Geschichtsklitterungen
Über die Memoiren von Egon Krenz
Ilko-Sascha Kowalczuk
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Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über Band I der 2022 erschienenen Memoiren von Egon Krenz. Der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR 1989 beschreibt darin seinen Weg vom Jugendfunktionär zum Nachwuchskader der SED und gibt seine Einschätzung von Stationen der deutsch-deutschen Politik wieder, oft noch immer gefangen in alten ideologischen Positionen. Teilweise Abstruses und Wahrheitswidriges wirft Kowalcuk Krenz vor, er schreibe nach wie vor parteilich, mit wenig überzeugender Selbstkritik und "viel zu selten mit dem Blick eines Insiders, sondern viel zu häufig mit der Angst eines Insiders, Herrschaftswissen preiszugeben". Im Anschluss Auszüge aus dem Buch.
Die DDR formte ihr erster Machthaber Walter Ulbricht (1893-1973) und dessen Nachfolger Erich Honecker (1912-1994) prägte sie. Der Dachdecker war der gelehrigste Schüler des Tischlers. Der dritte kommunistische Diktator auf deutschem Boden sollte Egon Krenz werden (geb. 1937). Der Sohn eines Schneiders – wie Ulbricht – war zeitlebens als Erwachsener fast nie etwas anderes als kommunistischer Funktionär. Eine Schlosserlehre brach er ab, um Unterstufenlehrer zu werden. Nach dem Ende dieser Fachschulausbildung diente er freiwillig als Unteroffizier in der Nationalen Volksarmee NVA (1957-59), um anschließend als hauptberuflicher Funktionär weiter zu dienen – wie er sagen würde. Jahrzehntelang kannte er die Gesellschaft nur aus der Perspektive eines Dienstwagens. Das ist die erste Überraschung in seinen soeben publizierten Erinnerungen – wie früh und jung er nur noch mit einem personenbezogenen Dienstwagen durch das kleine Land rollte, etwa ab 1960 (S. 130-131).
Bis 1983 Kopf der FDJ
Egon Krenz gehörte zu den bekanntesten Gesichtern in der Honecker-Diktatur. Von 1971 bis 1974 war er Chef der Pionierorganisation (für Kinder von sechs bis 13 Jahren), anschließend fungierte er bis 1983 als Boss der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der SED-Nachwuchsorganisation. Auch wenn Krenz in seinem Buch behauptet, die Mitgliedschaft in der FDJ wäre freiwillig gewesen – unter seiner Regentschaft ist sie zu einer Zwangsorganisation ausgebaut worden, der fast alle Schüler*innen der Polytechnischen Oberschulen und der Erweiterten Oberschulen ebenso angehörten wie fast alle Studierenden an staatlichen Hoch- und Fachschulen (bei den Theolog*innen gab es Ausnahmen). Mit anderen Worten: Wer in der DDR etwas werden wollte, kam an Krenz nicht vorbei.
Im 47. Lebensjahr legte Krenz 1983 das Amt des FDJ-Chefs nieder. Während meiner gesamten Schulzeit war er das Gesicht des Staates, vor dem es kein Entrinnen gab. Übermütige lachten und riefen ironisch, „Wir sind die Fans von Egon Krenz“. Er war im Alter meiner Eltern und sollte oder wollte als cooler Junge rüberkommen. Gesellschaften sind bunte Angelegenheiten, wahrscheinlich gab es irgendwo Leute, die Krenz tatsächlich cool, jung und intelligent fanden. Ich kannte solche Leute nicht. Selbst in systemnahen Kreisen galt der „Egon“ eher als eine Witzfigur, über den auch überzeugte Jungkommunist*innen spöttelten, er sei die Inkarnation des „Berufsjugendlichen“ und nicht des „Berufsrevolutionärs“.
Zeitweise auch Dienstherr der Staatssicherheit
Mit dem Ausscheiden als oberster Staatsjugendlicher stolperte der Liebling Erich Honeckers auf der Karriereleiter, ebenso wie dereinst sein politischer Ziehvater, kräftig in der Parteihierarchie nach oben. Er wurde Mitglied des SED-Politbüros und Sekretär des Zentralkomitees. Er war angekommen im Inner Circle der Diktatur. Nun war der Unterstufenlehrer zuständig für die Bereiche Jugend, Sport, Staats- und Rechtsfragen sowie Sicherheitsfragen. Ein Studium der leninistischen Gesellschaftswissenschaften in Moskau (1964-1967) hatte ihn in den Augen der anderen Torwächter hinreichend befähigt, nun in der DDR für die genannten Bereiche als die zentrale Anleitungs- und Entscheidungsinstanz, die über den Ministern und dem staatlichen Apparat stand, zu fungieren.
Zeitweise war er nicht nur oberster Richter und Jurist in der Diktatur, ihm unterstanden eine Zeitlang auch die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Staatssicherheit. Mit anderen Worten: Er war nun unter anderem auch der Vorgesetzte von Erich Mielke. Honecker hatte nach 1945 einen ähnlichen Weg eingeschlagen, auch er war zunächst FDJ-Chef und dann im SED-Apparat Sekretär für Sicherheitsfragen. Das entsprach einer kommunistischen Tradition, denn niemand anderes als die Chefs der Staatssicherheit hatten solch detaillierte Ein- und Überblicke, die sie fast automatisch prädestinieren, in die erste Reihe aufzurücken. Keine Netzwerke funktionierten im Kommunismus so gut wie die der Geheimpolizei. Diktator Wladimir Putin in Russland, der zwar nie diese Machtposition in der Geheimpolizei innehatte, aber jahrzehntelang dieses Netz von Geheimpolizei, Partei, Staat und Gesellschaft geflochten hat, ist dafür das aktuellste Beispiel. Krenz ist in der DDR-Geschichte nach Honecker das zweite herausragende Beispiel für dieses Geheimpolizeigeflecht. Es ist bis heute ausgezeichnet getarnt, weil ihn oder Honecker kaum jemand damit in Zusammenhang bringt, obwohl Egon Krenz ganze sechs Jahre der Chef von Erich Mielke war.
Am 18. Oktober 1989 wurde Krenz nach einer Palastrevolte Honeckers Nachfolger. Seine Amtszeit dauerte nur wenige Wochen. Er hatte keinen Bonus in der Gesellschaft, galt er doch seit dem 7. Mai 1989 für viele DDR-Bürger*innen nicht nur als oberster Wahlfälscher, sondern auch als unbedingter Freund Pekings, wo die kommunistische Führung die Demokratiebewegung brutal abräumen ließ und der lachende Ostdeutsche kräftig Beifall klatschte. Alle hatten diese Warnung damals verstanden. Warum dann zwanzig Jahre später Westdeutsche anfingen, ihn als jenen zu feiern, der für die Friedlichkeit der Revolution in der DDR verantwortlich sei, ist ein Rätsel. Kommunisten sind machtbesessen und verteidigen ihre Herrschaft mit allen Mitteln – und notfalls mit vielen Toten. Dazu kam es bekanntlich im Herbst 1989 nicht. An Krenz, so viel sei verraten, lag das nicht. Mal sehen, was er in Band 2 oder 3 seiner Erinnerungen dazu äußern wird.
Rücktritt am 3. Dezember 1989
Am 3. Dezember 1989 trat Krenz als SED-Chef und drei Tage später als Staatsratsvorsitzender zurück, seine Parteikarriere war beendet. Er publizierte erste Bücher, um seine Sicht der Dinge auf das Jahr 1989 zu erläutern. In den 1990er-Jahren hatte er es aber vor allem mit der bundesdeutschen Justiz zu tun. Er saß von Anfang 2000 bis Ende 2003 in Haft – das war alles nicht sonderlich überzeugend. Krenz hatte Pech, dass er für andere mit büßen musste. Sein alter Kumpel aus dem Wächterrat der SED, Politbüromitglied Günter Schabowski (1929-2015), hatte sich den neuen Verhältnissen angepasst. Fast alle glaubten ihm diese Verwandlung, die eher an Kafka denn an Buße (3. Mose 5, 5-6) erinnerte, und er kam als geläuterter Vorzeigekommunist schnell wieder frei. Nicht so Krenz.
Das ganze Verfahren war juristisch eine Farce: Entweder hätte man die Verantwortlichen der SED-Diktatur für immer wegsperren müssen oder sie alle nach der Beweisaufnahme, die für Historiker*innen wichtiges Material lieferte, in ihre kleinbürgerliche Idylle mit Grundrente entlassen sollen, da keine Wiederholungsgefahr von ihnen ausging. Krenz jedenfalls lebt seit 2004 in einem kleinen Häuschen am Ostseestrand, ist ein angesehener Bürger seiner Gemeinde, dem zum runden Geburtstag der örtliche Kindergarten ein Lied singt – er sei so ein netter, älterer, unbescholtener Mitbürger, heißt es aus dem kleinen Ort an der Ostsee.
Egon Krenz hat seither weitere Bücher veröffentlicht. Kein einziges wurde ein wirtschaftlicher Misserfolg. Einige schafften es sogar auf die Bestsellerlisten. Die Grundaussagen waren immer die gleichen: Die DDR war der freundliche Versuch, den Sozialismus in Deutschland aufzubauen. Die Sowjetunion war vielleicht nicht ganz das Paradies auf Erden, aber irgendwie kurz davor, es zu werden. China ist sogar noch einen Schritt weitergekommen. Kuba wäre sogar noch weiter, wenn es da nicht die USA und den Westen gäbe, die nichts anderes im Sinne haben, als die Fast-Paradiese in ihrer Entfaltung zu behindern, und sei es zum Beispiel dadurch, dass sie die DDR, China, die Sowjetunion und Kuba (Nordkorea lässt Krenz meist außen vor) nicht mit ihren modernsten Hochtechnologien belieferten. Das findet ein Mann wie Krenz ungerecht.
Dreiteilige Memoiren. Gleichziehen mit Helmut Kohl?
Nun also hat er seine Erinnerungen vorgelegt. Der bewusst alte SED-Getreue ansprechende Verlag, der in gewisser Weise von einem quasi einstigen Untergebenen von Krenz geleitet wird, und sein berühmtester lebender Hausautor haben sich den Westen besser zu eigen gemacht, als sie vorgeben: Krenz legt nicht einen Band Memoiren vor, sondern – so die Verlagsankündigung – gleich drei. Damit will er wohl mit jenem Mann gleichziehen, an dem er sich seit 1989 immer wieder abgearbeitet hat: Helmut Kohl. Dessen Erinnerungen umfassen ebenfalls drei Bände. Allerdings bringen es diese zusammen auch auf rund 2.600 Buchseiten. Der erste Band von Krenz bricht nach 249, sehr großzügig gesetzten Seiten ziemlich unvermittelt ab. Marktwirtschaftlich gesehen scheinen jedenfalls Verlag und Autor den Kapitalismus verstanden zu haben – drei relativ schmale Bände bringen mehr Profit ein als ein umfangreicher, der kaum viel teurer sein könnte als jeder Einzelband.
Nun, wie dem auch sei, Krenz‘ Erinnerungen werden nicht nur auf publizistisches und wissenschaftliches Interesse stoßen, sie werden sich auch gut verkaufen – dem kommunistischen und postkommunistischen Milieu geht es materiell gut, ideologisch freilich weniger, da sind solche Erbauungsschriften gefragt.
Altfunktionär Krenz referiert auch nie vor leeren Sälen, egal wo er auftritt. Sein nun erschienener erster Erinnerungsband reicht bis zu seiner Einsetzung als FDJ-Boss 1974. Mit anderen Worten: Krenz kann im ersten Buch noch nichts aus dem inneren Machtkreis berichten. Er tut allerdings so. Und das nicht einmal geschickt. Doch der Reihe nach.
Der Einstieg in das Buch überrascht. Krenz berichtet, wie ihn Heiligabend 1989 mit Werner Krätschell ein renommierter Pfarrer besucht, der den nun einsamen Parteidiener ermuntert, nicht zu verzagen. In jenen Tagen kümmerten sich diejenigen um die nun politisch Verstoßenen, die zuvor selbst von den Kommunisten bekämpft und verstoßen worden waren. Wenig später wird auch Erich Honecker bei einem Pfarrer in Lobetal Asyl finden.
Konsequente Ausblendungen
Krenz gibt auf der zweiten Seite noch Raum für Spekulationen. Denn der nächste, den er freundlich und wärmstens erinnert, ist Manfred Stolpe (1936-2019), der umstrittene Kirchenmann mit den sonderlichen Verbindungen in den Macht- und Herrschaftsapparat der kommunistischen Diktatur. Und an anderer Stelle erinnert Krenz an Bischof Horst Gienke (1930-2021), von dem die Leser*innen dieser Erinnerungen nicht erfahren, dass er 17 Jahre lang Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war und Anfang November 1989 sein Amt als Bischof niederlegen musste, weil er noch im Juli 1989 öffentlich Honecker und der DDR seine bedingungslose Treue versicherte. Krenz erwähnt Stolpe oder Gienke nicht zufällig. Er versucht in seiner Darstellung wahrheitswidrig zu zeigen, dass in der DDR ein entspanntes Verhältnis von Kirche und Staat herrschte und niemand wegen seiner Kirchenzugehörigkeit benachteiligt worden sei. Wie zum Hohn erklärt er, Gienke sei überrascht gewesen, dass mit Krenz jemand im Politbüro sitze, der konfirmiert worden sei.
Diese Darstellungsmethode ist dem Buch durchgängig eigen. Krenz blendet konsequent aus, was seiner These von der DDR als dem besten deutschen Staat in der Geschichte entgegenstehen könnte. Dabei sind die ersten Kapitel bis etwa zum Mauerbau passabel geschrieben, informativ und nicht uninteressant. Krenz schildert seinen schwierigen Weg als uneheliches Kind, das bis heute kaum etwas über seinen Vater weiß.
Es ist glaubhaft, wenn er schreibt, dass er sich als Kind gegen Ungerechtigkeiten wehrte. Das sei sein Grundmotiv, um sich zu engagieren. Zunächst machte er das im Umfeld der Ost-CDU, aber schon nach kürzester Zeit war er mit zehn Jahren in der FDJ aktiv (obwohl die eigentlich erst Mitglieder ab 14 Jahren aufnahm), erst zwei Jahre später trat er den Pionieren bei. Mit 16 Jahren wurde er SED-Mitglied – eine Folge des Aufstandes vom 17. Juni 1953, der bei ihm farblos bleibt, aber immerhin nicht nur als das Werk ausländischer Agenten und Geheimdienste daherkommt. Interessant ist übrigens, dass Krenz bestätigt, wie sehr die DDR-Gründung am 7. Oktober 1949 geräuschlos an der Gesellschaft vorbeiging: „Ich weiß nicht warum, aber davon erfuhr ich erst Tage später.“ (S. 57)
Eine andere Überraschung dieser Erinnerungen ist ein Narrativ, das sich in vielen, ja, fast allen bisherigen Büchern ehemaliger kommunistischer Funktionäre findet: Egon Krenz schreibt praktisch bei jeder biografischen Zäsur, dass er diese eigentlich nicht wollte, aber aus Pflichtgefühl heraus zustimmte. Er begann eine Schlosserlehre, weil ihm ein Funktionär das riet. Anschließend könne er das Abitur nachholen und Journalistik studieren. Doch schon kurz darauf brach er die Lehre ab und ließ sich zu einer Fachschulausbildung zum Unterstufenlehrer überreden. Die beendete er immerhin, als Lehrer aber, wie er bedauernd erwähnt, arbeitete er nie. Zunächst ging er freiwillig zwei Jahre zur Nationalen Volksarmee, anschließend wurde er FDJ-Funktionär, erst auf Rügen, dann für den Bezirk Rostock, schließlich kam er in die Zentrale nach Ostberlin – und immer unwillig. Auch ein „Studium“ ab 1963 in Moskau stieß erst nicht auf seine Begeisterung, aber wie immer: er zog es durch, wie sich auch weiterhin durchzog, dass er tat, was ihm geheißen.
Ein Dienender, kein Handelnder
Bemerkenswert an dieser üblichen Erzählung ist, dass dadurch der Autor nicht als Subjekt, als Handelnder, als Akteur erscheint, sondern als Ausführender, als Dienender einer großen Sache, die ihn zum unsichtbaren Rädchen einer großen Geschichtsmaschine werden ließ. Das war das Selbstverständnis der Kommunisten. Auch Honecker ließ nach 1990 verlautbaren, er habe lediglich getan, was die Partei ihm abverlangte und auftrug. Das ist kein Kniff, sondern logische Folge ihrer Annahme, sie verträten eine „wissenschaftliche Weltanschauung“. Sie waren lediglich behilflich, „objektive gesellschaftliche Gesetze“ bei ihrer Verwirklichung zu unterstützen, denn diese würden sich so oder so vollziehen. Das war eine Grundannahme des Marxismus-Leninismus.
Die Partei nach Lenin war als Avantgarde dabei nur so etwas wie ein Brandbeschleuniger. Das einzelne Mitglied war nichts, die Partei als Ganzes alles. Dieses verquere Denken war den Parteikommunisten wie eine Religion eingebrannt. Daher sahen sie auch alle fast gleich aus und redeten alle fast gleich langweilig und geschachtelt und geradezu idiotisch. Weil jeder einzelne immer nur der Verkünder war, bedurfte es keiner markanten Individuen. Sie glaubten, im Namen der Objektivität zu handeln und zu sprechen, daher käme es nicht auf die Form an – und der Inhalt war unbeeinflussbar, weil „die Partei“ ihn lediglich aus der „objektiven Notwendigkeit“ und den „objektiven Gesellschaftsgesetzen“ ganz und gar „objektiv“ abgeleitet, herausgenommen, gleichsam wie Michelangelo vom überflüssigen Stein befreit hätte.
Egon Krenz konnte sich von dieser Gestanztheit bis heute nicht befreien. Nur einmal wird er nahbar. Als seine Mutter Ende der 1950er-Jahre erfährt, dass er Berufsfunktionär werden soll, wird sie zornig und sagt: „Wenn es einmal anders kommt, hängen sie dich auf.“ Das war ein in der DDR durchaus verbreiteter Satz, den sich nicht wenige Kommunisten von ihren engsten Familienangehörigen gefallen lassen mussten. Krenz fügt noch hinzu, zum Glück habe seine Mutter nicht mehr erleben müssen, wie „ein Bänkelsänger“ ihn 1990 „an die Laterne“ gewünscht habe. Krenz meint Wolf Biermann, ohne ihn namentlich zu erwähnen. Das ist ein typisches Beispiel, wie Krenz mit Quellen und der historischen Genauigkeit umgeht. Biermann hatte tatsächlich im Herbst 1989 in einem berühmten Lied gedichtet:
„Hey Krenz, du fröhlicher kalter Krieger Ich glaube dir nichts, kein einziges Wort Du hast ja die Panzer in Peking bejubelt Ich sah dein Gebiss beim Massenmord Dein falsches Lachen, aus dir macht Fritz Cremer Ein Monument für die Heuchelei Du bist unsre Stasi-Metastase Am kranken Körper der Staatspartei Wir woll‘n dich doch nicht ins Verderben stürzen du bist schon verdorben genug Nicht Rache, nein, Rente! im Wandlitzer Ghetto Und Friede deinem letzten Atemzug.“
1992 publizierte Biermann dann einen Essay „à la lanterne!“, in dem eingangs tatsächlich steht, Krenz an die Laterne. In diesem wütenden, gleichwohl ungemein anregenden und klugen Essay schreibt Biermann aber zum Schluss hin, er sei nicht mehr seiner eigenen Meinung, ist gegen den Mord wie den empfohlenen Selbstmord, er sei nur ohnmächtig gegenüber dem gesprochenen Recht. „Schlimmer als der Sturz in irgendeinen Tod kann ja der Sturz ins Weiterlebenmüssen sein.“ Doch solcherart Differenzierungen sind nicht Krenz‘ Sache.
Der entwirft lieber eine DDR, wie es sie nur in den Köpfen ihrer einstigen Befehlsgeber und ihrer eifrigsten Befehlsempfänger und -empfängerinnen gab und gibt. So leugnet er, dass in der DDR Antisemitismus existiert habe. Mit keinem Wort geht er auf das Verhältnis zu Israel ein, er umgeht die Frage der „Wiedergutmachung“, beschweigt das Schicksal von Kommunist Paul Merker oder erwähnt nicht einmal, warum Kommunist Jürgen Kuczynski als Chef der deutsch-sowjetischen Freundschaftsgesellschaft abgelöst wurde – das sind nur wenige prominente Beispiele, die er unerwähnt lässt, weil sie seinen Geschichtsklitterungen entgegenstehen. Für ihn war Religion in der DDR überdies „Privatsache“, für die sich der Staat angeblich nicht interessierte.
Abstruses zum Mauerbau
Besonders abstrus, aber in Krenz-Kreisen weit verbreitet, ist seine These, dass die Mauer nicht am 13. August 1961 errichtet worden sei, sondern der Westen diese am 18. Juni 1948 erbaute, als er die D-Mark einführte. „1961 wurde durch die Warschauer Vertragsstaaten lediglich befestigt, wofür die Westmächte 1948 den Grundstein gelegt hatten.“ (S. 49) Krenz bezeichnet die Mauer als das „hässlichste“, aber „leider auch das notwendigste“ Bauwerk (S. 138). Angeblich sei die Mehrheit der Deutschen erleichtert gewesen, um so einen Krieg abzuwenden. Solcherart Geschichtsfälschung wird wohl erst mit dem Aussterben des postkommunistischen Milieus untergehen. Dass er aber auch die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings verbrämt als notwendig hinstellt (S. 228), macht ihn selbst in kommunistischen Kreisen zu einem Außenseiter. Bis ins Personenregister am Ende des Buchs setzt sich das fort Dort ist etwa unter Alexander Dubček nicht etwa von einem Einmarsch sondern verharmlosend nur von einer "konzertierten Aktion der verbündeten Warschauer Paktstaaten im Sommer 1968" die Rede.
Völlig neu ist seine Deutung des Besuchs von Willy Brandt in der DDR 1970. Bekanntlich riefen in Erfurt hunderte Menschen „Willy, Willy“ und meinten damit nicht SED-Funktionär Stoph. Krenz nun tischt aus Historikersicht ein neues Märchen auf: Weil es so etwas in der DDR eigentlich nicht geben konnte, muss das von außen organisiert worden sein. Zur Abwechslung waren dafür mal nicht CIA oder BND verantwortlich, sondern, so murmelt Krenz, die „Freunde aus Karlshorst“, die im Machtkampf mit Ulbricht Honecker zur Seite springen wollten (S. 181).
Auch dass einige Deutsche aus politischen Gründen mit Deutschen im anderen Staat keinen Kontakt pflegen durften, war keine Erfindung der DDR, sondern ein Massenphänomen in der Bundesrepublik, so Krenz. Ja, über Menschenrechte wurde zwischen Ost und West nicht gesprochen auf Regierungsebene, weil die „Bonner Politiker“ im „Glashaus“ saßen. Beispiel gefällig? „Beispielsweise unterband die Bundesregierung den Transfer der sogenannten ‚Mündelgelder‘ in die DDR. Obwohl westdeutsche Väter, deren Kinder in der DDR lebten, an die sorgeberechtigten Personen in der DDR Geld einzahlten, weigerte sich die Bundesregierung, diese Beiträge weiterzuleiten.“ (S. 229). Krenz unterschlägt, und das ist typisch für seine Darstellungsmethode, gleich drei Fakten: Erstens handelte es sich um eine sozialstatistisch gesehen vernachlässigbare Gruppe. Zweitens wusste die Bundesregierung, dass das West-Geld nicht an die Empfängerinnen weitergereicht, sondern in den DDR-Staatshaushalt fließen würde. Und drittens will Krenz damit den devisenträchtigen DDR-Menschenhandel mit über 33 000 Häftlingen überschreiben, den er mit keiner Silbe erwähnt.
Auf Stalins und Putins Seite
Man mag dies alles noch als verspinnerten Unsinn eines alten Mannes abtun. Wie gefährlich solche Weltsichten aber tatsächlich sind, offenbart Krenz selbst. Er geht auch auf die berühmte Stalin-Note von 1952 ein, als der sowjetische Diktator den Westmächten Verhandlungen über freie Wahlen und die Neutralität Deutschlands anbot. Die lehnten ab. Die Debatte über die Stalin-Noten fragt seither, wie ernst der Kremlchef es damals meinte, ob es nur ein taktisches Vorpreschen war oder ob sie sich nur an die bundesdeutsche Gesellschaft richteten, um so Adenauer, der Freiheit über Einheit gestellt hatte, zu diskreditieren.
Die quellengestützte Forschung ist sich uneins über die Frage, wie Stalin ganz Deutschland erobern wollte, nicht darüber, ob er es tun wollte. Die Weltsicht von Krenz kommt in einem einzigen Satz zum Ausdruck: „Was wäre uns Deutschen alles erspart geblieben, wenn der Westen auf die sowjetischen Vorschläge eingegangen wäre!“ (S. 68) Historisch kontextualisiert trauert der vorletzte SED-Boss also der Hoffnung nach, ganz Deutschland wäre nach Stalins Ideen geformt worden. Dazu passt auch, dass Krenz nicht einmal von Verbrechen spricht, wenn er auf den sowjetischen Diktator zu sprechen kommt. Er redet wie ehedem von „Personenkult“ und „Verletzungen der Gesetzlichkeit“. Mit anderen Worten: Ihm erscheinen Millionen ermordete Sowjetmenschen immer noch als notwendige Kollateralschäden.
Von diesem inhumanen Weltbild ist es nur ein kleiner Schritt in diesen Erinnerungen zur Apologie der Putin-Diktatur. Ganz im Stil großrussischer und neoimperialer Geschichtsdeutungen berichtet Krenz, wie er 1983 in der Ukraine gemeinsam mit Kosmonaut Sigmund Jähn im Donbass Treffen mit Einheimischen hatte. Er trifft dort eine Ukrainerin, die bei Krenz wie selbstverständlich zu einer Russin wird. In den imperialistischen Erzählungen der russischen und deutschen Kommunisten (und nicht nur dieser) ist die Sowjetunion ein Synonym für Russland. Und genau darauf aufbauend erzählt Krenz, wie in den vergangenen Jahren in der Ukraine, unterstützt vom Westen, Kräfte „die Macht an sich gerissen“ haben, die Russland und die Russ*innen unterdrücken wollen. Er spricht davon, wie sich überall in der Ukraine „Naziorganisationen“ bildeten und das Land fest im Griff hielten (S. 71-72).
Unerschütterlich, wie es in der DDR hieß, zeigt sich Krenz in seiner Treue zum einstigen KGB-Offizier Putin und käut dessen Lügen wieder, die nichts weiter darstellen als eine Rechtfertigung des faschistischen Angriffs Russlands auf die freie Ukraine und des Versuchs, Land und Menschen zu vernichten. Bezeichnenderweise ist der Eintrag im Personenregister zu Stepan Bandera, der nur einmal kurz erwähnt wird, einer der längsten in diesem Buch – und zugleich einer der fehlerhaftesten. Dessen Ermordung 1959 in München durch den KGB wird als Ergebnis einer „Geheimdienstoperation“, dessen Opfer Bandera wurde, bezeichnet (S. 252). Jeder Hinweis auf die sowjetischen Mörder fehlt selbstredend.
Sehr ehrlich beschreibt Krenz übrigens, wie ihn Stalins Tod lähmte, orientierungslos machte. Gleichwohl: „Die Sowjetunion wurde für mich über die Jahre so etwas wie die zweite Heimat.“ (S. 90) Das erklärt nicht nur das Verhalten solcher farblosen Funktionäre wie Krenz in der DDR. Auch für ihn dürfte gelten, dass er den Untergang der Sowjetunion als noch weitaus dramatischer und einschneidender empfunden haben dürfte als den Zerfall des Mauerstaates. „Moskau“ ging als Sehnsuchtsziel unter. Die Kommunisten brüllten seit Ende der 1920er-Jahre „Heil Moskau!“, unterließen das ab 1945 aus bekannten Gründen, fühlten und dachten aber so bis zum krachenden Untergang – und eben darüber hinaus. Krenz mag vielleicht kein so treuer Anhänger Putins sein wie er das jahrzehntelang gegenüber anderen Kremlherrschern war. Aber dessen Feindschaft zum Westen lässt die kleinen Differenzen verblassen und wirkt so, als ob Krenz auf einen neuen Anlauf Russlands zur Weltherrschaft hoffe. Krenz schreibt, er selbst habe gelernt, russisch zu denken, und faselt selbstverständlich von der angeblichen „russischen Seele“ (S. 155). Nun denn.
Es ist sehr interessant, dass Krenz im ersten Band seiner schmalen Erinnerungen mit keinem Wort auf die Grundfrage des kommunistischen Regimes eingeht: Wie war es eigentlich legitimiert? Der Autor redet von Wahlen in der FDJ, der SED und zur Volkskammer so, als handele es sich um einen Vorgang wie in westlichen Demokratien. Mit keinem Wort geht er auf gesellschaftliche Strömungen ein, die sich gegen die SED-Linie richteten. Das gibt es bei Krenz nicht. Die SED stellt er wie einen Verein zur demokratischen Wahrung der Rechte aller dar. Wahrscheinlich ist ihm nicht einmal bewusst, welch absurden Bilder er dabei transportiert. So berichtet er, dass unter Ulbricht die Parteitage lebendige Veranstaltungen gewesen seien, auf denen selbst die Parteivorderen „ihre Bockwurst wie die anderen auch in den Wandelgängen“ aßen. Unter Honecker wurde alles „steifer“ und „formaler“. „Bei späteren Parteitagen und Konferenzen zogen sich die Politbüromitglieder immer öfter in die für sie bestimmten Räume zurück. Sie blieben dort unter sich. Leider.“ (S. 121).
Krenz „vergisst“ an dieser Stelle zu erwähnen, dass auch er zu diesen „Leider-Politbüromitgliedern“ zählte. Demzufolge hinterfragt er natürlich auch nicht das Demokratieverständnis dieser Truppe. Noch heute scheint es ihm angemessen, dass in kleinsten Kungelgruppen ausgeheckt wurde, wer künftig welche Funktion übernehmen sollte. Wenn er schreibt: „Aufrichtigkeit sowie die Einheit von Politik und Moral waren mir in jeder meiner Funktionen wichtig“ (S. 124), so erscheint das nicht einmal als Hohn, sondern nur als dummdreistes Gerede eines Mannes, der aus meiner Sicht nichts, also wirklich gar nichts begriffen, aber die SED-Ideologie verinnerlicht hat. Er glaubt (wie sein Vorbild Ulbricht offenbar ein Goethe-Verehrer) in der Geschichte gehe es allein darum, „Amboss oder Hammer“ zu sein (S. 147). Seine Wahl war eindeutig.
Nach seiner Rückkehr 1967 aus Moskau von dem mehrjährigen Studium der „KPdSU-Wissenschaften“ erlebte Krenz die Hofkämpfe zwischen Ulbricht und Honecker. In seinen Erinnerungen stellt er diese fast nicht aus eigenem Erleben (was interessant gewesen wäre) dar, sondern stützt seine Darstellung auf hinlänglich bekannte Quellen, die er freilich – wie es seine Art ist – nur so heranzieht und zitiert, wie es in seine Deutungen passt. Der Umgang mit parteilichen Quellen ist deswegen zu erwähnen, weil Krenz (wie viele andere Menschen) ein offenbar übersteigertes Bild von Historiker*innen hat. Auch ihm gelten sie nur dann dieser Berufsbezeichnung als halbwegs würdig, wenn ihnen erstens keine Fehler unterlaufen und wenn zweitens ihre Geschichtswerke haargenau mit der eigenen Sicht übereinstimmen.
Dabei hätte es dem Unterstufenlehrer und leninistischen Gesellschaftswissenschaftler nach 1989 nicht geschadet, an einer freien Universität ein Zusatzstudium zu belegen, um sich etwas in Propädeutik und Quellenkunde unterrichten zu lassen. Als er etwa im Frühjahr 2020 in der Berliner Zeitung einen nicht uninteressanten, durchaus glaubwürdigen Beitrag über Fragen der deutschen Einheit im November 1989 auf der Grundlage von Dokumenten veröffentlichte, die nur er besitzt, tat ich, was Historiker*innen in solchen Fällen zu tun pflegen: Ich bat Krenz darum, mir Einsicht in diese Dokumente zu gewähren, damit ich seine These prüfen kann. Er tat, was solche Berufsfunktionäre immer taten: Er lehnte ab.
Mit der Angst eines Insiders
So bleibt der größte Teil der Erinnerungen von Egon Krenz ziemlich farblos – er schreibt viel zu selten mit dem Blick eines Insiders, sondern viel zu häufig mit der Angst eines Insiders, Herrschaftswissen preiszugeben. Vor allem den ersten Kapiteln bis etwa 1960 – da war Krenz 23 Jahre alt – lassen sich einige atmosphärische Schilderungen entnehmen, die den Menschen Krenz und sein Gewordensein, seine Erfahrungsräume konturieren. Dann verblasst die Darstellung zunehmend und wird mit jeder Funktion von Krenz partei- und staatstragender. Als Person kommt er kaum noch vor. Das meiste ließe sich auch einem Geschichtsbuch der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke entnehmen. Und wer deren Ausarbeitungen kennt, weiß, dass dies jetzt kein verstecktes Lob ist.
Das Buch bricht mit dem 9. Januar 1974 ab, Egon Krenz ist im Alter von knapp 37 Jahren zum Chef der SED-Jugendorganisation gewählt worden, er folgt Erich Honecker: "Der FDJ-Vorsitzende von einst hielt seine schützende Hand über mich, seinen Nachfolger im Jugendverband". Erst als Gorbatschow in Moskau das Ruder übernommen habe, hätte sich dieses "kameradschaftliche Verhältnis" unter den beiden Parteifunktionären geändert. „Doch dazu später“ (S. 249). Dem schließe ich mich an: Fortsetzung folgt...
Zitierweise: Ilko-Sascha Kowalczuk, "Geschichtsklitterungen - Über die Memoiren von Egon Krenz“, in: Deutschland Archiv, 27.06.2022, Link: www.bpb.de/509804. Veröffentlichte Texte im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker, spezialisiert auf die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, lange Zeit war er tätig in der Stasi-Unterlagenbhörde. Zeitweise war er Mitglied der Regierungskommission "30 Jahre Revolution – 30 Jahre Deutsche Einheit". Sein jüngstes Buch, erschienen 2021 in der bpb: (Ost)Deuschlands Weg I+II, 80 Studien, Prognosen, Essays (bpb-Schriftenreihebände 10676 I+II).
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