Flucht und Asyl als europäisiertes Politikfeld: Errungenschaften und Harmonisierungsziele
Das deutsche Asylrecht wird seit Mitte der 1990er Jahre in immer stärkerem Maße durch gemeinsame europäische Regelungen zum Flüchtlingsschutz geprägt. Es unterliegt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Deutschland ist es aber gelungen, restriktive Instrumente aus der nationalen Asylpolitik auch im Gemeinschaftsrecht zu verankern.
Flüchtlingspolitische Fragen sind innerhalb der Europäischen Union vergleichsweise spät zum Gegenstand von Integrationsbemühungen geworden. Erst nachdem Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten 1985 das sogenannte Schengener Abkommen zum schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen im Personenverkehr geschlossen und sich ein Jahr später die Staats- und Regierungschefs der damals 12 EG-Mitglieder in der Einheitlichen Europäischen Akte auf die Vollendung des europäischen Binnenmarktes geeinigt hatten, wurde der Bedarf nach gemeinsamen europäischen Regelungen deutlich. Denn durch den Verzicht auf Grenzkontrollen würden fortan auch Schutzsuchende ungehindert in andere Mitgliedstaaten weiterwandern und dort einen Asylantrag stellen können.
Entwicklung eines rechtlichen Rahmens
Das Schengener Abkommen, das später in den rechtlichen Besitzstand der Europäischen Gemeinschaft integriert wurde, sah neben dem Abbau der Binnengrenzkontrollen auch eine Angleichung der Vorschriften zur Visaerteilung vor. Um die potenziellen Sicherheitsrisiken zu minimieren, die sich aus dem Wegfall der Binnengrenzkontrollen ergaben, einigten sich die "Schengen-Staaten" auf eine bessere Kontrolle der Außengrenzen der Gemeinschaft. Das 1990 geschlossene Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ oder "Schengen II") markierte den Ausgangspunkt einer gemeinsamen Einwanderungskontrollpolitik[1], zu deren zentralen Inhalten fortan auch Regelungen zum Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden zählten. Das sogenannte Dubliner Übereinkommen von 1990 markierte den Grundstein, indem es Regelungen zur Zuständigkeit für einen Asylantrag festlegte.[2] Demnach sollte derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Schutzbegehrens und die Unterbringung zuständig sein, der die wichtigste Rolle bei der Einreise des Asylbewerbers gespielt hatte – wenn der Antragsteller etwa zu bereits im Land lebenden engen Verwandten reiste oder er vorher im Besitz eines Visums oder einer Aufenthaltserlaubnis dieses Staates war. Dadurch sollte zum einen sichergestellt werden, dass stets nur ein Staat die Verantwortung für den Asylbewerber hat und das Phänomen von "Refugees in Orbit" – Schutzsuchende, für deren Versorgung und Asylprüfung sich niemand zuständig fühlt und die sich ohne Status in der Europäischen Gemeinschaft bewegen – vermieden wird. Zum anderen sollte jedes Schutzbegehren nur einmal inhaltlich geprüft werden, um keinen Anreiz zum "Asylum-Shopping" – der wiederholten oder gleichzeitigen Antragstellung in unterschiedlichen Mitgliedstaaten – zu setzen.Gerade Staaten wie Deutschland und Frankreich bestanden in den 1990er Jahren auf der Zuständigkeitsfestschreibung nach dem Dubliner Übereinkommen, da sie befürchteten aufgrund ihrer hohen Schutz- und Unterbringungsstandards innerhalb der Gemeinschaft zum "Reserveasylland" zu werden, in dem das Gros der Schutzsuchenden Asyl beantragen würde bzw. in dem auch ökonomisch motivierte Migranten ohne akutes Verfolgungsschicksal ihr Glück versuchen würden.[3] Darüber hinaus setzte sich Deutschland auf europäischer Ebene erfolgreich für restriktive Instrumente wie die Möglichkeit zur Festlegung "sicherer Herkunftsländer" bzw. "sicherer Drittstaaten" oder beschleunigte Verfahren bei "offensichtlich unbegründeten Asylanträgen" ein.[4] Das Dubliner Übereinkommen trat am 1. September 1997 in Kraft und gilt seit 1. Januar 1998 für alle EU-Mitgliedstaaten. In den meisten Fällen ist seitdem derjenige Staat für das Asylverfahren zuständig, in den ein Schutzsuchender zuerst eingereist ist bzw. in dem er sich nachweislich zuerst aufgehalten hat.
Mit dem ebenfalls 1997 verabschiedeten Vertrag von Amsterdam schrieben die Mitgliedstaaten die Entwicklung einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik als Beitrag zur Verwirklichung eines "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" vertraglich fest. Seit Inkrafttreten am 1. Mai 1999 gehört die Regelung asyl- und flüchtlingspolitischer Fragen somit zu den "vergemeinschafteten" Politikbereichen: In den EG-Vertrag wurde die verbindliche Beachtung bedeutsamer internationaler Abkommen aufgenommen, darunter die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Innerhalb von fünf Jahren sollten in der EU-Flüchtlingspolitik Mindestnormen sowohl für die Aufnahme von Asylbewerbern als auch für die rechtliche Anerkennung und für die Durchführung von Asylverfahren geschaffen werden; außerdem war eine Weiterentwicklung des Dubliner Übereinkommens sowie die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Aufnahme von Vertriebenen oder anderweitig Schutzbedürftigen vorgesehen.
Im Rahmen einer Sondertagung des Europäischen Rats im Oktober 1999 in Tampere wurde das Ziel der Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), das sich auf die "uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der GFK stützt", erstmals konkretisiert. Die Kommission erhielt den Auftrag, entsprechende Richtlinienvorschläge zu erarbeiten. Daneben sahen die Beschlüsse des Europäischen Rats vor, dass auf längere Sicht gemeinsame Asylverfahren und ein unionsweit geltender Status für Asylberechtigte geschaffen werden sollte.[5] Die Beschlüsse waren integrationspolitisch in mehrfacher Hinsicht sinnvoll: Zum einen entsprachen sie der Logik, das vereinigte Europa als Binnenraum mit möglichst weitgehenden Möglichkeiten der Personenfreizügigkeit zu betrachten; zum anderen versprachen sie durch die geplanten Mindeststandards in vielen EU-Staaten eine konkrete Verbesserung der asylrechtlichen Situation für Schutzsuchende.
Einen wichtigen Schritt für das europäische Asylrecht markierte auch die Arbeit des Grundrechtekonvents: Er nahm das Asylrecht nach Maßgabe der GFK von 1951 und des Protokolls von 1967 explizit in die EU-Grundrechtecharta auf (Art. 18) – proklamiert anlässlich der Regierungskonferenz von Nizza im Dezember 2000, in Kraft getreten mit dem Vertrag von Lissabon im Dezember 2009 – womit ihm eine Art Verfassungsrang zukommt.
Auch wenn sich die in Tampere verabredeten Ziele als zu ambitioniert erwiesen und es – nicht zuletzt bedingt durch die Terroranschläge des 11. September 2001 und den daraufhin geführten Sicherheitsdiskurs – zu Verzögerungen bei der Umsetzung kam, konnten bis 2005 vier zentrale Rechtsinstrumente des GEAS beschlossen werden. Diese bilden bis heute die Achsen der gemeinsamen Asylpolitik (siehe Tabelle 1). Es handelt sich um
1) die "Qualifikationsrichtlinie", die Mindestnormen für die Anerkennung von Asylbewerbern sowie die Rechte von anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Geschützten festlegt;
2) die "Aufnahmerichtlinie", die Standards zu sozialen Aufnahme-, Unterbringungs- und Versorgungsbedingungen definiert;
3) die "Asylverfahrensrichtlinie", die das Ziel einer Standardisierung bei der Durchführung von Asylverfahren verfolgt sowie
4) die Dublin-II-Verordnung, die das Dubliner Übereinkommen ablöste.
Zudem legte die sogenannte Eurodac-Verordnung fest, dass bei der Antragstellung die Fingerabdrücke aller Asylbewerber abgenommen werden und anschließend zusammen mit weiteren Daten in einer EU-weiten Datenbank für die Asylbehörden der Mitgliedstaaten verfügbar sind. Dadurch soll leichter bestimmt werden können, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Außerdem trat am 8. August 2001 eine Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (auch: Massenzustromrichtlinie) in Kraft: Nach den Flüchtlingskrisen infolge der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien wollte die EU einen gemeinsamen Mechanismus zur schnellen Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen und Vertriebenen bei ähnlichen Krisen einrichten. Für jeden Mitgliedstaat sollte dabei eine bestimmte Aufnahmequote festgelegt werden. In der Richtlinie einigte man sich jedoch lediglich auf Mindestnormen für die temporäre Aufnahme; ansonsten blieb es beim Grundsatz der Freiwilligkeit: Die Mitgliedstaaten können also weiterhin selbst ihre Aufnahmekapazität bestimmen.[6]
Im innenpolitischen Fünfjahresprogramm der EU für die Jahre 2005 bis 2010 (Haager Programm) wurden neben einer gemeinsamen europäischen Asylregelung vor allem sicherheits- und abwehrbezogene Maßnahmen wie die verstärkte Bekämpfung irregulärer Migration verabredet. Mit der sogenannten Rückkehrrichtlinie[7] verfügt die EU seit 2008 über gemeinsame Vorschriften zur Abschiebung und zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen und (Wieder-)Einreiseverboten. Diese zielen auch auf abgelehnte Asylbewerber, die sich weiterhin illegal in der EU aufhalten. Bereits im Oktober 2004 wurde per Ratsverordnung die Agentur Frontex mit Hauptsitz in Warschau eingerichtet, die seitdem die Überwachung der Europäischen Außengrenze zentral koordiniert.[8]
Auf dem langen Weg zu einem gemeinsamen Asylsystem
Die erste Harmonisierungsphase des gemeinsamen Asylrechts (GEAS I) zwischen 2000 und 2007 legte zwar wichtige Grundsteine, konnte zentrale Herausforderungen jedoch nicht lösen. Viele der Vorgaben und Mindeststandards waren zu vage und wurden von den Mitgliedstaaten z. T. bewusst unterschritten. Problematisch blieben vor allem die großen Unterschiede zwischen den nationalen Schutzquoten, aber auch die mangelhaften Unterbringungs- und Verfahrensstandards in einigen EU-Mitgliedstaaten wie z. B. Griechenland, Italien oder Zypern. Vor diesem Hintergrund legte die Europäische Kommission 2007 ein Grünbuch mit konkreten Vorschlägen für die Weiterentwicklung des Europäischen Asylsystems vor.[9] Zentrale Ziele waren eine weitere Harmonisierung und Anhebung der Schutzstandards, die Schaffung eines Unterstützungsbüros für Asylfragen sowie eine größere Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme zwischen den EU-Staaten und gegenüber Drittstaaten. Diese Prioritäten übernahm der Europäische Rat 2009 im "Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl" sowie im innen- und justizpolitischen Fünfjahresplan für die Jahre 2010 bis 2014 (Stockholmer Programm).Die Verhandlungen um das Reformpaket waren langwierig, führten aber schließlich zur Novellierung der einschlägigen Rechtsgrundlagen zwischen 2011 und 2013 (GEAS II). Diese müssen bis Mitte 2015 in nationales Recht umgesetzt werden. Insbesondere durch die Neufassung der Qualifikationsrichtlinie kam es zu einer Verbesserung des materiellen Flüchtlingsschutzes. Zudem bestehen nun die Voraussetzungen für stärker vereinheitlichte Standards bei der Unterbringung und bei der Durchführung der Asylverfahren (siehe Tabelle 1).
i
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO)
* EASO (2014).