Zur Inklusion von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das deutsche Schulsystem
Ein Flucht- bzw. Migrationshintergrund wird in der Schule nicht nur als Unterscheidungsmerkmal, sondern zumeist auch als Defizit wahrgenommen. Kinder und Jugendliche besuchen ungeachtet ihrer schulisch relevanten Fähigkeiten und Kenntnisse häufig nicht die gleichen Klassen wie ihre Mitschüler*innen. Inwieweit ist dies zeitgemäß und pädagogisch sinnvoll?
Recht auf Bildung und Inklusion – für alle gleich?
-
"Was die Flüchtlinge angeht, wollen wir noch die Tatsache hervorheben, dass der Vorbehalt der deutschen Bundesregierung gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention praktisch die Auswirkung hat, dass die Kinder zuerst in ihrem Status als Flüchtling gesehen werden, und dann erst als Kinder."
(Bundespressekonferenz am 21.02.2006 in Berlin mit dem UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung Vernor Muñoz Villalobos) [1]
In einem separierenden (von lat. separare = trennen) Schulsystem werden die Kinder und Jugendlichen zunächst einzig und allein unter dem Kriterium angeblicher Unterschiede betrachtet und werden (noch) nicht in Regelklassen integriert.
Im Gegensatz zur Inklusion, geht das Konzept der Integration immer noch und vor allem von einer Anpassungsleistung der Schüler*innen aus.[2] Das Konzept der Inklusion richtet den Blick hingegen auf das gesellschaftliche und schulische Umfeld und deren Leistungsfähigkeit, der Vielfalt aller Schüler*innen gerecht zu werden. Somit erfolgt ein "Blickwechsel von benachteiligten Personengruppen auf die diskriminierenden Bedingungen, denen diese […] ausgesetzt sind."[3]
Hinsichtlich geflüchteter Schüler*innen ist darüber hinaus zentral, ihre bisherigen (Lern-)Erfahrungen und persönlichen Interessen jenseits von Krieg und Vertreibung zu berücksichtigen. Aus diesem Grund erscheint uns auch der Begriff "Flüchtling" als problematisch. Damit verbunden ist nämlich die Gefahr, dass der Status eines Flüchtlings "zum identitätsbestimmenden Merkmal stilisiert" wird, sodass "alle anderen Persönlichkeitsmerkmale [...] diesem einen Kriterium nach- und untergeordnet" werden.[4]
Dies hat u.a. zur Folge, dass in der öffentlichen Wahrnehmung der letzten Jahre "geflüchtete Menschen unmittelbar zum Opfer der Umstände" wurden, während angeblich "die Aufnahmeländer ihre Retter" waren.[5] Die Folge davon lässt sich als "Viktimisierung" (von lat. victima = Opfer) beschreiben. Mit diesem Begriff, den man mit "Zum-Opfer-Machen" übersetzen könnte, werden die Kinder und Jugendlichen nicht als aktiv Gestaltende und kompetent Handelnde angesehen, sondern eher als passiv, inkompetent und hilfsbedürftig. Die Effekte dieser "Viktimisierung" sind für die betroffenen Kinder und Jugendlichen "höchst problematisch".[6] Sie lenkt außerdem von der eigentlichen Herausforderung ab, für alle Kinder und Jugendlichen den Zugang zum deutschen Bildungssystem und insbesondere zu Regelklassen zu ermöglichen.
Modelle, Daten und erste Forschungsergebnisse
Vom Menschenrecht auf Bildung sind Kinder und Jugendliche in Deutschland so lange ausgeschlossen, bis sie als Asylsuchende registriert sind, bzw. einen Antrag auf Asyl stellen konnten. Erst wenn das geschehen ist, greift auch für sie die Schulpflicht. Das hängt unter anderem mit fehlenden Rechten in der Migrationsgesellschaft Deutschland zusammen: Nur in einigen Bundesländern (Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein) setzt die Schulpflicht "schon mit dem Asylantrag ein".[7] Demgegenüber räumen Sachsen und Sachsen-Anhalt für Geflüchtete nur ein Schulbesuchsrecht ein.[8] In einigen Bundesländern entstehen so Wartezeiten von drei bzw. sechs Monaten zwischen der Ankunft in Deutschland und dem Einsetzen der Schulpflicht. Darüber hinaus werden z.B. in Schleswig-Holstein geflüchtete Kinder und Jugendliche mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Flüchtlingsunterkünften unterrichtet statt in einer Schule. Je nach Bundesland werden in Städten mit einer hohen Anzahl neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher speziell für sie "Vorbereitungsklassen", "Auffangklassen" und "Internationale Förderklassen" eingerichtet. Ein zentraler Unterschied dieser Klassen besteht darin, dass "Vorbereitungsklassen" vor Schuljahresbeginn und "Auffangklassen" während des laufenden Schuljahres gebildet werden. "Internationale Förderklassen" findet man an Berufskollegs. Außerdem werden neu zugewanderte Schulpflichtige in einer sogenannten Einzelintegrationsmaßnahme einer Regelklasse beschult. Dieses schulorganisatorische Modell wählen meist Kommunen und Kreise mit einer im Vergleich zu Städten geringeren Anzahl neu zugewanderterSchüler*innen. Dabei werden diese Kinder und Jugendlichen "in Regelklassen mit zusätzlicher Deutschförderung in Kleingruppen beschult".[9]Diese Form der gemeinsamen, nicht-separierenden Beschulung scheint allerdings die Ausnahme zu sein: Aus organisatorischen Gründen und nicht etwa aufgrund pädagogischer Argumente sind beispielsweise im Großraum Köln im Schuljahr 2014/15 über 90 Prozent der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen in "Vorbereitungsklassen" beschult worden. Kinder und Jugendliche mit einem rechtlich unsicheren Status laufen darüber hinaus Gefahr, auch von diesen schulorganisatorischen Modellen ausgeschlossen zu werden und somit überhaupt keinen Zugang zum Bildungssystem zu erhalten: Davon betroffen sind vor allem minderjährige Geflüchtete mit dem Aufenthaltsstatus einer Gestattung oder Duldung, solche, die (je nach Bundesland nach neun oder zehn Jahren Schulbesuch) "nicht mehr der allgemeinen Schulpflicht unterliegen", unbegleitete minderjährige Kinder und Jugendliche sowie sogenannte Statuslose bzw. Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltserlaubnis.[10]
Inwiefern das Recht auf Bildung eingelöst wird, kann aufgrund der mangelnden Datenlage und fehlender Forschungen nicht beantwortet werden. Einerseits ist statistisches Material zur Bildungsteilhabe für die Gruppe junger Geflüchteter in Deutschland "nicht vorhanden".[11] Insbesondere auf Bundes- und Länderebene ist die Schulstatistik noch weit davon entfernt, Informationen zur Bildungssituation von Geflüchteten und Asylbewerber*innen bereitzustellen. Andererseits liegen für alle Gruppen von geflüchteten Schüler*innen bis heute keine Studien zur Wirksamkeit der verschiedenen schulorganisatorischen Modelle vor. Darüber hinaus fehlen auch "gänzlich" Forschungsdaten und Ergebnisse über die bisherigen Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrungen.[12] Insofern können hier keine Aussagen zum Bildungserfolg von geflüchteten Schüler*innen getroffen werden.
Allerdings kann aufgrund erster Forschungsarbeiten angenommen werden, dass geflüchteten Schüler*innen in der Schule eher defizitorientiert begegnet wird, dass also zunächst das gesehen wird, was sie angeblich nicht können. Auf der Grundlage unserer eigenen ethnographischen Studien in "Vorbereitungsklassen" in NRW für neu Zugewanderte lässt sich u.a. die Hypothese aufstellen, dass sogar die bereits erworbenen schulisch relevanten Kompetenzen und Stärken der Schüler*innen nicht im Unterricht berücksichtigt werden. Neben lebenspraktischen oder auch fachspezifischen Kenntnissen kann das etwa eine Mehrsprachigkeit auch im schriftsprachlichen Bereich sein. Die Berücksichtigung dieser Kompetenzen könnte den Erwerb des Deutschen unterstützen. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Schulkinder mit Fluchtbiographie systematisch auf ihre fehlenden Deutschkenntnisse und ihren Status als "DaZ-Schüler*innen" (DaZ = Deutsch als Zweitsprache) reduziert werden. Sie gelten als eine Gruppe, die vorrangig einen Deutschkurs benötigt, um überhaupt an dem monolingual (= einsprachig) deutsch organisierten Bildungsangebot teilnehmen zu dürfen. Dies verblüfft auch vor dem Hintergrund der steigenden Nachfrage nach bilingual englischem Unterricht, insbesondere an Gymnasien.
Aus Sicht von Lehrkräften, die geflüchtete Schüler*innen unterrichten, stehen außerdem oft vermutete Traumatisierungen im Vordergrund. Bereits vor über zehn Jahren hat Louis Henri Seukwa (2006) diese einseitige Fokussierung auf Fluchtbiographien als Opferbiographien kritisiert. Er hat aufgezeigt, dass junge Geflüchtete Kompetenzen und Stärken besitzen, die sie sich in Form von (Über-)Lebensstrategien in ihrem Herkunftsort und/oder während der Flucht angeeignet haben. Er nennt dies den "Habitus der Überlebenskunst". Diese Kompetenzen stellen wichtige Ressourcen bei der Alltagsbewältigung im deutschen bzw. europäischen Migrationsregime dar. Diese Fähigkeit, Bewältigungsstrategien für schwierige Lebenssituationen zu entwickeln, fasst man unter dem Begriff Resilienz zusammen. Dass junge Geflüchtete als eine solche "resiliente Bevölkerungsgruppe“ betrachtet werden können, bekräftigt auch eine aktuelle Studie.[13]
Herausforderungen für die deutsche Schule
Unter Berücksichtigung der zu Beginn des Beitrags zitierten Aussage des UN-Sonderberichterstatters und seiner Feststellung, dass in Deutschland "die Erwartungen an die Lehrkräfte in vielen Fällen ihre realen Gestaltungsmöglichkeiten in der Bildung übersteigen", ist im Hinblick auf spezifische Herausforderungen für Lehrkräfte auf folgende Paradoxie zu verweisen: Lehrkräfte sollen das Potenzial der Schülerschaft erkennen und weiterentwickeln sowie ihnen Zukunftsperspektiven aufzeigen. Doch für geflüchtete Kinder und Jugendliche besteht gerade aufgrund der diskriminierenden schulischen Realität die Gefahr der Exklusion und somit steht den Anforderungen an die Lehrkräfte eine strukturell bedingte Perspektivlosigkeit gegenüber.Zur schulischen Inklusion von geflüchteten Schüler*innen würde daher eine ressourcenorientierte Perspektive beitragen, durch die Kinder und Jugendliche als angehende Deutsch- bzw. Mehrsprachige wahrgenommen werden. Entsprechende sprachdidaktische Konzepte liegen bereits vor – siehe z.B. den Translanguaging-Ansatz nach García (2009) – und werden in den USA auch in Sprachförderprogrammen für "immigrant newcomers" eingesetzt. Dabei erwerben die Schüler*innen nicht die neue Sprache der Mehrheitsgesellschaft einfach dazu (= additiv), sondern entwickeln und integrieren neue Sprachpraktiken in ihr bereits bestehendes, mehrsprachiges Repertoire: Auf dem Weg zum Erlernen einer neuen Sprache ist es diesem Ansatz zufolge legitim und notwendig, im Alltag und in Bildungseinrichtungen 'Sprachmischung' als Lernstrategie einzusetzen.
Mit diesem inklusiven Ansatz kann eine Schulpraxis überwunden werden, "die ausschließlich eine Varietät der deutschen Sprache, die Bildungs- oder Schulsprache sowie sogenannte Weltsprachen fördert und elaboriert, während sie zugleich die Lebenswirklichkeit mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler aus zugewanderten Familien negiert".[14] Angloamerikanische Ansätze einer "bi- oder multilingual education", der französischsprachige Ansatz "didactique du plurilinguisme" und Konzepte einer deutschsprachigen "Mehrsprachendidaktik" oder "Mehrsprachigkeitsdidaktik" sind erste Schritte in dieser Richtung. Diese Ansätze gehen gemeinsam davon aus, "dass mehr Sprachen als die bisher üblicherweise unterrichteten Schulsprachen für die sprachliche Bildung herangezogen werden sollten".[15] Damit sind nicht nur die Sprachen Englisch und Französisch, sondern alle Familiensprachen der Schüler*innen gemeint.[16]
Ein weiterer Beitrag zur Inklusion würde darin bestehen, trennende Formen der Beschulung systematisch abzubauen. Denn indem man auf Modelle wie Vorbereitungs- und Auffangklassen verzichtet, und den Blick für die Ressourcen der neuen Schüler*innen schärft, können tatsächliche Inklusion und interkulturelle Bildung realisiert werden.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Perspektiven auf die Integration von Geflüchteten in Deutschland.