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Menschenrecht auf Nahrung

Lidija Christmann

/ 7 Minuten zu lesen

Das Recht auf Nahrung ist ein fundamentales Menschenrecht. In vielen Konventionen haben sich Staaten darauf verpflichtet. Dennoch besteht in vielen Ländern eine große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Was bedeutet das Recht auf Nahrung, wer trägt die Verantwortung, welche Umsetzungsmechanismen gibt es, wie wird es überprüft?

Am Welternährungsgipfel 1996 in Rom nahmen 185 Staaten teil. In der gemeinsamen Erklärung wurde das Menschenrecht auf Nahrung festgehalten. (© picture-alliance/dpa, epa | Massimo_Capodanno)

Verankerung des MaN in den Allgemeinen Menschenrechten

Das Menschenrecht auf Nahrung (MaN) ist - wie auch alle anderen Menschenrechte - unteilbar mit der naturgegebenen Würde der menschlichen Person verbunden. Verwirklicht ist es, wenn jeder Mensch jederzeit Zugang zu angemessener Nahrung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung hat. Es wird in vielen Menschenrechtsabkommen unterstrichen (s. Box 1).

Die wichtigsten rechtlichen Grundlagen für das Recht auf Nahrung im Überblick

Das Recht auf Nahrung ist bereits grundgelegt in Artikel 3 (Recht auf Leben) und Artikel 25 (Recht auf einen die Gesundheit und das Wohl gewährenden Lebensstandard) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948.
Das Recht auf Nahrung ist außerdem in mehreren internationalen Menschenrechtsinstrumenten verankert. Die wichtigste rechtliche Basis ist Artikel 11 des internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle rechte (kurz: Sozialpakt), der 1966 von der UN-Vollversammlung angenommen wurde und 1976 ratifiziert wurde. Weitere relevante vertragliche Regelungen sind Artikel 24 und 27 in der Kinderrechtskonvention von 1989, Artikel 12 der Frauenrechtskonvention von 1979 sowie Artikel 21 der afrikanischen Menschenrechtscharta von 1981 (Banjul Charta).
Diese Verträge stellen bindendes internationales Recht für die Staaten dar, die Vertragsstaaten sind. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, die Vorschriften des Vertrages effektiv in nationales Recht umzusetzen, um zu gewährleisten, dass sie Teil des nationalen Rechts werden.


Der Sozialpakt befasst sich ausführlicher als jedes andere bindende internationale Rechtsinstrument mit dem MaN. Artikel 11 erkennt zwei Dimensionen dieses Rechtes an:

  • Gemäß Artikel 11 (1) "das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen".

  • Laut Artikel 11 (2) ist "das grundlegende Recht eines jeden, vor Hunger und Mangelernährung geschützt zu sein", zu gewährleisten.

Wichtig ist festzuhalten, dass das MaN nur eines von vielen Menschenrechten ist, die im Verbund und nach den gleichen Prinzipien gefördert werden müssen. So ist es nicht akzeptabel, wenn Familien, um ihre Ernährung zu sichern, auf die Schulbildung ihrer Kinder verzichten müssen.

Menschenrechtliche Verpflichtungen der Staaten

Das MaN beinhaltet die Kernprinzipien der Ernährungssicherung - Verfügbarkeit, Zugang, Nutzung und Stabilität - und stärkt diese über die Anwendung der Menschenrechtsprinzipien. Dabei nimmt das MaN vor allem die strukturellen Ursachen von Hunger, Mangel- oder Fehlernährung in den Fokus. Das heißt, Menschen müssen entweder Zugang zu Ressourcen haben, die sie dazu befähigen, ausreichend Nahrung zu produzieren, oder genug zum Erwerb von Nahrung verdienen, um sich nicht nur vor Hunger zu schützen, sondern darüber hinaus Gesundheit und Wohlbefinden abzusichern. Nur in Ausnahmefällen bedeutet das MaN ein Recht auf "Almosen" bzw. Nahrungsmittelhilfe. Eine besondere Verpflichtung haben die Staaten gegenüber verletzlichen Gruppen wie Kindern, Frauen, kranken und alten Menschen sowie gegenüber Landlosen und Armen.

Die Pflichten der Vertragsstaaten des Sozialpaktes im Hinblick auf das MaN sind in drei Ebenen unterteilt worden, die eine unterschiedliche Intensität von staatlichen Verpflichtungen ausdrücken:

  • Achtungspflicht: Staaten müssen einen existierenden Zugang zu Nahrung respektieren, d.h. Handlungen unterlassen, die Menschen ihres vorhandenen Zuganges zu Nahrung berauben.

  • Schutzpflicht: Staaten müssen den Zugang zu Nahrung vor Übergriffen Dritter schützen, sei es durch legislative oder polizeiliche Maßnahmen. So muss der Staat z.B. schützend eingreifen, wenn eine ölfördernde Firma so massive Umweltverschmutzungen herbeiführt, dass den in diesem Gebiet lebenden Menschen die Lebensgrundlage entzogen wird.

  • Gewährleistungspflicht: umfasst sowohl eine Förderungspflicht als auch eine Bereitstellungspflicht. Die Förderung beinhaltet, dass der Staat aktiv darauf hinwirken muss, den Menschen den Zugang zu und die Nutzung von Ressourcen und Mitteln zur Sicherung ihres Lebensunterhalts, namentlich die Ernährungssicherheit, zu erleichtern. Schließlich hat der Staat die Pflicht, immer dann, wenn eine Einzelperson oder eine Gruppe aus Gründen, auf die sie keinen Einfluss hat, nicht in der Lage ist, sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln selbst zu versorgen, Nahrung zur Verfügung zu stellen (Bereitstellung). Diese Verpflichtung beinhaltet internationale Hilfe, wenn der betroffene Staat nicht angemessen reagieren kann.

Menschenrechtliche Verpflichtungen von Unternehmen

Auch Unternehmen, wenn sie nach internationalem Recht Rechtspersönlichkeit besitzen, sind Träger von Rechten ebenso wie von Pflichten. Sie sind an die Einhaltung allgemeiner Grundsätze des internationalen Rechtes, einschließlich grundlegender Menschenrechtsstandards, gebunden. In jedem Fall sind sie nach internationalem Recht an die Verpflichtung gebunden, Menschenrechte wie das MaN zu respektieren und dürfen nicht mit ihren eigenen Handlungen zu Verletzungen dieser Rechte beitragen.

Die Freiwilligen Leitlinien zur schrittweisen Verwirklichung des MaN

Die Verankerung des MaN in einem internationalen Vertrag setzte ein hohes Ziel in einer Zeit, in der etwa ein Viertel der Menschheit hungerte (Interner Link: Welternährungskrise 1974), und konnte daher nicht unmittelbar zur Behebung dieses Unrechtes führen. Nach einer weiteren Krise in den 1990er Jahren und einem weiteren Welternährungsgipfel 1996 beschlossen die Vereinten Nationen (United Nations, UN), das MaN weiter zu präzisieren und Anleitungen zu geben, wie die Staaten dieses Ziel schrittweise erreichen könnten. Die im Jahr 2004 verabschiedeten "Freiwilligen Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Rechts auf Nahrung im Kontext nationaler Ernährungssicherung" (Kurz "Leitlinien zum Recht auf Nahrung") wurden ein weiterer Meilenstein zur Umsetzung des MaN. Die Leitlinien enthalten praktische Handlungsanweisungen, wie das MaN gestärkt werden kann. Diese richten sich in erster Linie an Regierungen, sind aber auch für die Zivilgesellschaft und den Privatsektor gedacht. Die Leitlinien thematisieren zudem die internationalen Rahmenbedingungen, die Voraussetzung für Umsetzungen auf nationaler Ebene sind. Hierzu gehört auch die Ausrichtung von Nahrungsmittelhilfe, Handels- und Investitionsförderung am MaN.

Umsetzung des MaN in nationale Politiken

Ein Rechte-basierter Ansatz in Bezug auf Ernährungssicherung und Hunger impliziert die Anwendung der Prinzipien Partizipation, Rechenschaftspflicht, Nicht-Diskriminierung, Transparenz, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit. So müssen zum Beispiel Einzelpersonen die Informationen erhalten, die sie dazu befähigen, bei ernährungssicherungsrelevanten politischen Entscheidungen, die sie selbst betreffen, partizipieren zu können. Denn nur wenn man seine Rechte kennt und versteht, kann man deren Einhaltung verlangen. Auch muss ihnen ermöglicht werden, Entscheidungen, die ihre Rechte möglicherweise gefährden, mit Rechtsmitteln überprüfen zu lassen.

Sämtliche Sektor- und Sektorübergreifenden Politiken, die das MaN beeinflussen, müssen so ausgearbeitet werden, dass sie die Ursachen von Hunger und Armut in den Blick nehmen. In Entwicklungsländern hängen die Ursachen für mangelnde Ernährungssicherheit eng mit ungerechten und schwachen Landeigentums-, Wasser- und Landnutzungsrechten sowie der Agrarentwicklung zusammen. Daher fordert der Sozialpakt besonders zu Reformen in diesen Bereichen auf. Aber auch Infrastruktur und Transport, Bildungspolitik, Sozialgesetzgebung sowie allgemein Verbraucherschutz oder Justiz können gefragt sein.

Gleichzeitig werden Regierungen bei der Errichtung von Mechanismen unterstützt, die die Rechenschaftspflicht sicherstellen. Dies bedeutet, dass insbesondere Gerichte dazu befähigt sein müssen, das MaN garantieren zu können. NROs und UN-Organisationen können die Bewusstseinsschärfung bezüglich der Rechte und Pflichten bei allen Interessenvertretern vorantreiben.

Praktische Beispiele für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung

Menschenrechtspolitik kann leicht abstrakt wirken. Die triste Realität scheint die hehren Versprechungen der Staaten Lügen zu strafen. Einige Beispiele zeigen, dass der Menschrechtsansatz sehr konkrete Auswirkungen haben kann.

  • Indien
    In einem berühmten indischen Rechtsfall ist im Jahr 2001 von der NRO "The People’s Union for Civil Liberties" eine Petition im öffentlichen Interesse beim Obersten Gericht eingereicht worden. Das Gericht traf daraufhin bahnbrechende Entscheidungen für das MaN, in denen es ausdrücklich darauf verwies, dass das Recht auf Leben das Recht in Menschenwürde zu leben beinhaltet, was auch das MaN umfasst. Außerdem stellte das Gericht in seinen einstweiligen Verfügungen fest, dass die Prävention von Hunger eine der Hauptpflichten des (Zentral- und auch jedes Glied-)Staates sei. Dieser Fall wurde in Indien zu einem der größten Bürgerbegehren der letzten Jahre. Mehr als 20 einstweilige Verfügungen sind seit 2001 in diesem Fall erlassen worden. Unter anderem wurde ein Gesetz beschlossen, welches den Armen in ländlichen Gebieten Beschäftigung garantiert ("National Rural Employment Guarantee Act"). Das Oberste Gericht ordnete außerdem die Einrichtung eines "Überwachungskomitees" an und ernannte Kommissare zur Überwachung der Einhaltung der gerichtlichen Verfügungen. Die Aufgaben des Komitees bzw. der Kommissare umfassen unter anderem, Fehlentwicklungen zu beobachten, die das öffentliche Verteilungssystem beeinträchtigen, darüber Nachforschungen anzustellen, gegebenenfalls darüber Bericht zu erstatten und Abhilfe zu verlangen sowie Empfehlungen zu geben.


  • Schweiz
    Zwei illegale Flüchtlinge strengten im Jahr 1995 ein Gerichtsverfahren an, nachdem ihnen Sozialhilfe verwehrt worden war. Das Oberste Gericht bestätigte gemäß dem Sinne des MaN, dass jeder, der in einem demokratischen Staat lebt, Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum hat. Diese ungeschriebene Verfassungsregel wurde daraufhin explizit in die Verfassung aufgenommen, und Flüchtlinge haben seitdem Anspruch auf die notwendige Unterstützung, die für ein menschenwürdiges Leben in der Schweiz notwendig ist.


  • Brasilien
    Die brasilianischen Erfahrungen gehören zu den umfangreichsten in Bezug auf die Umsetzung des MaN: Die Regierung hat gemeinsam mit der Zivilgesellschaft umfassende Gesetzespakete geschnürt, handlungsfähige Institutionen geschaffen und Mittel bereitgestellt, um unterschiedliche Gesellschaftsgruppen mit verschiedensten Maßnahmen zu unterstützen. Die bekannteste Komponente ist das Transferprogramm "Bolsa Familia“. Aber auch Vermarktungsförderung für Kleinbauern, Zisternenbau, Kleinkredite, Ernährungsaufklärung oder Niedrigpreis-Restaurants wurden gefördert. Mehrere Millionen Haushalte profitieren von diesen Programmen. Obwohl es Kritik an der Effizienz und an der karitativen, nicht umverteilenden Grundauslegung der Politik gibt, ist es eines der erfolgreichsten Hungerbekämpfungsprogramme der neueren Zeit.

Einklagbarkeit des MaN

Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) wurden traditionell als Gewährleistungspflichten des Staates verstanden, nicht aber als individuell einklagbare Rechte. Diese Auffassung beruht auf der Annahme, dass es ausreiche, Sozialrechte lediglich als Staatszielbestimmungen zu verstehen, deren Umsetzung von den finanziellen und sonstigen strukturellen Ressourcen der Regierung abhängt. Am 5. Mai 2013 trat schließlich das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt in Kraft. Das 2008 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Zusatzprotokoll erweitert die Zuständigkeit des UN-Ausschusses für WSK-Rechte über das bisher existierende Berichtsprüfungsverfahren hinaus auf ein internationales Beschwerdeverfahren sowie auf ein Untersuchungsverfahren vor Ort. In Staaten, die das Zusatzprotokoll ratifiziert haben (derzeit nur elf, darunter Argentinien und Portugal, s. Portal zur aktuellen Situation von UN-Verträgen), können Einzelpersonen nach Ausschöpfung nationaler rechtlicher Möglichkeiten den eigenen Staat vor einem internationalen Gremium zur Rechenschaft ziehen. Damit hat der internationale Menschenrechtsschutz einen weiteren Riesenschritt in Richtung Realisierung des MaN zurücklegen können.

Trotz dieses Fortschritts auf internationaler Ebene ist die Einklagbarkeit des MaN auf nationaler Ebene für den Einzelnen bedeutender. Die sog. Justiziabilität des MaN macht es für den Einzelnen möglich, die Verletzung seines MaN vor einer Behörde bzw. einem Gericht geltend zu machen und so adäquate Rechtsmittel und Rechtsbehelfe zur Verfügung gestellt zu bekommen. Natürlich darf in dem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass die Umsetzung von Gesetzen insbesondere in armen Ländern oft problematisch ist. Außerdem stellen hohe Gerichtskosten und Korruption oft ein weiteres Hindernis dar. Jedoch sind Gerichte als Garanten des Rechts ein Grundstein für einen funktionierenden Rechtsstaat, in dem auch das MaN realisiert wird. Auch sie müssen daher zur Berücksichtigung der Menschenrechte wie des MaN befähigt werden.

Weitere Inhalte

Lidija Christmann, spezialisiert auf Fragen des Völkerrechts, insbesondere Menschenrechte und Anwendung des Menschenrechtsansatzes Ansatzes, war für die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) tätig, davon mehrere Jahre als International Legal Consultant für die Einheit „Recht auf Nahrung“. Im Anschluss war sie für das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) tätig und ist derzeit Referentin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Dieser Beitrag wurde von der Autorin als Privatperson verfasst und ist keine Meinungsäußerung des BMZ.