritten Reihe. Die, die wollten, sich aber nicht trauten. Und die, die konnten, aber nicht wollten. Die Geschichte der Friedlichen Revolution ist auch eine Geschichte verpasster Reformchancen im Herrschaftsapparat und eines gescheiterten Generationswechsels.
Die Greise an der Spitze von Partei und Staat

Alle stammten aus dem Arbeitermilieu der Vorkriegszeit. Die Politik, nicht Bildung und berufliche Karrieren im engeren Sinne, hatten sie an die Hebel der Macht gebracht. Sie waren abgehärtet durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus und Stalinismus. Ihre Ausbildung hatten sie größtenteils an Parteieinrichtungen in Deutschland und der Sowjetunion erworben. Diese Gruppe verkörperte die erste Aufbaugeneration der DDR, die die Macht mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmächte ergriffen und festgehalten hatte und nun nicht wieder abgeben wollte. Vielleicht war es gerade ihr Wissen darum, dass ihre Volksdemokratie eine Mogelpackung war, das sie hinderte, rechtzeitig loszulassen und Jüngeren den Weg freizumachen. Die Angst vor dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war noch 1989 präsent.
Derartiges Spitzenpersonal saß wie ein Pfropfen auf Institutionen, die zudem durch systemnahes Personal aus den unterschiedlichen Kohorten der DDR-Generationen geprägt waren. Menschen, relativ angepasst, die in bescheidenem und verhältnismäßig sicherem Wohlstand aufgewachsen waren und die Vorteile des DDR-Bildungssystems genossen hatten. Viele, die in Positionen auf der mittleren Leitungsebene gelangten, hatten eine politisch geprägte, aber dennoch fachlich anspruchsvolle Universitätsausbildung hinter sich. Fachleute mit SED-Parteibuch mussten sich jedoch auch im 40. Jahr der DDR der Letztentscheidung von Arbeiterfunktionären beugen.
Vergleicht man Aufsätze des Altkaders Klaus Sorgenicht mit Aufsätzen von Rechtsprofessoren der Universitäten oder von Richtern des Obersten Gerichtes in den juristischen Fachzeitschriften ‚Neue Justiz‘ oder ‚Staat und Recht’ wird dieses Phänomen deutlich. Sorgenicht (Jg. 1923) war lange Jahre als Abteilungsleiter im ZK für Rechtsfragen zuständig. Sein juristisches Wissen hatte er an der Moskauer Parteihochschule der KPdSU und in einem Fernstudium an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam erworben. Bei allen gravierenden Mängeln, die das DDR-Rechtssystem aufwies, wirken die Aufsätze der Fachjuristen filigran gegenüber den ideologisch grobschlächtigen Ausführungen des Apparatschiks Sorgenicht zur Klassenfrage in der DDR-Fachzeitschrift ‚Neue Justiz‘. Noch in den 1970er Jahren zog er gegen "revisionistische Lehren", das war das Vokabular der 1950er Jahre, zu Felde, die "der Konterrevolution in den sozialistischen Ländern die Tore […] öffnen."[22] Besser kann man die kulturelle und intellektuelle Kluft innerhalb der Apparate kaum illustrieren.
Die Zweite Garde
In der politischen Herrschaftsriege "darunter" sah es nicht besser aus. Die Ersten Sekretäre der 15 SED-Bezirksleitungen waren alle im Vorkriegsdeutschland geboren, der älteste 1919 (Hans Albrecht, Suhl). Die meisten waren 60 Jahre oder älter, fünf waren 1989 im Rentenalter, die Jüngsten 1930 geboren (Christa Zellmer, Frankfurt; Günter Jahn, Potsdam; Siegfried Lorenz, Karl-Marx-Stadt). Der Altersdurchschnitt lag bei 62,6 Jahren.[23]Die teilweise selbst schon überalterten Personen waren die ‚geborenen‘ Nachrücker für das Politbüro oder andere Spitzenfunktionen im SED-Staat. Dass ein Funktionär wie Hans Albrecht 21 Jahre auf seinem Posten in Suhl gesessen hatte, mochte jüngeren Funktionären aus der Reihe der Kreissekretäre der SED wenig Hoffnung auf baldige Beförderung und entscheidende Personalveränderungen machen. Die obere Nomenklatura war auf lange Zeiträume und Kontinuität eingerichtet, nicht auf Krisen, Dynamik und Reformen. Das nach den Rhythmen der Parteitage, also in 5-Jahresplänen, getaktete Nomenklatursystem[24] musste unter Druck kommen, als die DDR spätestens Mitte 1989 von der Krise erfasst wurde.

Je mehr sich die Krise im Spätsommer und Frühherbst 1989 zuspitzte, desto mehr musste die erste vollständig in der DDR sozialisierte Generation unter den Spitzenfunktionären befürchten, dass die beiden Generationen vor ihnen alles "in den Sand setzen" und damit auch ihre persönliche politische Zukunft gefährden würden. Aber auch sie befanden sich in dem geschilderten Dilemma: Einerseits durften (und wollten) sie nicht zu früh starten, sonst hätten die Alten ihre Karriere noch jäh beendet. Andererseits durften sie nicht zu lange warten, wenn sie nicht alles aufs Spiel setzen wollten. Aus dieser Gemengelage zwischen den Generationen an der Spitze entstand letztlich dieses Hin und Her, das in entscheidenden Augenblicken wechselweise zu Überreaktionen und Lähmung führte. Allerdings hatten die unterschiedlichen Gruppierungen das gemeinsame Ziel, die Revolution letztlich einzudämmen. Nur die Mittel waren verschieden.
Betonköpfe
Bei der Fälschung der Kommunalwahlen im Mai 1989 war die alte Welt der SED noch in Ordnung. Kein namhafter Funktionär begehrte wirklich gegen die Fälschung der Kommunalwahlen auf. Ein Kreissekretär wie Heinz Vietze (Jg. 1947) in Potsdam schüchterte kritische Nachfrager nach Erinnerung ehemaliger Genossen sogar ein.[26] Noch im Frühsommer 1989 versuchte der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung in der damaligen Bezirksparteischule die Basis auf eine martialische Linie einzustimmen: "[...] wir haben keinesfalls die Absicht, uns in den Klassenkämpfen in den Schützengräben zu verkriechen [...] In dem Moment, wo der Klassengegner zum offenen Kampf übergeht, diskutiere ich nicht über das Niveau der Schützengrabenzeitung, sondern gehe in den Kampf. Der Gegner hat [dafür] das Diffamierungswort ‚Betonköpfe’ erdacht. Doch [...] ich sage, lieber ein Betonpfeiler, an dem die Feinde zerbrechen, als eine weiche Birne, die an der Politiknaivität zerschellt."[27]Am Republikfeiertag, dem 7. Oktober 1989, schlug die Potsdamer Kreispolizei im politischen Verantwortungsbereich des ersten Kreissekretärs Vietze noch wahllos auf Demonstranten ein und ließ Dutzende festnehmen. Vietze argumentierte noch 1999, die Polizei habe nur das Volksfest zum Republikfeiertag schützen wollen.[28] Doch Vietze, ein intellektuell eher durchschnittlicher und provinzieller Typ, aber ein gewiefter Taktiker, gehörte schließlich zu den SED-Funktionären, die sich auf die Entmachtung Honeckers hin orientierten. Da von der Massenfestnahme im Potsdamer Kessel auch Kinder von Funktionären und Ausländer betroffen waren, musste der Kreissekretär letzten Endes der Freilassung aus dem Zuführungspunkt zustimmen. Vietze war einer der ersten, die mit Vertretern der verfemten Oppositionsgruppe Neues Forum die sogenannten Rathausgespräche führten.[29] Er beerbte dank der Krenzschen "Wende" seinen Ersten Bezirkssekretär. Schließlich gehörte er zu jenen jüngeren Funktionären, die nach Berlin fuhren, um das Ende von Krenz und seinem Politbüro zu fordern, als sich der Volkszorn nicht eindämmen ließ.[30] Vietze, der seit FDJ-Zeiten unter seinesgleichen in dieser Altersgruppe in der DDR gut vernetzt war, saß schlussendlich Anfang Dezember im Arbeitsausschuss der SED. Dieses Gremium übernahm in einer wilden Übergangsphase, in der die SED zur SED-PDS mutierte, die Rolle von Zentralkomitee und Politbüro der SED. In der Rede Vietzes auf dem Umwandlungsparteitag Anfang Dezember 1989 ist viel vom Erhalt des Apparates die Rede, wenig von programmatischer Erneuerung.[31]
Palastrevolten
Vietze war ein Exponent der dritten und vierten Reihe der SED, die durch Schachzüge oder Basisrevolten im November die alten Ersten Bezirkssekretäre ersetzten. Der Altersdurchschnitt fiel von etwa 66 auf 47 Jahre, was den Generationswechsel verdeutlicht.[32] Allerdings waren vier schon vorher Bezirkssekretäre und fünf waren Erste Kreissekretäre gewesen.[33] Wie viele von den Jüngeren schon in den Kaderprognosen für höhere Positionen der SED gesetzt waren, ist bislang nicht nachvollziehbar. Die SED hat diese Kaderunterlagen vermutlich noch 1990 unter dem neuen Vorsitzenden Gregor Gysi vernichtet.[34] Auch wenn die Personalentscheidungen die Berliner Ebene um Egon Krenz oft überrollten,[35] dürfte es einige ohnehin geplanten Karrieren gegeben haben. Bei Vietze ist das offenkundig. Die Palastrevolte beschleunigte nur eine Beförderung, die ohnehin vorprogrammiert war.Eine intellektuell wendigere Variante von Heinz Vietze war Roland Wötzel (Jg. 1938). Der Jurist und ehemalige SED-Bezirkssekretär für Wissenschaft und Erziehung in Leipzig wurde als einer der "Leipziger Sechs" bekannt. Zusammen mit dem Gewandhauschef Kurt Masur warfen sie ihren Namen für ein friedliches Ende der Montagsdemonstration am 9. Oktober in die Waagschale. Wötzel rückte dann im November zum Ersten Sekretär der SED auf und saß schließlich auch im Arbeitsausschuss der SED.
Dieser Arbeitsausschuss aus der Zeit der SED nach Egon Krenz verkörpert wie kein anderes Gremium die Funktionärsgeneration im Wartestand. 60 Prozent waren in den 1940er Jahren oder danach geboren, also politisch bewusst erst in der DDR aufgewachsen. Ältere verdankten ihre Zugehörigkeit zu diesem Gremium meist einem Karriereknick im alten System, was sie als Erneuerer zu prädestinieren schien.[36]
Diese Frondeure wollten noch ihren Staat retten, trugen aber durch ihre Palastrevolten zur Dynamisierung der Revolution und zum Untergang der DDR bei. Sie mussten zwar Machtverluste im Vergleich zu den Positionen hinnehmen, die ihnen beim Weiterbestehen der DDR gewinkt hätten. Es gelang ihnen aber, die SED vor dem Untergang zu retten, was im Dezember 1989 keine Selbstverständlichkeit war.[37] Das ermöglichte manchem aus dieser Generation zumindest, seine Politkarriere fortzusetzen. Heinz Vietze zum Beispiel war lange Jahre der ranghöchste SED-Kader in einem Landesparlament. Er war von 1990 Mitglied des Landtages von Brandenburg, seit 2004 sogar Mitglied des Präsidiums. Von 2007-2012 war er Vorstandsvorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung.[38] Gregor Gysi, der gegen Ende der DDR als Nomenklaturkader die Anwaltschaft der DDR repräsentierte, führt bekanntermaßen heute die größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag an.
Eher mangelnde Vorstellungskraft als Unfähigkeit
Angesichts des Kollaps‘ der DDR wird in der Regel die Unfähigkeit der SED-Führung zur Reform betont.[39] Unter diesem Blickwinkel bleibt jedoch die Frage auf der Strecke, ob es auf den mittleren und unteren Rängen überhaupt Vorstellungen zu möglichen Veränderungen gegeben hat. Und ob nicht die geringe Widerstandkraft des Systems auch damit zusammenhing, dass viele zwar wussten, dass es eben so nicht weitergehen konnte, aber ausgebremst wurden, wenn sie etwas verändern wollten.Für die Einsicht, dass man in der Wirtschaft nicht wie bislang weitermachen konnte, benötigte man kein Volkswirtschaftsstudium: Der Blick in relevante Industriebetriebe zeigte, wie verschlissen die Anlagen waren.[40] Westberliner Smogalarme indizierten die Emissionen im Süden der DDR. Ganze Altstädte verfielen, die Wohnungsfrage war mitnichten gelöst, die schnell hochgezogenen Plattenbauten zeigten offenkundige Baumängel. Straßen waren nicht nur in der Provinz holprig, Gehwege in Dörfern zum Teil gar nicht gepflastert, manche Eisenbahnhauptlinie seit der Demontage durch die sowjetische Besatzungsmacht nach dem Kriegsende nach wie vor einspurig. Es war mehr Geld als Ware im Umlauf, die D-Mark praktisch eine Zweitwährung. Dies alles waren Zeichen, dass die Entwicklung stagnierte oder sogar rückwärts lief.
Reformvorschläge innerhalb der SED verhallen ungehört
In Vorbereitung des XII. Parteitages der SED hatten Wirtschaftswissenschaftler interne Diskussionen begonnen, die freilich vom zentralen Parteiapparat gedeckelt wurden. Doch ohne derartige Vorüberlegungen wäre es kaum denkbar gewesen, dass ab Anfang November Wirtschaftswissenschaftler in DDR-Zeitungen Position bezogen und Tabuthemen wie die Gleichbehandlung von Eigentumsformen, den Abbau von Planung und Bilanzierung, die Selbstständigkeit der Betriebe, Gewerbefreiheit, Preisreform, Kooperation mit westlichen Firmen bis hin zum joint venture anschnitten. In der Summe liefen ihre Reformvorschläge auf eine deutliche Stärkung marktwirtschaftlicher Elemente hinaus.[41]Auch manche Kombinats- und VEB-Direktoren hatten schon vorher vorsichtig jüngere Mitarbeiter und Genossen in ihren Betrieben ermuntert, sich Gedanken über einen Umbau zu machen. Zu ihnen gehörte auch Richard Schimko. Der Forschungsdirektor im Berliner Werk für Fernsehelektronik (WF) hatte zugleich als SED-Volkskammerkandidat einen gewissen Parteistatus inne.[42] Er ließ seinen Ingenieuren und den Mitgliedern der Parteiversammlung schon vor 1989 einen gewissen Freiraum für kritische Diskussionen. Es ist insofern kein Zufall, dass an einer der kritischsten Parteiströmungen auch zwei ehemalige Parteisekretäre der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des WF beteiligt waren. Die sogenannte WF-Plattform, in der Parteikritiker aus dem WF, dem Rundfunk und der Akademie der Wissenschaften zusammenarbeiteten, stand für eine radikale Erneuerung der SED bis hin zur Auflösung und Neugründung einer sozialistischen Partei.[43] Dieser Ansatz wurde von den Machtstrategen des Arbeitsausschusses der SED durchkreuzt, der SED-Parteitag vorgezogen, die Partei 1989/90 mit Mitgliedern, Personal und Vermögen zur SED-PDS umgewandelt.
In verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen lassen sich Reformvorschläge durch Fachleute nachweisen. Teilweise wurden sie sogar von Funktionären der mittleren oder regionalen Ebene unterstützt, aber letztlich nie realisiert. In den Unterlagen zu den Deponien für den "West-Müll" im Bezirk Potsdam finden sich zum Beispiel Pläne zur Sanierung der sogenannten Westmülldeponie. Es sollte verhindert werden, dass Giftmüll aus Westberlin das Grundwasser im Havelland verseuchte. Dieser Sanierungsplan wurde erst nach der deutschen Einheit von der Brandenburgischen Landesregierung realisiert. Beteiligt waren DDR-Fachleute, die schon vor 1989 vor der Wasserverschmutzung gewarnt hatten. Vor 1989 waren die Pläne daran gescheitert, dass die Deviseneinnahmen aus den Westmülldeponien nicht für den Umweltschutz reinvestiert, sondern an den defizitären zentralen Staatshaushalt abgeführt werden mussten.[44]
Unzufriedenes MfS
Selbst in Bereichen der inneren Repression herrschte Unzufriedenheit mit Honeckers Politik. Einerseits setzte das MfS zur Abschreckung der Ausreisebereitschaft auf Kriminalisierung und Haft. Andererseits durchkreuzte Honecker diese Strategie immer wieder, indem er aus Gründen des internationalen Prestiges und der ökonomischen Abhängigkeit vom Westen Strafverfahren und Haftstrafen kassierte, milderte oder durch Freikauf und Entlassungen in den Westen faktisch eine Amnestie gewährte. Der Chef der Untersuchungshauptabteilung des MfS, der für die Vorbereitung der politischen Prozesse zuständig war, beklagte schon 1987, dass Gefängnisstrafen durch den Freikauf "ihrer abschreckende Wirkung gegenüber hartnäckigen Übersiedlungssuchenden weitergehend" beraubt worden waren.[45] Die Untersuchungsführer des MfS reagierten unterschiedlich auf diese Diagnose. Die Traditionalisten wollten am liebsten alte tschekistische Praktiken verstärken. Aber einige, besser ausgebildete Modernisierer schlugen einen anderen Weg vor. Die abschreckenden Gesetze gegen Fluchten sollten zwar erhalten blieben. Aber ansonsten bei Ausreisekandidaten nur noch solche Straftaten verfolgt werden, die international anerkannt waren, um dadurch die Akzeptanz der DDR zu stärken. Von dieser Position war es bis zur Forderung nach einer Entrümpelung des (politischen) Strafrechts gar nicht so weit.[46]Letzter Versuch: Sozialistischer Rechtsstaat
Hinter den Kulissen herrschte unter Juristen ohnehin ein Streit zwischen denen, die das 1988 eingeführte Schlagwort vom "sozialistischen Rechtsstaat" nur als ein Etikett ansahen und jenen, denen es um eine Verbesserung der Menschenrechtssituation und ein Mehr an Rechtsstaat ging. Manche dieser Diskussionen führten in direkter Linie zum 6. Strafrechtsänderungsgesetz von 1990, das die freigewählte Volkskammer kurz vor der deutschen Einheit verabschiedete.[47] Es gab vor der Friedlichen Revolution freilich Tabus - die Grenze, den § 213 (Republikflucht), informelle Ermittlungsmethoden des MfS, die Prärogative der Partei, den Sozialismus als Staatsziel -, die keiner der systemimmanenten Diskutanten zu berührten wagte und vielleicht auch gar nicht berühren wollte. Insofern spielten sich diese Diskussionen innerhalb von Grenzen ab, die die Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptierte.Das wird deutlich an Positionen des Diskussionszirkels für einen modernen Sozialismus an der Humboldt-Universität. Eine Exponentin, die Juristin Rosemarie Will, plädierte zwar für eine größere Offenheit und Normentreue bei juristischen Entscheidungen, sie verwehrte sich aber gegen einen Pluralismus, der nicht an die Verfassungsziele des Sozialismus gebunden gewesen wäre. Konsequent plädierte sie im Oktober 1989 für eine Legalisierung der Sammlungsbewegung Neues Forum. Parteien, wie die neu gegründete sozialdemokratische SDP, sollten jedoch auf "Verfassungsfeindlichkeit" überprüft werden: "Der Staat darf und muss die Tätigkeit unterbinden, wenn Verfassungsfeindlichkeit vorliegt", argumentierte sie.[48] Diese Denkfigur hätte es noch in der Krenz-Ära erlaubt, eine juristische, verfassungsmäßig abgestützte Kriminalisierung von Gruppierungen wie der sozialdemokratischen SDP durchzusetzen, deren Programmatik dem Sozialismusgebot und der führenden Rolle der Partei der Werktätigen zuwider lief.[49]
Fazit: Selbstblockade
Es ist fraglich, ob und wann die im Staats- und Parteiapparat diskutierten Reformen überhaupt eine Chance auf Realisierung gehabt hätten. Der Machtblock der Altvorderen aus der Aufbaugeneration stand davor. Als einen sich aufstauenden, aber in seiner politischen Entfaltung gleichwohl nachhaltig blockierten Unmut beschreibt ein SED-Insider die Situation vor dem Herbst 1989.[50] Die SED "entbehrte weithin einer konzeptionellen Basis und eigener, verinnerlichter programmatischer Identität." Man sollte lieber deutlicher von Selbstblockaden dieser SED-Zirkel sprechen, auch weniger von "Reformern" als vorsichtiger von "Nicht-Dogmatikern" oder bestenfalls "Modernisierern" in der SED.Die Rolle dieser "Nicht-Dogmatiker" in der SED sollte weder quantitativ noch inhaltlich überschätzt werden. Sicher gab es so etwas wie eine "Basisbewegung" innerhalb der SED und auch eine "Basisrevolte".[51] Diese wurde aber so spät sichtbar und nur bedingt handlungsmächtig, dass sie im Gesamtprozess der Umwandlung der DDR eher eine "Nachhut" denn eine "Avantgarde" war.[52] Nichtsdestotrotz kam ihr im November und Anfang Dezember 1989 eine wichtige Rolle dabei zu, die SED und ihre Herrschaft weiter zu schwächen. Insofern stimulierten diese Basisrevolten die Friedliche Revolution und halfen gleichzeitig, sie abzusichern.

Anders als in anderen klassischen Revolutionen brach keine Region, keine offizielle Institution (abgesehen vor der Kirche) wirklich rechtzeitig aus dem System Honecker aus. Das Einlenken der Modrows, Berghofers und Wötzels in Dresden und Leipzig bleibt verdienstvoll, weil es das Risiko einer Eskalation der Gewaltspirale entscheidend minderte. Als Angebot der SED für die breite Bevölkerung kam es ebenso zu spät wie die Krenzschen Aktions- und Erneuerungsprogramme. Das System Honecker in der kleinen DDR war so hermetisch, dass alle Verantwortungsträger bis zum Schluss mitmachten, obwohl viele wussten, dass es so nicht weitergehen konnte. So funktionierte das System irgendwie weiter, während es gleichzeitig mangels wirklicher Überzeugtheit unterspült wurde. So kollabierte es vergleichsweise schnell, als durch den aufgestauten Bürgerunmut von einem Tag auf den anderen neue Spielregeln galten.
Zitierweise: Christian Booß, Missglückter Generationswechsel und Reformstau als Voraussetzungen der Friedlichen Revolution, in: Deutschland Archiv, 11.8.2014, Link: http://www.bpb.de/189455