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Hunger in der Welt

Rafaël Schneider

/ 8 Minuten zu lesen

Hunger in den Medien, das sind meist Bilder von Katastrophen und abgemagerten Menschen. Tatsächlich leben aber nur rund zehn Prozent aller von Hunger betroffenen Menschen in derartigen Notsituationen. Die große Mehrheit der weltweit 842 Millionen Menschen, die jeden Tag hungrig zu Bett gehen, leidet an chronischem Hunger, ohne von einer akuten Katastrophe betroffen zu sein.

Zu den Säulen der Ernährungssicherheit zählen die Verfügbarkeit, Nutzung und der Zugang zu Nahrung. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Piao Feng)

Hungernde sind schwer zu zählen

Hunger tritt ein, wenn die tägliche Energiezufuhr für einen längeren Zeitraum unter dem Bedarf liegt, der für einen gesunden Körper und ein aktives Leben benötigt wird – so definiert es die Organisation für Nahrung und Landwirtschaft (Interner Link: FAO) der Vereinten Nationen (United Nations, UN). Als Schwellenwert gelten 1.800 Kilokalorien pro Person täglich bei mäßiger Aktivität. Zum Vergleich: Jedem Deutschen stehen im Schnitt mehr als 3.500 Kilokalorien täglich zur Verfügung! Doch nicht nur eine ausreichende Energiezufuhr ist für ein gesundes Leben entscheidend, sondern auch eine Interner Link: ausgewogene Ernährung.
Will man die Zahl der Hungernden erfassen, stößt man auf viele Schwierigkeiten. Hungernde kann man nicht einfach zählen. In vielen Regionen hungern Menschen nur zu bestimmten Jahreszeiten, z.B. wenn die Vorräte nicht bis zur nächsten Ernte reichen. Während sich in manchen Krisenregionen die Versorgungslage nach dem Ende von Krisen oder Kriegen wieder verbessert hat (z.B. in Sri Lanka, Burundi oder Sierra Leone), ist Hunger in anderen Gegenden ein Dauerbrenner (z.B. in Mali, am Horn von Afrika oder in Haiti). Hinzu kommt: Steigen die Preise für Nahrungsmittel, müssen arme Menschen, die vorher leidlich über die Runden kamen, hungern oder zumindest ihre Ernährung einschränken.
Trotz der Schwierigkeiten werden Ausmaß und Schwerpunktregionen von Unterernährung regelmäßig erfasst und berechnet. Mehrere Interner Link: internationale Organisationen geben jährlich Auskunft zur Welternährungslage:

  • Bei den UN ist die FAO für die Berechnung der Hungerzahlen zuständig. In ihren gemeinsam mit zwei weiteren internationalen Organisationen (dem Welternährungsprogramm WFP und dem Fonds für Internationale Agrarentwicklung IFAD) veröffentlichten jährlichen Berichten (The State of Food Insecurity in the World, SOFI) wird die Zahl der Hungernden in jedem Land dargelegt. Die Daten werden hauptsächlich anhand der potentiellen Kalorienzufuhr (der sogenannten Netto-Verfügbarkeit von Energie) aus Nahrungsmitteln, der Bevölkerungszahl und der Einkommensverteilung der jeweiligen Länder errechnet.


  • Der Welthunger-Index (WHI) wird vom IFPRI (International Food Policy Research Institute) zusammen mit den beiden Nichtregierungsorganisationen Welthungerhilfe und Concern Worldwide herausgegeben. Er baut auf den Zahlen der FAO auf und kombiniert sie mit dem Anteil der Kinder unter fünf Jahren mit Untergewicht und der Kindersterblichkeitsrate zu einem Index. Damit beschreibt er auch den Schweregrad des Hungers und spiegelt die Vielschichtigkeit von Hunger besser wieder: So wird bspw. auch erfasst, wenn in einer an sich ausreichend versorgten Familie Nahrungsmittel ungleich verteilt werden und die Gesundheit der Kleinkinder darunter leidet.

Welternährungslage: Südasien und Afrika sind die Sorgenkinder

Weltweit sind 2013 nach Berechnungen der FAO 842 Millionen Menschen, das sind 12 Prozent der Menschheit oder etwa jeder achte Mensch, von Hunger betroffen: Das sind mehr Menschen als sämtliche Einwohner der EU, USA und Kanada zusammengenommen. Jeder vierte Afrikaner südlich der Sahara (sog. Subsahara-Afrika) hungert - insgesamt 223 Millionen Menschen. In Südasien (Bangladesch, Indien, Nepal, Pakistan und Sri Lanka) leiden sogar 295 Millionen Menschen an Hunger. Allerdings ist dort der Anteil der Hungernden an der Gesamtbevölkerung mit knapp 17 Prozent deutlich niedriger als in Subsahara-Afrika (24,8 Prozent). Auch in den Industrienationen können sich nicht alle Menschen ausreichend ernähren: Fast 16 Millionen Menschen hungern, das sind 1,4 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Der WHI für 2013 sieht die Ernährungslage in 19 Ländern als "sehr ernst" oder sogar "gravierend" an. Am dramatischsten ist die Situation in Burundi, Eritrea und auf den Komoren. Auch etwas wohlhabendere Schwellenländer sind von Hunger betroffen: In Indien ist die Hungersituation "sehr ernst", in Indonesien, Pakistan, Bolivien, Guatemala und auf den Philippinen "ernst". Im regionalen Vergleich des Welthunger-Index weist Südasien (20,7) vor Subsahara Afrika (19,2) den höchsten Wert auf.

Zum Vergleich: Noch weiter verbreitet als Unterernährung sind Interner Link: Fehl- und Überernährung: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation Interner Link: WHO leiden knapp zwei Milliarden Menschen an Mangelernährung aufgrund von Vitamin- und Mineralstoffmangel. Und mehr als eine Milliarde Menschen sind von Übergewicht betroffen, mit entsprechenden Problemen für die Gesundheit, die Gesundheitssysteme und die Wirtschaft! Zwar sind in ärmeren Ländern prozentual bisher meist weniger Menschen von diesem Überschussproblem betroffen, aber aufgrund der großen Bevölkerungszahl leben zwei von drei übergewichtigen Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Die Zahl der Hungernden sinkt nur langsam

Nach neuen Berechnungen der FAO ist die Zahl der Hungernden von etwa einer Milliarde 1990 um nur 160 Millionen gesunken – ein bescheidener Fortschritt. Bescheiden, weil eigentlich genug Nahrungsmittel für alle Menschen produziert werden und heute rechnerisch weltweit mehr Kalorien pro Person zur Verfügung stehen. Aber viele Kleinbauern, die den größten Teil der Hungernden weltweit ausmachen, produzieren nicht genug für den Eigenverbrauch - und sie sind zu arm, um genug Nahrung hinzukaufen zu können. Landlose müssen fast die gesamte Nahrung zukaufen. Eigenproduktion, Einkommen und Nahrungsmittelpreise sind daher drei der Hauptbestimmungsgründe für Hunger und Unterernährung auf der Welt. Diese hängen wiederum von mehreren Einzelfaktoren, auf die in vielen der folgenden Kapitel näher eingegangen wird.

Bescheiden sind die Fortschritte bei der Hungerbekämpfung auch gemessen an den Zielsetzungen der Weltgemeinschaft: Schon 1996 hatten sich die Staatschefs von 185 Nationen auf dem Welternährungsgipfel in Rom darauf geeinigt, die Anzahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren. Das hätte eine Verringerung von 820 auf 410 Millionen hungernde Menschen bedeutet. Doch schon im Jahr 2000 wurde dieses Ziel in der Millenniumserklärung und den Millenniumszielen der Vereinten Nationen aufgeweicht. Man gab sich nun zufrieden damit, bis 2015 nur den Anteil der Hungernden an der Gesamtbevölkerung zu halbieren. Rein rechnerisch könnte dieses Ziel erreicht werden, auch wenn die Zahl der Hungernden nur unwesentlich gesunken ist, weil gleichzeitig die Weltbevölkerung insgesamt steigt.

Nach Berechnungen des WHI hat sich die globale Ernährungssituation vor allem zwischen 1990 und 1995 bedeutend verbessert, seitdem sind die Fortschritte kleiner geworden. Die weltweiten Durchschnittswerte kaschieren dabei die großen Unterschiede zwischen einzelnen Regionen. Im Vergleich zu 1990 liegt der WHI für 2013 in Subsahara-Afrika um 23 Prozent niedriger, in Südasien um 34 Prozent und im Nahen Osten und in Nordafrika um 28 Prozent. Besonders bemerkenswert sind die Fortschritte in Südostasien, Lateinamerika und der Karibik: Dort sank der WHI in diesem Zeitraum um 50 und mehr Prozent. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass dies Trendangaben zur Hungersituation in den jeweiligen Ländern sind. Aufgrund des Bevölkerungswachstums kann die absolute Anzahl durchaus gestiegen sein, was insbesondere in Subsahara-Afrika der Fall ist.

Hunger ist ländlich und weiblich

Frauen im Entwicklungs- und Ernährungshilfe-Projekt Magoma im nördlichen Tansania (© picture alliance / Kai-Uwe Wärner)

Die Situation ist absurd: Drei von vier unterernährten Menschen leben auf dem Land, fast alle produzieren selbst Nahrung. Als Kleinbauern mit ihren Familien bewirtschaften sie allerdings nur kleine Felder, im Durchschnitt gerade einmal 1,6 Hektar (das entspricht etwa zwei Fußballfeldern). Bei den meist sehr niedrigen Erträgen können sie von dieser Fläche nicht leben. Ebenfalls häufig von Hunger betroffen sind Hirten, die als (Halb-) Nomaden immer weniger Weideflächen zur Verfügung haben, und Ureinwohner (Indigene), die sich traditionell von Waldfrüchten oder anderen Sammelprodukten ernährten, aber inzwischen oft von ihrem Land vertrieben werden. Auch auf dem Land haben manche Familien kein Land und müssen sich häufig zu sehr niedrigen Löhnen als Tagelöhner verdingen.

Neben diesen großen Gruppen von "normalen" Hungernden gibt es einige besonders stark von Hunger bedrohte Menschen: Alte, Kranke, Flüchtlinge und Dürreopfer. Außerdem sind Frauen und Kinder besonders betroffen: In vielen ärmeren Ländern sind kulturelle Traditionen und ungerechte Gesellschaftsstrukturen die Ursache dafür, dass Frauen wesentlich häufiger als Männer arm und unterernährt sind. Meist sind sie schlechter ausgebildet und haben deshalb weniger Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch haben Frauen oft schlechteren Zugang zu produktiven Ressourcen, vor allem zu Land. Kinder erhalten teilweise aus kulturellen Gründen oder wegen mangelndem Ernährungswissen nicht genug qualitativ hochwertige Nahrungsmittel, ihre Nahrungsaufnahme leidet besonders unter schlechter Hygiene.

Auch wenn die Zahl der Hungernden in den rapide wachsenden Elendsvierteln der Städte zunimmt, werden bei Fortsetzung der bisherigen Trends auch noch 2050 die meisten Hungernden auf dem Land leben. Ein wichtiger Schlüssel für die Bekämpfung von Armut und Hunger ist daher die Steigerung der Erträge von Kleinbauern, sowohl für die Selbstversorgung als auch für den Verkauf und damit zur Verbesserung der Einkommen. Mit verbesserten Anbaumethoden (z.B. angepasstes Saatgut, Düngung, Bewässerung, Erosionsbekämpfung) könnten Erträge und Einkommen erhöht und stabilisiert werden, so dass Kleinbauern ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig wirtschaften könnten. Stabile Überschüsse für den Verkauf müssen für die Versorgung der ständig wachsenden Stadtbevölkerung produziert werden.

Darüber hinaus ist ein wirtschaftlicher Strukturwandel wichtig, der es zumindest einem Teil der Kleinbauern ermöglicht, aus der Landwirtschaft auszusteigen und andere, ausreichende und stabile Einkommensquellen zu erschließen. Denn viele Bauernhöfe sind schon jetzt zu klein und werden bei wachsender Bevölkerung und Grenzen der Erschließung neuer Flächen in Zukunft selbst bei Steigerung der Erträge noch weniger ausreichen, die Ernährung zu sichern und darüber hinaus auch für einen angemessenen Lebensstandard (Bildung, Gesundheit, Kleidung, etc.) zu sorgen. Es sollte versucht werden, solche alternativen nicht-landwirtschaftlichen Arbeitsplätze auch im ländlichen Raum zu schaffen und damit die Abwanderung in die Slums der Megastädte zumindest abzuschwächen.

Akute Hungerkrisen

Im Schnitt sind etwa 35 Regionen weltweit von akuten Hungerkrisen (Hungersnöten) betroffen, die meisten liegen in den Ländern Afrikas südlich der Sahara. Eine akute Hungerkrise liegt laut Interner Link: WFP vor, wenn

  • mindestens 20 Prozent der Haushalte unter extremer Nahrungsmittelknappheit leiden und keine Möglichkeit haben, sich aus eigener Kraft aus der Notlage zu befreien,

  • die akute Mangelernährung mehr als 30 Prozent der Bevölkerung betrifft und

  • mehr als zwei von 10.000 betroffenen Menschen pro Tag sterben.

In solchen Situationen ist externe Hilfe überlebenswichtig. Sie dient dazu, eine Ernährungsnotlage kurz- bis mittelfristig zu überwinden. Meistens finanzieren reiche Länder die Hilfen, es gibt für ihre Sicherstellung eine eigene Interner Link: internationale Konvention, die Verteilung geschieht über das WFP sowie Interner Link: Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Es werden nicht nur Nahrungsmittel verteilt, sondern je nach Situation auch Warengutscheine (vouchers) oder Lebensmittel bzw. Geldleistungen gegen Arbeitsleistungen (food for work / cash for work) ausgegeben. Zusätzlich wird oft die medizinische Versorgung unterstützt und der Zugang zu Trinkwasser sowie zu Hygieneeinrichtungen verbessert. Das WFP hat 2011 für knapp hundert Millionen Menschen in 75 Ländern Nahrungsmittelhilfe bereitgestellt (wobei es nicht nur in akuten Hungerkrisen, sondern auch in chronischen Situationen bspw. durch Schulspeisungsprogramme aktiv ist): 83 Millionen von ihnen waren Frauen und Kinder. Zusätzlich verteilen auch Regierungen Nahrungsmittelhilfe.

Nur selten ist ein einzelnes Naturereignis Grund für eine Hungerkrise. Meist wirken mehrere – politische, wirtschaftliche und ökologische – Ursachen zusammen, und es kommt zu Teufelskreisen von Hunger, Armut, mangelnder Selbsthilfe- und Wiederaufbaufähigkeit oder gar Zerstörung überlebenswichtiger Ressourcen. Dies führt manchmal dazu, dass eine akute Hungerkrise sehr lange andauert, weil die betroffenen Menschen keine Möglichkeiten mehr haben, ihre Existenz wieder aufzubauen und Vorsorge für die nächste Krise zu treffen. Somalia oder die Region Darfur sind Beispiele dafür, dort kämpft die Bevölkerung seit Jahren um das nackte Überleben. Nach Einschätzung der FAO leben die Einwohner von 22 Ländern, viele davon in Subsahara-Afrika, in solch einer verlängerten Krise (protracted crisis).

Fazit

Erfolge im Kampf gegen den Hunger sind bisher insgesamt enttäuschend geblieben: Obwohl wir wissen, welche Lösungen erfolgreich wären, hungert jeder achte Mensch weltweit. Die Politik scheut sich zu handeln und das Menschenrecht auf Nahrung endlich überall zu verwirklichen. Deshalb ist die Hungersituation bis heute vor allem ein Ergebnis politischen Scheiterns.

Weitere Inhalte

Dr. Rafaël Schneider (geb. 1971) ist stellvertretender Leiter des Politikbereichs der Deutschen Welthungerhilfe e.V. in Bonn und für die Themenfelder Welternährung und Entwicklungspolitik zuständig. Zuvor war er Entwicklungshelfer und Koordinator beim Deutschen Entwicklungsdienst in Westafrika (Benin, Tschad). Für seine Doktorarbeit in Geographie (Freiburg i. Br.) forschte er zum Einfluss des Menschen auf den Wandel der Geo-Biosphäre in den letzten 15.000 Jahren.