Der Zusammenbruch des SED-Regimes geschah nicht plötzlich, sondern in Folge einer Entwicklung, die mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 ihren vorläufigen Höhepunkt fand.
Der Zusammenbruch des SED-Regimes bereitete sich somit langfristig vor. Die mangelnde Legitimität des politischen Systems, die bereits von Anfang an ein Problem gewesen war, die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten, die vor allem im Vergleich zur Bundesrepublik immer deutlicher hervortraten, und schließlich das Reformdefizit der DDR innerhalb des Ostblocks seit Gorbatschows Machtantritt 1985 waren die maßgeblichen Ursachen für die Krise, aus der es seit dem Frühjahr 1989 kaum noch einen Ausweg gab. Eine steigende Zahl von Ausreiseanträgen, aber auch die zunehmende Fluchtbewegung aus der DDR dokumentierten am Ende der achtziger Jahre den inneren Zustand eines Regimes, das seit 1945 primär von außen - durch die Sowjetunion - stabilisiert bzw. überhaupt erst am Leben erhalten worden war und sich nun in einer veränderten Umwelt plötzlich alleine behaupten sollte. Auch wenn nur wenige dies am Beginn des Wendejahres erkannten oder wahrhaben wollten: Die DDR stand kurz vor ihrem Kollaps.
Grenzöffnung durch Ungarn
Wesentlichen Anteil an der Zuspitzung der Situation hatte Ungarn, das im Ostblock mit seinen Wirtschaftsreformen schon seit den sechziger Jahren stets eine Sonderrolle gespielt hatte und sich seit Mitte der achtziger Jahre immer mehr nach Westen öffnete. Anfang 1989 erreichten die ungarischen Reformen schließlich ein Stadium, in dem offen eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Ländern angestrebt wurde. Dazu gehörte, dass die Regierung in Budapest versprach, internationale Vereinbarungen wie die UN-Menschenrechtskonvention nach Geist und Buchstaben einzuhalten und sie nicht länger auf einseitig östliche Weise zu interpretieren.
Als ungarische Soldaten am 2. Mai 1989 nahe der Ortschaft Köszeg an der Grenze zu Österreich mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus begannen, war dies ein revolutionärer Vorgang: Ungarn kündigte damit die Solidarität der Ostblockstaaten bei der Abriegelung des kommunistischen Herrschaftsbereichs gegenüber dem Westen auf. Zum ersten Mal seit 1945 wurde das Prinzip des "Eisernen Vorhangs" grundsätzlich in Frage gestellt.
Die Versicherung von DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler gegenüber dem SED-Politbüro am 4. Mai, dass es sich dabei nach Mitteilung aus Budapest lediglich um "technische Maßnahmen" handele, von denen die eigentlichen Grenzkontrollen nicht betroffen seien, wurde daher der wahren Bedeutung des Ereignisses nicht gerecht. Obwohl man, wie Politbüromitglied Günter Schabowski berichtet, im Politbüro durchaus ahnte, welche Sprengkraft in dem Vorgang lag, zog man es vor, sich selbst zu beschwichtigen. Und Keßler lieferte dabei das Alibi mit seiner aufmunternden Behauptung, dass Bürger der DDR, die über Ungarn in den Westen zu fliehen versuchten, auch künftig von ungarischen Grenzern daran gehindert würden.
Sorgen bereitete in Ostberlin jedoch die Tatsache, dass es sich bei der Grenzöffnung gegenüber Österreich um eine alleinige ungarische Entscheidung gehandelt hatte. Die DDR-Führung war nicht konsultiert worden und wurde auch über mögliche weitere Schritte im Unklaren gelassen. "Erschrocken und hilflos", so Schabowski, habe man beobachtet, "wie der sozialistische Block in die Brüche ging". Die Flüchtlingszahlen stiegen. Aus Einzelfällen wurde langsam ein Rinnsal und bald ein Strom. Beim Verfall der SED-Macht wirkte Ungarn als Katalysator.
Kommunalwahlen
Dennoch hielt die SED-Führung weiter an ihrem starren Kurs der Reformverweigerung fest, wie sowohl ihre Manipulation der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 als auch die demonstrative Unterstützung der chinesischen Regierung nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) in Peking am 4. Juni 1989 zeigten. Dort war eine Studentenrebellion gegen das totalitäre Regime von der chinesischen Volksbefreiungsarmee blutig niedergeschlagen worden. Während die durch die Wahlfälschung erzielten Resultate die Zustimmung der Bevölkerung zum SED-Regime unterstreichen sollten, war der Schulterschluss mit den repressiven Kräften in China offenbar ein Signal an innenpolitische Gegner, wie man auch in der DDR mit umstürzlerischen Elementen umzugehen gedachte, wenn diese zu einer ernsthaften Bedrohung für die Regierung werden sollten.
Im Vorfeld der Kommunalwahl war man sich im Politbüro einig gewesen, dass die "Superprozentsätze" früherer Wahlen - 99-Prozent-Zustimmung - diesmal kaum erreichbar seien, da das Übergreifen des Demokratisierungsprozesses aus Osteuropa und das Anwachsen der Opposition in der DDR ihren Tribut fordern würden. Sogar fünf Prozent Gegenstimmen gegen die Kandidaten der Nationalen Front wurden für möglich gehalten. Doch als die Stimmen am 7. Mai ausgezählt waren, schwelgte die SED-Führung wieder in Euphorie. Egon Krenz, der Vorsitzende der Wahlkommission, gab bekannt, dass erneut 95,98 Prozent der Stimmen auf die Kandidaten der Nationalen Front entfallen waren. Im gesamten Land habe es nur 142.301 Gegenstimmen gegeben. Erich Honecker nannte das Ergebnis "ein eindrucksvolles Bekenntnis zu der auf Frieden und Sozialismus gerichteten Politik der SED".
Kaum jemand in der SED-Führung bezweifelte, dass die Wahlen wie eh und je manipuliert worden waren. Schabowski bekannte später, dass diese Wahl sich in keiner Weise von früheren Wahlen unterschieden habe und dass in der DDR in der Vergangenheit jede Wahl manipuliert worden sei. Sie seien "nun einmal in dieser Art organisiert (gewesen), ohne besondere Anweisungen, automatisch, wie die großen Demonstrationen".
Doch diesmal wurde das Ergebnis, das die Regierung verkündet hatte, nicht mehr einfach hingenommen. Viele erhoben amtlich Einspruch. Gerüchte, dass die Regierung die Wahldokumente gefälscht habe, um die erwünschten Resultate zu erhalten, machten die Runde. Oppositionsgruppen gingen daran, die Manipulationen aufzudecken. Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, wurde mit Berichten über "Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte", die versuchten, "Beweise über eine angebliche Fälschung der Wahlergebnisse" zu erbringen, regelrecht bombardiert. Mielke wies deshalb die Sicherheitsorgane an, jeden Bürger, der sich über die Inkorrektheit des Wahlverfahrens beschwere, darüber zu informieren, dass "keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen".
QuellentextWahlfälschungen
Die Wahlen am 7. Mai waren manipulierte und gefälschte Wahlen. Manipulation war immer am Werke: Denn wer eine Einheitsliste vorgelegt bekommt, kann nicht zwischen Kandidaten wählen. Wenn die Liste im Vorfeld der Wahlen, als Vorschlag der denkbar besten Kandidaten für die denkbar beste, die sozialistische Sache empfohlen wird, dann ist eine Entscheidung dagegen im Grunde als ein Votum gegen den Sozialismus qualifiziert. Wenn in den Medien die offene Abstimmung propagiert wird, wenn Wähler öffentlich erklären, sie würden keine Wahlkabine benutzen, dann werden viele ihr Wahlverhalten danach einrichten. Wer dennoch die Wahlkabine benutzt, macht sich fast schon als Gegner verdächtig. Er ist registrierbar. Ebenso ist jedes Nichterscheinen zur Wahl als Gegnerschaft oder als Protest auszumachen. [...] Mir schwebte dabei als möglicher Tatort für Unkorrektheiten das Wahllokal vor. Ich warnte davor, bei der öffentlichen Auszählung irgendwelche faulen Tricks zu veranstalten. Wir hatten Kenntnis davon, nicht zuletzt durch Berichte der Staatssicherheit, dass die Opposition den Wahlvorständen diesmal besonders scharf auf die Finger sehen würde. Ohne mein Wissen und folglich ohne meinen Auftrag waren allerdings schon Tage zuvor bei den Bürgermeistern der Stadtbezirke Abgesandte des Magistrats, bis hinauf zu einem Stellvertreter des Oberbürgermeisters, erschienen, um anhand aller bis dahin vorliegenden Erkenntnisse über die Wählerstimmung eine "Voraussage" über den Wahlausgang zu erarbeiten. [...] Teilweise hatten die Emissäre in den Bezirksämtern ihre Vorstellungen über die Prognose, über Ja-, Gegen- und ungültige Stimmen schon schriftlich fixiert und mitgebracht. Angesichts der bekannten Verquickung von Partei und Staatsmacht wurden die als Vorschau etikettierten Absprachen von Bezirksbürgermeistern wie eine Weisung der Zentrale für das Wahlergebnis gewertet. [...] Nicht im Wahllokal, sondern den Augen der Öffentlichkeit entzogen, auf der zweiten Ebene, in den Bürgermeistereien, wo die Ergebnisse der Stimmbezirke summiert wurden, waren die "Frisiersalons", wo gemäß den Richtwerten teilweise um groteske Zehntelprozente geschönt wurde. Diesmal gelang es nicht mehr, nach der Wahl zur Tagesordnung überzugehen. Die Prüfer der Opposition hatten gut gearbeitet. Sie waren in einer Vielzahl von Wahllokalen bei der Auszählung zugegen gewesen. Sie verglichen die Basisresultate mit den Zählergebnissen der anderen Ebenen und stellten erhebliche Diskrepanzen fest.
Günter Schabowksi, Der Absturz, Reinbek 1992, S. 173 ff.
Tatsächlich waren die Wahlmanipulationen am 7. Mai 1989 kaum gravierender als bei früheren "Wahlen" in der DDR. Aber das innen- und außenpolitische Umfeld hatte sich verändert: Die wichtigsten ehemaligen Verbündeten der DDR befanden sich jetzt auf Reformkurs, und viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger hielten ihre Regierung inzwischen nicht mehr nur für reformunwillig, sondern auch für reformunfähig. Die SED-Spitze um Honecker hatte den Rückhalt verloren, den sie früher in der UdSSR und bei den anderen "Bruderländern" besessen hatte, und verfügte daher kaum noch über Autorität. Sie war weithin isoliert. Ihr Verhalten stieß nahezu überall auf Kritik, ja Verständnislosigkeit.
Auch die zustimmende Reaktion Ostberlins auf die brutale Niederschlagung der Studentenrebellion in Peking am 4. Juni 1989 rief weithin Empörung hervor. Während in der ganzen Welt heftig gegen das Massaker auf dem Tiananmen-Platz protestiert wurde, entschied das SED-Politbüro, dass man dem "hartgeprüften chinesischen Volk" zu Hilfe kommen müsse: Die Volkskammer verabschiedete eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der "konterrevolutionären Unruhen" in der chinesischen Hauptstadt bekundete.
DDR-Außenminister Oskar Fischer rühmte bei einem Besuch seines chinesischen Amtskollegen Qian Qichen in Ostberlin eine Woche nach den Ereignissen in Peking die engen Bindungen zwischen der DDR und China. Und prominente DDR-Politiker starteten zu Solidaritätsmissionen in die chinesische Hauptstadt: Hans Modrow machte, noch im Juni, den Anfang, Egon Krenz folgte im September. Die damit signalisierte politische Hilfestellung für ein undemokratisches, totalitäres Regime war zwar ebenfalls kaum etwas Neues in der Geschichte der DDR. Aber in der sensiblen Situation des Sommers 1989 war es gewiss ein falsches Signal, das die SED-Führung der Situation unangemessener nicht hätte setzen können.
Massenflucht und Proteste
Vor diesem Hintergrund fassten immer mehr DDR-Bewohner den Entschluss, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein 120.000 stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten darüber hinaus Hunderte, die mit ihrer Geduld am Ende waren, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher - vor allem westdeutscher - diplomatischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ostberlin und Prag zu erzwingen. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik musste sogar binnen zwei Wochen wegen Überfüllung geschlossen werden.
Am Rande einer UNO-Vollversammlung erreichte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Verhandlungen mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer, dem es um eine Entschärfung der instabilen Lage im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung ging, die Ausreise aller Prager und Warschauer Flüchtlinge. Sie gelangten in Sonderzügen Anfang Oktober in die Bundesrepublik.
Egon Krenz, der SED-Generalsekretär Honecker zu dieser Zeit vertrat, weil der Parteichef sich einer Operation unterziehen musste, die ihn für den Rest des Sommers von seinen Amtsgeschäften fernhielt, wusste um die Motive, die die Ostdeutschen dazu brachten, die DDR zu verlassen. Ein enger Mitarbeiter, der Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen im ZK der SED, Wolfgang Herger, war der Frage nachgegangen und hatte die Ergebnisse in einem vertraulichen Bericht für Krenz zusammengefasst. Vom "Verlust an Perspektive als Massenprotest" war darin die Rede, von "Resignation als Massenphänomen" sowie von einer alarmierend zunehmenden Rate der Abwendung von der DDR, besonders unter Jugendlichen, einschließlich der Funktionäre der Freien Deutschen Jugend (FDJ).
QuellentextStasi-Bericht vom 9. September '89 über Ausreisemotive
Die überwiegende Anzahl dieser Personen wertet Probleme und Mängel an der gesellschaftlichen Entwicklung, vor allem im persönlichen Umfeld, in den persönlichen Lebensbedingungen und bezogen auf die so genannten täglichen Unzulänglichkeiten, im Wesentlichen negativ und kommt, davon ausgehend, insbesondere durch Vergleiche mit den Verhältnissen in der BRD und in Westberlin, zu einer negativen Bewertung der Entwicklung in der DDR. Die Vorzüge des Sozialismus, wie zum Beispiel soziale Sicherheit und Geborgenheit, werden zwar anerkannt, im Vergleich mit aufgetretenen Problemen und Mängeln jedoch als nicht mehr entscheidende Faktoren angesehen. [...] Das geht einher mit der Auffassung, dass die Entwicklung keine spürbaren Verbesserungen für die Bürger bringt, sondern es auf den verschiedensten Gebieten in der DDR schon einmal besser gewesen sei. Derartige Auffassungen zeigen sich besonders auch bei solchen Personen, die bisher gesellschaftlich aktiv waren, aus vorgenannten Gründen jedoch "müde" geworden seien, resigniert und schließlich kapituliert hätten. [...] Diese Personen gelangen in einem längeren Prozess zu der Auffassung, dass eine spürbare, schnelle und dauerhafte Veränderung ihrer Lebensbedingungen, vor allem bezogen auf die Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse, nur in der BRD oder Westberlin realisierbar sei. [...] Als wesentliche Gründe/Anlässe für Bestrebungen zur ständigen Ausreise bzw. das ungesetzliche Verlassen der DDR - die auch in Übereinstimmung mit einer Vielzahl von Eingaben an zentrale und örtliche Organe/Einrichtungen stehen - werden angeführt:
Unzufriedenheit über die Versorgungslage;
Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen;
Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung;
eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland;
unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf;
Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter;
Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie über Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern;
Unverständnis über die Medienpolitik der DDR. [...]
Diese Argumentation erfährt ihre Zuspitzung durch den Verweis darauf, dass die Besitzer von Devisen [...] im Wesentlichen alles erwerben könnten. Es wird Kritik am so genannten doppelten Währungssystem, an Intershops, Valutahotels und an "Privilegien" für Devisenbesitzer geübt. [...] Im untrennbaren Zusammenhang damit wirken aktuelle Entwicklungstendenzen in anderen sozialistischen Staaten, insbesondere in der Ungarischen Volksrepublik, Volksrepublik Polen und der Sowjetunion, durch die in beachtlichem Umfang Zweifel an der Einheit, Geschlossenheit und damit der Stärke der sozialistischen Staatengemeinschaft entstanden sind, die zunehmend auch zu Zweifeln an der Perspektive und Sieghaftigkeit des Sozialismus überhaupt führen.
Arnim Mitter, Stefan Wolle (Hg.), Ich liebe euch doch alle. Befehle und Lageberichte des MfS, Berlin 1990, S. 141 ff.
Krenz erhielt den Bericht nur einen Tag vor Antritt eines vierwöchigen Urlaubs an der Ostsee, von wo aus er nichts mehr unternehmen konnte. Honecker hatte Krenz offenbar bewusst in den Urlaub entlassen und statt dessen seinen Vertrauten, Politbüromitglied Günter Mittag, mit der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte des Generalsekretärs beauftragt. Doch Mittag erwies sich bald als unfähig, der Lage gerecht zu werden. Der Flüchtlingsstrom, der sich aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik ergoss, schwoll immer mehr an. Der "Eiserne Vorhang", der schon am 2. Mai durch Ungarn prinzipiell in Frage gestellt worden war, bestand praktisch nicht mehr. Täglich trafen nun zwischen 100 und 200 Ostdeutsche von Ungarn aus in den Aufnahmelagern in der Bundesrepublik ein. Und nachdem die ungarische Regierung es DDR-Bürgern ab dem 11. September gestattete, die Grenze nach Österreich legal zu überschreiten, flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende täglich. Bis Ende September waren es insgesamt bereits 32.500.
Im SED-Politbüro beschuldigte Mittag die Ungarn des "Verrats am Sozialismus" und konnte dennoch nur resigniert den Rapport eines Abgesandten entgegennehmen, der nach Budapest geschickt worden war, um "die Dinge zu verlangsamen", und von dort mit leeren Händen zurückkehrte: Die Ungarn hatten die Kontrolle verloren und, für die SED noch schlimmer, beabsichtigten offenbar gar nicht, sie zurückzuerlangen. Außenminister Gyula Horn, so berichtete der Emissär, sei die "treibende Kraft" hinter dieser Entwicklung. Das ungarische Militär stehe den "Erwartungen der DDR" zwar loyal gegenüber, sei jedoch nicht mehr einig. Ähnliches verlautete aus Moskau: Auf die Bitte von DDR-Außenminister Fischer, ein Warschauer-Pakt-Treffen einzuberufen, um die Ungarn zur Räson zu bringen, antwortete Gorbatschow, die Zeit sei vorüber, in der eine Abweichung von der allgemeinen Linie durch den Druck der Mehrheit habe korrigiert werden können. Die DDR stand allein.
Montagsdemonstrationen
Währenddessen nahm der Umfang der Proteste und Demonstrationen innerhalb der DDR zu. Seit Juni 1989 wurden am 7. jeden Monats Protestaktionen veranstaltet, um an die Manipulation der Kommunalwahl vom 7. Mai zu erinnern. Darüber hinaus begannen am 4. September in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit den "Montagsdemonstrationen", auf denen Forderungen nach Reise- und Versammlungsfreiheit laut wurden. Bis zum 25. September war die Teilnehmerzahl auf 5000 angewachsen. Am 2. Oktober belief sie sich bereits auf etwa 20.000.
Ermutigt durch den Erfolg dieser Aktionen wurden nun auch politische Organisationen gegründet, die sich zum Teil als Parteien, zum Teil als Bürgerbewegungen verstanden: am 10. September das Neue Forum, am 12. September Demokratie Jetzt, am 7. Oktober die Sozialdemokratische Partei in der DDR und am 29. Oktober der Demokratische Aufbruch. Die SED-Führung sah sich damit jetzt nicht nur den Liberalisierungstendenzen in Osteuropa und der Fluchtbewegung aus der DDR, sondern auch einer wachsenden und sich zunehmend organisierenden Opposition in der DDR gegenüber.
In dieser Situation kam das festliche Ereignis des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober 1989 durchaus ungelegen. Die öffentlichen Demonstrationen und Aktivitäten der Oppositionsgruppen erreichten am Vorabend dieses Tages einen neuen Höhepunkt. Besonders Dresden, wo die Durchfahrt eines Zuges mit DDR-Flüchtlingen aus der Bonner Botschaft in Prag am 4. Oktober Unruhen ausgelöst hatte, die immer noch andauerten, war Schauplatz schwerer Auseinandersetzungen. Die Proteste, die zunächst auf Berlin, Leipzig und Dresden konzentriert gewesen waren, breiteten sich rasch aus. Aus Magdeburg wurde am 5. Oktober eine Aktion mit 800 Demonstranten gemeldet, von denen nicht weniger als 250 durch Polizei und Staatssicherheitsdienst verhaftet wurden. Aber auch aus vielen anderen Orten der DDR trafen Berichte über Demonstrationen und Protestaktionen ein, die kaum noch beherrschbar schienen.
Währenddessen bereitete Erich Honecker sich in Ostberlin darauf vor, mehr als 4000 geladene Gäste aus der DDR und über 70 ausländische Delegationen zu empfangen, unter ihnen auch eine sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow an der Spitze. Die SED-Führung hoffte, vom Glanz des mit großem internationalen Renommee ausgestatteten Generalsekretärs der KPdSU zu profitieren. Doch Gorbatschow war auch ein Hoffnungsträger für die ostdeutschen Dissidenten, die fühlten, dass nur er dem Reformprozess in der DDR zum Erfolg verhelfen konnte.
Gorbatschows Kritik
Am ersten Tag der Feierlichkeiten, dem 6. Oktober, beschränkten sich Honecker und Gorbatschow noch auf den Austausch von Nettigkeiten, die dem festlichen Anlass angemessen waren. Auffällig war nur die Tatsache, dass Honeckers Festrede am Nachmittag im Palast der Republik jeglichen Hinweis auf die prekäre Lage im Lande vermissen ließ: kein Wort über die Flüchtlinge, kein Satz über die internen Probleme. Bei einem Fackelzug durch Ostberlin gab es am Abend allerdings bereits spontane öffentliche Ovationen für Gorbatschow. Erst am folgenden Tag wurde Gorbatschow bei einem persönlichen Gespräch mit Honecker und in einer Unterredung mit den Mitgliedern des SED-Politbüros im Schloss Niederschönhausen deutlicher: "Kühne Entscheidungen" seien notwendig, jede Verzögerung werde zur Niederlage führen. Wörtlich erklärte der Generalsekretär der KPdSU vor den Politbüromitgliedern: "Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chancezu vertun [...]. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort [...]. Wir sind in einer Etappe sehr wichtiger Beschlüsse. Es müssen weitreichende Beschlüsse sein, sie müssen gut durchdacht sein, damit sie reiche Früchte tragen. Unsere Erfahrungen und die Erfahrungen von Polen und Ungarn haben uns überzeugt: Wenn die Partei nicht auf das Leben reagiert, ist sie verurteilt [...]. Wir haben nur eine Wahl: entschieden voranzugehen."
Nachdem Gorbatschow mit seinem Plädoyer für politische und ökonomische Reformen geendet hatte, pries Honecker aufs Neue den Erfolg des Sozialismus in der DDR. Wiederum keine Erwähnung der Flüchtlinge, kein Satz über die Krise in seinem Lande, die er gar nicht wahrzunehmen schien.
Auch andere führende Politiker der DDR, wie Kurt Hager, Gerhard Schürer, Werner Krolikowski und Werner Eberlein, die danach sprachen, vermieden jede Kritik oder Selbstkritik. Schließlich ergriff Gorbatschow noch einmal das Wort, ging zunächst auf die schwierige Situation bei den Bergarbeitern im ukrainischen Donezk ein und kritisierte die eigenen Funktionäre, um dann verallgemeinernd hinzuzufügen: "Wir sehen also, wenn jemand schlecht arbeitet, die Sache nicht im Griff hat, und wir schützen ihn, dann ufern diese Probleme aus. Es gibt viele Signale für die Partei." Anschließend erhob sich der sowjetische Generalsekretär abrupt, um anzudeuten, dass man das Treffen beenden möge. Offenbar gab es nichts mehr zu sagen.
Der Tag klang aus mit einem Empfang im Palast der Republik, bei dem Krenz und Schabowski gegenüber Valentin Falin - Moskaus Botschafter in Bonn von 1971 bis 1978 und danach Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU - ihre Meinung kundtaten, dass Honeckers Äußerungen entmutigend gewesen seien und dass die sowjetischen Genossen sicher sein könnten, dass bald etwas geschehen werde.
Währenddessen hatten sich auf dem Alexanderplatz, unweit des Palastes der Republik, etwa 15.000 bis 20.000 Menschen versammelt, wo sie von "Agitatoren" der Partei in Diskussionen verwickelt wurden. Die Strategie der SED-Bezirksleitung erwies sich zunächst als erfolgreich: Niemand wurde geschlagen oder verhaftet. Erst als die Menge sich bereits zu zerstreuen begann, starteten einige Demonstranten am Ufer der Spree wieder mit "Gorbi, Gorbi"-Rufen und dem Slogan "Wir sind das Volk". Kurze Zeit später war die Situation völlig verändert: Einheiten der Polizei und der Staatssicherheit, die auf dem Alexanderplatz so große Zurückhaltung geübt hatten, erwarteten die auf dem Heimweg befindlichen Demonstranten in den Straßen des Stadtteils Prenzlauer Berg. Die Gewalt, die in der Stadtmitte angesichts der dortigen internationalen Medienpräsenz vermieden worden war, wurde nun abseits des Rampenlichts der Öffentlichkeit angewandt.
Sturz Honeckers
Für die SED-Spitze waren die Ereignisse während der Jahrestagsfeierlichkeiten ein weiterer schwerer Misserfolg. Vor allem Erich Honecker hatte bewiesen, dass er ohne Einsicht war und völlig den politischen Instinkt verloren hatte, der ihn früher einmal ausgezeichnet hatte. Zwei Tage nach dem Jubiläum, am 8. Oktober, ergriff daher Egon Krenz am Rande eines Treffens, auf dem Erich Mielke vor leitenden Sicherheitskadern über die Vorgänge berichtete, die Initiative und erörterte mit Günter Schabowski ein fünfseitiges, in Ansätzen kritisches Papier. Es sollte vom Politbüro verabschiedet und als Proklamation der Parteiführung veröffentlicht werden. Allerdings lehnte Honecker, der allein das Recht hatte, Vorlagen im Politbüro zur Diskussion zu stellen, wie nicht anders zu erwarten, eine Erörterung des Papiers ab. Doch diesmal erklärte Krenz, dass die Parteiführung nicht länger schweigen dürfe, und kam schließlich telefonisch mit Honecker überein, die Angelegenheit am folgenden Tag nochmals zu besprechen.
Dieser Tag, der 9. Oktober 1989, war besonders spannungsgeladen, weil bei der anstehenden Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet wurde. Man erwartete nach den vorangegangenen Ereignissen nicht nur einen weiteren Anstieg der Teilnehmerzahlen, sondern rechnete nach dem Ende der Feierlichkeiten auch mit einem besonders harten Vorgehen der Staatsmacht.
In den Kirchen der Stadt und über den Leipziger Stadtfunk wurde daher ein Aufruf verlesen, der die Unterschriften so unterschiedlicher Personen wie des Kapellmeisters des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, des Pfarrers Peter Zimmermann, des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und der drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung Leipzig trug und zu einem freien und friedlichen Dialog aufforderte. In Ostberlin bemühte sich Krenz, die örtlichen Sicherheitsorgane von der Zentrale aus zum Stillhalten zu verpflichten. Tatsächlich blieb alles ruhig. Und Krenz erreichte bei Honecker sein Ziel, seine Proklamation im Politbüro beraten zu lassen, auch wenn die unwirsche Reaktion seines politischen Ziehvaters ihn in der Überzeugung bestärkte, dass dessen baldige Ablösung unvermeidlich sei.
QuellentextStellungnahme des SED-Politbüros vom 11. Oktober 1989 zur Massenflucht
[...] Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle. Er ist die Zukunft der heranwachsenden Generationen. Gerade deshalb lässt es uns nicht gleichgültig, wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgesagt haben. Viele von ihnen haben die Geborgenheit der sozialistischen Heimat und eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder preisgegeben. Sie sind in unserem Land aufgewachsen, haben hier ihre berufliche Qualifikation erworben und sich ein gutes Auskommen geschaffen. Sie hatten ihre Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn. Sie hatten eine Heimat, die sie brauchte und die sie selbst brauchen. Die Ursachen für ihren Schritt mögen vielfältig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns suchen, jeder an seinem Platz, wir alle gemeinsam. Viele von denen, die unserer Republik in den letzten Monaten den Rücken gekehrt haben, wurden Opfer einer groß angelegten Provokation. Wiederum bestätigt sich, dass sich der Imperialismus der BRD mit einem sozialistischen Staat auf deutschem Boden niemals abfinden wird, Verträge bricht und das Völkerrecht missachtet. Mit dem 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik glaubten imperialistische Kräfte den geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, um mit einer hasserfüllten Kampagne ihrer Massenmedien Zweifel am Sozialismus und seiner Perspektive zu verbreiten. Sie wollen von der Hauptfrage unserer Zeit, der Sicherung des Friedens, ablenken. Das Interesse am gemeinsamen Ringen der Völker um die Lösung globaler Probleme soll geschwächt werden. [...] Deshalb ist es das Gebot der Stunde, dass sich alle, deren Handeln von politischer Vernunft und humanistischem Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Menschen unseres Landes bestimmt ist, deutlich abgrenzen von jenen, die die Bürger für konterrevolutionäre Attacken zu missbrauchen trachten. Die Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus in der DDR lösen wir selbst - im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen politischen Miteinander. [...] Gemeinsam wollen wir Antwort finden, wie wir die nicht leichten Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts im Sinne der humanistischen Ideale des Sozialismus bestehen können. Gemeinsam wollen wir unser Vaterland so gestalten, dass die wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse jedes Einzelnen entsprechend seiner Leistungen immer besser erfüllt werden können. Es geht um die Weiterführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es geht um wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ihren Nutzen für alle, um demokratisches Miteinander und engagierte Mitarbeit, um gute Warenangebote und leistungsgerechte Bezahlung, um lebensverbundene Medien, um Reisemöglichkeiten und gesunde Umwelt. Es geht um den Beitrag unserer Republik für die Sicherung des Friedens in der Welt. [...]
Deutschland Archiv 12/1989, S. 1435 ff.
Als der Text schließlich am 12. Oktober in leicht veränderter Form im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" veröffentlicht wurde, war das Ergebnis enttäuschend: Die erhoffte positive Resonanz blieb aus. Zu wenig war zu spät vom Politbüro geäußert worden. Die Glaubwürdigkeit war so nicht wiederherzustellen. Allerdings war auch der Sturz Honeckers inzwischen kaum noch aufzuhalten. Am selben Tag, als die Proklamation des Politbüros im "Neuen Deutschland" erschien, wurde der Generalsekretär in einer Sitzung mit den Bezirkschefs der SED derart scharf kritisiert, wie es im Politbüro noch nie vorgekommen war. Vor allem Hans Modrow aus Dresden, der durch die Flüchtlingszüge aus Prag und die damit zusammenhängenden Zusammenstöße schwer in Bedrängnis geraten war, tat sich hervor.
Krenz fühlte sich dadurch ermutigt, in der folgenden Politbürositzung am 17. Oktober den Coup zu wagen. Gemeinsam mit Schabowski und dem Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), Harry Tisch, verabredete er am 15. Oktober, dass Honecker gleich zu Beginn der Sitzung von Ministerpräsident Willi Stoph zum Rücktritt aufgefordert werden solle. Tisch wurde beauftragt, am folgenden Tag anlässlich eines seit langem terminierten Besuchs bei seinem sowjetischen Amtskollegen Stepan Schalajew in Moskau Gorbatschow über die geplante Aktion zu informieren.
Da die Situation in den Bezirken eindeutig zu sein schien und auch aus
Moskau keine Einwände kamen, brachte Stoph am 17. Oktober die Rücktrittsforderung vor, die sich ebenfalls auf Mittag und den im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständigen Joachim Herrmann erstreckte. Honecker leistete kaum Widerstand. Alle Politbüromitglieder, auch Günter Mittag und Erich Mielke, plädierten für die Annahme der Rücktrittsforderungen. Diese wurden einstimmig beschlossen. Honecker, Mittag und Herrmann votierten gegen sich selbst.
Krenz und Modrow als Nachfolger
Bereits am folgenden Tag wurde Egon Krenz auf Vorschlag des Politbüros vom Zentralkomitee der SED zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt. Die vorangehende Aussprache war kurz, emotional und ziemlich zusammenhanglos. Während Hans Modrow eine umfassende Debatte über den künftigen Kurs der Partei forderte, waren die meisten ZK-Mitglieder nur daran interessiert, so rasch wie möglich in ihre lokalen Organisationen zurückzukehren, um dort über die dramatischen Veränderungen in Berlin zu berichten. Zugleich wurde Krenz von den Delegierten aufgefordert, im Fernsehen zu sprechen, weil sie ein öffentliches Wort des neuen Parteivorsitzenden für wichtiger hielten als endlose interne Diskussionen.
Als Krenz daraufhin am Abend auf dem Bildschirm erschien, wiederholte er lediglich, was er tagsüber vor den ZK-Mitgliedern erklärt hatte - so als ob er zu einem zahlenmäßig vergrößerten Zentralkomitee spräche. Die Wirkung war verheerend: Krenz, der ohnehin bereits für seine Rolle bei der Manipulation der Kommunalwahl und seine China-Reise kritisiert worden war und überdies in dem Ruf stand, das Musterbeispiel eines steifen Parteifunktionärs zu sein, vermittelte das typische Negativ-Image der alten SED-Elite, die gerade abgewirtschaftet hatte. Die "Reformer", die glaubten, mit Honeckers Absetzung die Voraussetzung für einen Neuanfang geschaffen zu haben, hatten ihre erste - und vielleicht einzige - Chance vertan, ihren Versuch zur Erneuerung der Partei und ihrer Politik glaubwürdig darzustellen.
Tatsächlich war mit dem Sturz Honeckers keines der Probleme gelöst, die den Anlass zu seiner Ablösung gegeben hatten. Nur substanzielle Reformen konnten dazu beitragen, die Lage zu verbessern. Die neue Führung unter Krenz versprach deshalb rasch, künftig Demonstrationen als Teil der politischen Kultur der DDR zu tolerieren. Neue Reisegesetze wurden angekündigt. Die Berichterstattung in den Medien änderte sich. Eine Debatte über Wahlen begann. Und früher ungekannte kritische Äußerungen SED-gelenkter Organisationen waren nun an der Tagesordnung. Außerdem wurde am 27. Oktober eine Amnestie für Ausgereiste bzw. Flüchtlinge und Demonstranten erlassen.
Die Proteste gegen das SED-Regime setzten sich dennoch fort. So gingen während der ersten Montagsdemonstration nach der Ernennung von Krenz zum Generalsekretär allein in Leipzig mehr als 300.000 Menschen auf die Straße - viele von ihnen mit Anti-Krenz-Parolen unter den Stichworten "Demokratie unbekrenzt" und "Sozialismus krenzenlos". Überall im Lande gab es weitere Großdemonstrationen: in Plauen, Dresden, Halle, Zwickau, Neubrandenburg und Jena, um nur einige zu nennen - und natürlich auch in Ostberlin, wo sich 5000 Demonstranten vor dem Palast der Republik versammelten, deren Losung lautete: "Demokratie - jetzt oder nie". Als Krenz am 1. November in Moskau mit Michail Gorbatschow zusammentraf, war allerdings von einer Krise der DDR kaum die Rede. In Moskau hielt man den SED-Staat offenbar wieder für stabil, nachdem Honecker gestürzt und der Weg für Perestroika und das von Gorbatschow proklamierte neue Denken in der DDR frei geworden war. Doch das Gegenteil war der Fall. Als in derNacht zum 1. November die Anfang Oktober von den DDR-Behörden verhängten Beschränkungen im Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wieder aufgehoben wurden, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8000 DDR-Bürger die Grenze zur CSSR. Ehe der Tag zu Ende war, hatten bereits wieder 1200 Ostdeutsche in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen.
In der ersten Novemberwoche erreichte auch die Demonstrationsbewegung ihren Höhepunkt, als sich am 4. November mehr als eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten und am 6. November ebenfalls wieder eine halbe Million in Leipzig, 60.000 in Halle, 50.000 in Karl-Marx-Stadt, 10.000 in Cottbus und 25.000 in Schwerin. Daraufhin traten am 7. November zunächst die Regierung der DDR (der Ministerrat) und am 8. November auch das Politbüro geschlossen zurück, um einer neuen Führung zu weichen, die im Wesentlichen aus Anti-Honecker-Leuten bestand - unter ihnen Krenz, Modrow, Schabowski und Herger.
Hans Modrow wurde zum neuen Ministerpräsidenten der DDR bestimmt. Anders als Krenz, der keinen Ruf als Reformer besaß, schien er für manche eine glaubwürdige Alternative zur alten Garde der Partei zu verkörpern, auch wenn er kaum als Dissident oder gar als Oppositioneller zu bezeichnen war. Immerhin war es in seinem Parteibezirk Dresden zu den schwersten Übergriffen der Staatsmacht gegen Demonstranten gekommen.
Der 61-jährige Modrow hatte außerdem schon früh in der SED Karriere gemacht. Im Alter von 39 Jahren war er in das Zentralkomitee der Partei gewählt worden und hatte von 1971 bis 1973 die Abteilung für Agitation und Propaganda geleitet, ehe Honecker ihn nach Dresden abgeschoben hatte - offenbar um ihn von mächtigeren Positionen in der Hauptstadt fernzuhalten. In Dresden hatte Modrow sich jedoch durch seinen unideologischen Pragmatismus eine gewisse Popularität verschafft. Nun glaubten manche in der SED gar - auch wenn es dafür kaum Belege gab -, er habe das Zeug, der "Gorbatschow der DDR" zu werden. Im Übrigen war es ein offenes Geheimnis, dass Modrow das Vertrauen Moskaus besaß.
Der 9. November
Ehe Modrow am 13. November von der Volkskammer offiziell zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, überschlugen sich die Ereignisse an den Grenzen der DDR. Nach Aufhebung der Reisebeschränkungen gegenüber der Tschechoslowakei am 1. November und der Erklärung der DDR-Regierung, dass ihre Bürger direkt von der CSSR in die Bundesrepublik fahren könnten - ein Schritt, der die Mauer praktisch irrelevant werden ließ -, machten innerhalb einer Woche nicht weniger als 48.177 DDR-Bürger von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Massenexodus, der nach der ungarischen Grenzöffnung am 2. Mai 1989 begonnen hatte, setzte sich nun mit immer neuen Rekordzahlen über die Tschechoslowakei fort.
Das Ausmaß der Ausreisen war inzwischen so groß, dass selbst die wohlhabende Bundesrepublik in Schwierigkeiten geriet. Bis zum Ende der ersten Novemberwoche hatten allein 1989 über 225.000 Ostdeutsche ihren Weg nach Westdeutschland gefunden, zu denen noch etwa 300.000 deutschstämmige Immigranten aus Osteuropa hinzukamen. Innenminister Wolfgang Schäuble warnte daher, die Bundesrepublik werde zwar weiterhin alle Übersiedler aufnehmen, doch müssten diese damit rechnen, für längere Zeit in relativ bescheidenen Verhältnissen zu leben.
Bundeskanzler Kohl erklärte in seinem "Bericht zur Lage der Nation" am 8. November vor dem Bundestag, Bonn sei bereit, der neuen DDR-Führung bei der Umsetzung ihrer Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozess gebe, werde man sogar "eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung" für die DDR erwägen. Auch der Kanzler plädierte also für Hilfen vor Ort statt für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik. Aber er verknüpfte sein Hilfsversprechen für die DDR mit klaren Bedingungen und sprach von einer "nationalen Verpflichtung" seiner Regierung, das "Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen" zu fordern.
Doch während Kohl im Bundestag sprach, war die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR auf nicht weniger als 500 pro Stunde angeschwollen. Innerhalb eines Tages, vom 8. zum 9. November, flohen mehr als 11.000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Es musste daher dringend etwas geschehen.
Reisegesetz
Krenz und die neue SED-Führung waren sich von Anfang an darüber im Klaren gewesen, dass die Frage der Reisefreiheit von größter Bedeutung, ja entscheidend sein werde, wenn die Erneuerung des Regimes auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg haben sollte. Ministerpräsident Stoph hatte daher Innenminister Friedrich Dickel bereits am 19. Oktober - nur zwei Tage nach Honeckers Sturz - beauftragt, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Weitere fünf Tage später hatte das Politbüro verlauten lassen, dass es "in der Zukunft allen DDR-Bürgern erlaubt sein wird, ohne Behinderungen zu reisen". Der erste Entwurf eines neuen Reisegesetzes lag am 31. Oktober vor und zirkulierte zunächst in der Spitze von Partei und Regierung. Er sah vor, dass alle Bürger der DDR das Recht haben sollten, ohne harte Währung für einen Monat im Jahr ins Ausland zu reisen, vorausgesetzt dass sie einen gültigen Reisepass und ein Visum besaßen, das von der Polizei innerhalb von dreißig Tagen nach Antragstellung zu erteilen sei.
Obwohl der Entwurf noch einige Ungereimtheiten enthielt - vor allem hinsichtlich der Notwendigkeit einer Visumserteilung -, wurde er am 6. November veröffentlicht. Die Regierung erwartete, dass die Diskussion darüber bis Ende November abgeschlossen sein werde, so dass die neuen Verfahren irgendwann im Dezember in Kraft treten könnten. Doch die vorgesehenen Bestimmungen stießen auf massive Kritik. Noch am Tage der Veröffentlichung forderten mehrere Hunderttausend Menschen auf einer Massendemonstration in Leipzig "ein Reisegesetz ohne Einschränkungen". Vertretern der SED wurde nicht mehr erlaubt, auf der Versammlung zu sprechen. "Zu spät, zu spät", erscholl es aus der Menge. Und zum ersten Mal: "Wir brauchen keine Gesetze - die Mauer muss weg!"
Auch in anderen Städten der DDR gab es Protestaktionen gegen den Entwurf. Sogar das zensierte Fernsehen brachte kritische Stimmen von DDR-Bürgern. Und in Fabriken im ganzen Land kam es zu spontanen Warnstreiks von Arbeitern, die sich durch das geplante Gesetz diskriminiert fühlten, weil es für sie keine Devisen vorsah, die für Reisen ins Ausland unabdingbar waren. Der Entwurf wurde daraufhin am folgenden Tag vom Rechtsausschuss der Volkskammer als "unzureichend" verworfen.
Schlechte Nachrichten kamen ebenfalls aus der Tschechoslowakei, von wo Parteichef Miló Jaké SED-Generalsekretär Krenz mitteilte, dass seine Regierung nicht länger bereit sei, DDR-Bürgern zu gestatten, die westdeutsche Botschaft in Prag zu betreten oder ohne Verzug über die Grenze nach Bayern in die Bundesrepublik einzureisen, weil dies Wasser auf die Mühlen der eigenen tschechoslowakischen Opposition sei. Wenn die Regierung in Ostberlin nicht umgehend Maßnahmen ergreife, um das Problem zu lösen, werde die CSSR ihre Grenze zur DDR schließen.
Das SED-Politbüro war daher unter großem Druck von innen und außen, als es am 7. November die Beratungen über die Gewährung der Reisefreiheit fortsetzte. Düster malte man sich aus, dass Tausende von DDR-Familien entlang der geschlossenen tschechoslowakischen Grenze kampieren oder gewaltsam versuchen würden, die andere Seite zu erreichen. Niemand würde einer solchen Situation standhalten können. Deshalb schien es notwendig, die ersehnte Reisefreiheit in einem Schritt vorab zu gewähren und das erforderliche Reisegesetz später vom Parlament nachträglich beschließen zu lassen. Ministerpräsident Stoph, der an diesem Tage zurücktrat, aber noch im Amt blieb, bis das neue Kabinett unter Hans Modrow am 17. November gebildet war, wurde beauftragt, eine entsprechende Entscheidung der Regierung herbeizuführen.
Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz das Zentralkomitee der SED - nach der späteren Erinnerung von Sitzungsteilnehmern eher beiläufig - von der soeben getroffenen Entscheidung der Regierung über die neuen Reisebestimmungen. Gegen 18 Uhr übergab Krenz dem neuen ZK-Sekretär für Information, Günter Schabowski, der gerade auf dem Wege war, die im Internationalen Pressezentrum versammelten Journalisten über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu unterrichten, ein zweiseitiges Papier, das die neuen Bestimmungen enthielt. Dieses Papier war lediglich eine Vorlage der Regierung, kein gültiger Beschluss, der immer noch ausstand (was Schabowski aber, wie er heute erklärt, damals nicht wusste). Bei der Aushändigung des Textes bemerkte Krenz nur knapp: "Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns." Natürlich hoffte er, dass das Einlenken der neuen DDR-Führung in dieser wichtigen Frage die Lage entspannen werde.
Öffnung der Mauer
Entsprechend groß war die Aufregung, als Schabowski wenig später mit bemühter Routinemäßigkeit die Nachricht bekannt gab, dass die DDR ihre Grenzen geöffnet habe. "Bedeutet dies", fragte ein Reporter, "dass jeder DDR-Bürger jetzt frei in den Westen reisen kann?" Schabowski zitierte daraufhin aus dem Text, dass Anträge auf Reisen ins Ausland ohne Vorbedingungen gestellt werden könnten, dass jeder DDR-Bürger ab dem kommenden Morgen um 8 Uhr ein Visum erhalten könne und dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa "schnell und unbürokratisch" auszustellen. Die Regelung trete "sofort" in Kraft.
QuellentextSchabowskis Pressekonferenz
[...] Riccardo Ehrmann ist nun doch aufgestanden von seinem Platz links vorne vor dem Podium im überfüllten Pressesaal in der Ost-Berliner Mohrenstraße. Günter Schabowski, schräg vor ihm, vielleicht vier, fünf Armlängen entfernt, redet immer noch. [...] Ehrmann mag die Art nicht, wie Schabowski redet. [...] Für ihn, den Journalisten der italienischen Nachrichtenagentur Ansa, [...] hat der Verlautbarungsstil der Politbürokraten zu starke Ähnlichkeiten mit dem "doubletalk" aus George Orwells Roman "1984". [...] Oben, auf dem Podium, redet Schabowski noch immer. Irgendwo tief in seinen Unterlagen hat er den Beschlussvorschlag des Ministerrats vom selben Tag, der den Reisegesetzentwurf vom 6. November 1989 korrigiert. [...] Um 18 Uhr 53 fragt Ehrmann nach dem aus seiner Sicht fehlerhaften Reisegesetz - und Schabowski beginnt in den Unterlagen zu kramen. Es dauert ein paar Sekunden, aber was dann folgt, wird die Welt verändern. Schabowski liest vom Blatt, müde schon, unwirsch, ein bisschen nuschelnd und in enormer Geschwindigkeit rasselt er die wesentlichen Passagen aus der Beschlussvorlage des Ministerrats herunter: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt." Im Saal entsteht Unruhe, nicht alle haben auf Anhieb dem Tempo Schabowskis folgen können. Einer ruft, ob das auch für West-Berlin gelte, und auf dem Podium fällt Schabowski siedendheiß ein, dass mit den Sowjets zu diesem Zeitpunkt noch nichts besprochen ist. Ja, sagt er dann im Vertrauen auf die Politik der Perestroika des Michail Gorbatschow, ja, das gelte seines Wissens auch für West-Berlin. "Wann tritt das in Kraft?", fragt Riccardo Ehrmann, und Günter Schabowski sagt: "Das trifft nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich." Die Mauer ist gefallen. [...] In diesem Moment aber gehört Riccardo Ehrmann zu den Ersten, die das auch begreifen. Er stürzt aus dem Pressesaal. Er hört die letzte Frage nicht mehr, was nun aus der Berliner Mauer werde. [...] Ehrmann ruft in Rom an, die Ansa-Zentrale. Bei der Telefonaufnahme diktiert er seinen ersten Satz. So wie er ihn formuliert, ist es eine Sensation. [...] Er erklärt, was das gesprochene Wort bedeutet - es bedeutet, dass die Mauer gefallen ist. [...] "Riccardo, bist du wirklich nicht verrückt geworden?", fragt der Chefredakteur [...] - und dann kommt der Satz, der so oder ähnlich wahrscheinlich hundert Mal in jenen Minuten gefallen sein muss, in all den Agenturbüros rund um den Globus: "Aber die anderen haben noch gar nichts gemeldet." [...] In den Minuten rund um 19 Uhr aber ringt die Medienwelt nach Worten, das Unfassbare zu beschreiben, immer noch fieberhaft rätselnd, was genau Günter Schabowski gemeint haben könnte. Um 19 Uhr 05 wählt die Nachrichtenagentur AP erstmals den Begriff "Grenzöffnung". Das ZDF vermeldet in seiner "Heute"-Sendung die Schabowski-Pressekonferenz erst an sechster Stelle, um 19 Uhr 17. Die ARD präsentiert um 20 Uhr die neue Reiseregelung als Spitzenmeldung und blendet dazu "DDR öffnet Grenze" ein. [...]
Axel Vornbäumen, "Die Frage seines Lebens", in: Der Tagesspiegel vom 11. November 2004.
Damit waren die Grenzen praktisch offen - auch wenn Schabowskis "sofort" eine aus dem Augenblick heraus entstandene unzulässige Erklärung war, die außer Acht ließ, dass die von ihm verkündete Reiseregelung bisher nur im Entwurf vorlag und im Übrigen an die Voraussetzung gebunden war, dass die Bürger vor dem Überschreiten der Grenzen noch den Gang zu den Passdienststellen antreten mussten.
Tatsächlich gab es noch gar keinen amtlichen Beschluss, sondern nur eine Regierungsvorlage über die vorgezogene Grenzregelung, die Krenz von Innenminister Dickel während der ZK-Tagung erhalten hatte, um sie zu begutachten und abzusegnen. Nach der Zustimmung des Politbüros sollte sie dann im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der noch amtierenden Regierung verabschiedet werden. Erst nach dieser Runde im Ministerrat, so das Verfahren, würden auch die entsprechenden Ausführungsbestimmungen erlassen. Dies brauchte jedoch Zeit, die nun nicht mehr zur Verfügung stand, weil die auf Öffentlichkeitswirkung angelegte Aktion von Krenz den Terminplan durchkreuzt hatte.
Noch in der Nacht machten sich Tausende von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern auf den Weg zur Grenze, um sich an Ort und Stelle einen Eindruck von der neuen Lage zu verschaffen. Schabowskis missverständliche Äußerungen hatten bei ihnen die spontane Eingebung geweckt, dass sie "sofort" den Westen besuchen könnten. An den Grenzübergängen - vor allem in Berlin - war die Verwirrung allerdings groß, denn die Grenzposten hatten von der angeblichen Grenzöffnung ebenfalls erst aus den Medien erfahren. Sie konnten deshalb am Abend des 9. November noch gar keine neuen Weisungen erhalten haben und mussten improvisieren. Als der Druck immer mehr anschwoll, entschieden sie nach längerem Zögern und verschiedentlichem Taktieren sowie nach einer ebenso eiligen wie provisorischen Konsultation ihrer Zentrale, die Grenzen aufzumachen. Auch Krenz, der gegen 21 Uhr von Mielke telefonisch unterrichtet wurde, dass "mehrere Hundert" Menschen an der Grenze die sofortige Ausreise verlangten, plädierte dafür, sie "durchzulassen", da die Öffnung ohnehin beabsichtigt und jetzt nicht mehr zu vermeiden sei. Damit war die Mauer, 28 Jahre nach ihrer Errichtung, gefallen.
QuellentextAugenzeugenberichte zum 9. November 1989
[...] Am Grenzübergang Invalidenstraße herrscht schon das totale Chaos. Quer geparkt, ausgestiegen, zur Grenze gerannt. Der Richtfunksendemast des Senders Freies Berlin steht schon mitten im Menschengewühl (West) - Warten auf den Durchbruch der Massen (Ost). Nach drei Sekunden klatscht auch schon der hartgesottenste Redakteur dem erstbesten Trabi zu. Der Taumel erwischt jede, ob sie will oder nicht. Auch die Nüchternsten klatschen, kreischen, stöhnen, kichern. Einige schaffen es, unter den Augen der Grenzer Richtung Osten über verschiedene Absperrschranken zu klettern. Aber ganz rüber geht jetzt noch nicht, noch gelten Visumpflicht und Zwangsumtausch. Auf halber Strecke zwischen Ost und West stehen die DDRler brav Schlange, warten, bis sie aufgerufen werden. Stempel: "Sie können gehen." "Was denn, das glaube ich nicht." Manche müssen in den Westen geschoben werden: "Ich soll jetzt rüber. Aber wohin? Ich habe ja keinen Pfennig in der Tasche." Viele haben immer noch Angst, dass sie nicht zurück können. Indessen brüllt's aus dem Westen: "Wir wollen rein!" Für einen Moment wendet sich das Interesse westwärts: Bürgermeister Momper ist in der Masse zu erkennen. Blitzlichter, Mikrophone, Kameras. Dann gibt es kein Halten mehr, der Westpulk schiebt sich weiter gen Osten. Ungefähr um ein Uhr fangen sie an zu rennen. Eine Handvoll Grenzer grenzt ihre Grenze ab. Tore auf, Schlagbaum hoch. Hier ist Osten. Westler, illegal und ohne Ausweis im Bezirk Mitte, immer noch bereit, im Notfall sofort die Hände hochzunehmen. Doch jenseits der Grenze beginnt das Verwirrspiel, wer ist Ost, wer ist West? Die drängenden Gruppen auf dem Bürgersteig längs der Invalidenstraße bewegen sich in beide Richtungen. [...] "Zum Kudamm!" ruft's am Übergang Friedrichstraße. Mit Sektflaschen in der Hand drängeln sich die Leute zur Paßkontrolle, im Abseits stehen erschreckt bepackte Polen. Weiter zum Brandenburger Tor. Unter den Linden kaum Autos, wenige Passanten. Hier ist kein Grenzübergang, nur Mauer. An der ersten Blumenkübelabsperrung vor dem Tor ein französisches Kamerateam, westliche Journalisten, östliche Familien. Eine Frau weint um ihren Sohn, der eine Hürde weiter ist. Der Sohn kommt zurück, will sie holen, sie hat Angst: "Ich will doch gar nicht rüber." Am nächsten Morgen sehen wir sie dann im Fernsehen wieder: "Wir waren drüben, wir sind über die Mauer geklettert." [...]
Gabriele Riedle, Elmar Kraushaar, "Wir sind über die Mauer geklettert", in: "Die Tageszeitung" vom 11. November 1989.
Der Jubel und das Chaos, die in den folgenden Tagen herrschten, ließen eine nüchterne politische Bestandsaufnahme der Entwicklung nur schwer zu. Vor allem war unklar, ob die Verwirklichung der so lange geforderten Reisefreiheit nur den Druck beseitigen würde, unter dem die DDR-Führung so lange gestanden hatte, so dass sogar eine Stabilisierung des SED-Regimes wieder möglich schien, oder ob die Beseitigung der Mauer die Schleusen für den Massenexodus noch weiter öffnete und die DDR damit ökonomisch auszubluten drohte.
Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaus 1961 Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen war und später durch seine neue Ostpolitik entscheidend dazu beigetragen hatte, die Spannungen zwischen Ost und West zu mindern und den Weg für Reformen in Osteuropa zu bereiten, erklärte in einer kurzfristig anberaumten Versammlung am Abend des 10. November vor dem Rathaus Schöneberg, nun sei eine neue Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten entstanden - eine Beziehung in Freiheit. Und damit sei die Zusammenführung der Deutschen in Ost und West auf Dauer nicht mehr aufzuhalten. "Jetzt", so Brandt wörtlich, "wächst zusammen, was zusammengehört."
Quellentext"Jetzt wächst zusammen ..."
Alt-Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Schöneberger Rathaus am 10. November 1989
[...] Sicher ist, dass nichts im anderen Teil Deutschlands wieder so werden wird, wie es war. Die Winde der Veränderung, die seit einiger Zeit über Europa ziehen, haben an Deutschland nicht vorbei ziehen können. Meine Überzeugung war es immer, dass die betonierte Teilung und dass die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen. Und ich habe es noch in diesem Sommer erneut zu Papier gebracht: Berlin wird leben, und die Mauer wird fallen. [...] Denen, die heute noch so schön jung sind, und denen, die nachwachsen, kann es nicht immer leichtfallen, sich die historischen Zusammenhänge, in die wir eingebettet sind, klarzumachen. Deshalb sage ich nicht nur, dass wir bis zum Ende der Spaltung - zornig, aber auch im Gefühl der Ohnmacht habe ich im August '61 dagegen angeredet - noch einiges vor uns haben, sondern ich erinnere uns auch daran, dass das alles nicht erst am 13. August 1961 begonnen hat. Das deutsche Elend begann mit dem terroristischen Nazi-Regime und dem von ihm entfesselten Krieg. Jenem schrecklichen Krieg, der Berlin wie so viele andere deutsche und nichtdeutsche Städte in Trümmerwüsten verwandelte. Aus dem Krieg und auch aus der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands und Berlins. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Jetzt erleben wir, und ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf: die Teile Europas wachsen zusammen. [...]
Willy Brandt, "... was zusammengehört." Reden zu Deutschland, Bonn 1990, S. 37 ff.
aus: Der Weg zur Einheit, Informationen zur politischen Bildung (Heft 250)
Manfred Görtemaker, geboren 1951, ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt 19./20. Jahrhundert an der Universität Potsdam. ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie internationale Beziehungen, insbesondere die Geschichte des Ost-West-Verhältnisses im 20. Jahrhundert (Kalter Krieg und Entspannung). E-Mail: E-Mail Link: goerte@uni-potsdam.de