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Verdrängung und Erinnerung | Nationalsozialismus: Krieg und Holocaust | bpb.de

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Verdrängung und Erinnerung

Michael Wildt

/ 18 Minuten zu lesen

Das Ende des Zweiten Weltkriegs hinterlässt Deutschland in Trümmern. Die Staatsgewalt übernehmen zunächst die Alliierten. Die Täter sollen bestraft werden, und den Opfern soll Gerechtigkeit und Genugtuung widerfahren. Doch die Folgejahrzehnte zeigen, welche Hürden dem im Wege stehen.

Blick auf die Anklagebank während der Nürnberger Prozesse (© Bundesarchiv, Bild 146-1994-120-22A)

Einleitung

Am Ende des NS-Regimes war von der "Volksgemeinschaft“ eine "Trümmergesellschaft“ übrig geblieben. Über fünf Millionen deutsche Soldaten waren getötet worden, der Luftkrieg hatte in Deutschland etwa 570 000 Todesopfer gefordert, rund 14 Millionen Deutsche flüchteten aus den damaligen deutschen Ostgebieten oder wurden aus ihnen vertrieben.

Insgesamt kostete der Zweite Weltkrieg geschätzt etwa 55 Millionen Menschen das Leben, die meisten von ihnen Zivilisten. Am stärksten war die Sowjetunion mit geschätzten 24 Millionen Toten betroffen. Annähernd sechs Millionen Juden waren ermordet worden, ebenso waren Hunderttausende Roma und Sinti, behinderte und kranke Menschen der rassistischen Politik des NS-Regimes zum Opfer gefallen.

Rund 15 000 Juden hatten in Deutschland überlebt, hinzu kamen Zehntausende, die aus den verschiedensten Lagern befreit worden oder aus Osteuropa in den Westen geflohen waren. Über 150 000 jüdische "Displaced Persons“ (DPs) wurden im Sommer 1946 in diversen Lagern, vor allem in Bayern, von den Besatzungsmächten und jüdischen Hilfsorganisationen versorgt. Hunderttausende von Häftlingen hatten die alliierten Armeen aus den Konzentrationslagern befreit, allein in Buchenwald 35 000 Menschen. Millionen von ausländischen Zwangsarbeitern ebenso wie Flüchtlinge und Vertriebene aus Osteuropa befanden sich auf deutschem Gebiet. Allein auf dem Gebiet der späteren westlichen Besatzungszonen fanden die alliierten Armeen zwischen 6,5 und sieben Millionen DPs vor.

Die totale Niederlage des NS-Regimes bedeutete, dass es keinen deutschen Staat und keine deutsche Regierung mehr gab. Stattdessen teilten die Alliierten Deutschland in vier Besatzungszonen auf, in denen sie die Macht übernahmen. Auf der Konferenz von Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 bestimmten Stalin, Harry S. Truman, der Nachfolger des im April 1945 verstorbenen US-Präsidenten Roosevelt, und Churchill, der, nachdem die Konservativen Anfang Juli 1945 die Wahlen in Großbritannien verloren hatten, vom britischen Labourpolitiker Clement Richard Attlee abgelöst wurde, dass Deutschland entnazifiziert, demokratisiert und entmilitarisiert werden sollte. Bis auf weiteres bestimmten die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich in einem gemeinsamen Kontrollrat die Geschicke Deutschlands. Bald jedoch brachen die politischen Gegensätze auf, und die sowjetische Besatzungszone auf der einen und die drei westlichen Zonen auf der anderen Seite verfolgten eine gegensätzliche Politik.

Die Teilung Deutschlands, die bis 1990 anhalten sollte, war eine der schwerwiegendsten Konsequenzen des Nationalsozialismus. Durch die Teilung zerriss nach Kriegsende auch der bisherige Zusammenhang der Ernährungswirtschaft, und die Versorgung der westdeutschen Bevölkerung hing zum entscheidenden Teil von den Getreideimporten aus den USA und Kanada ab. Jetzt erst wurde deutlich, wie sehr die Ernährung der "Volksgemeinschaft“ durch die rücksichtslose Ausplünderung der besetzten Gebiete sichergestellt worden war. Nicht während des Krieges mussten die Deutschen hungern, sondern danach.

Nürnberger Prozesse

Die nationalsozialistischen Verbrechen sollten nach dem Willen der Alliierten in einem umfassenden Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg abgeurteilt werden. Anklagepunkte waren laut Statut für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 unter anderem:

  • Verbrechen gegen den Frieden, das hieß in erster Linie die Planung und Durchführung eines Angriffskrieges;

  • Kriegsverbrechen wie die Ermordung, Misshandlung, Deportation zur Zwangsarbeit von Zivilisten oder Kriegsgefangenen, das Töten von Geiseln, Plünderungen, die Zerstörung von Städten und Dörfern, und

  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit, worunter vor allem Mord, Ausrottung, Versklavung der Zivilbevölkerung und Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen fielen.

Ausgeklammert ließen die Nürnberger Ankläger die Verbrechen vor 1939, insbesondere auch die Verfolgung der deutschen Juden, weil es sich in der Logik des Verfahrens um einen Fall Deutscher gegen Deutsche vor dem Krieg handelte. Dass jedoch erstmals der Straftatbestand "Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor einem internationalen Gericht verhandelt wurde, war in der Tat neu und sollte die völkerrechtliche Ahndung von Menschenrechtsverletzungen in den kommenden Jahrzehnten nachhaltig beeinflussen. Drei Jahre später, im Dezember 1948, verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNO) in New York die Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

21 Männer saßen auf der Anklagebank im Nürnberger Gerichtssaal, darunter Hermann Göring, Julius Streicher, Albert Speer, Fritz Sauckel, Joachim v. Ribbentrop, Hans Frank, Franz v. Papen und die Generäle Keitel, Jodl, Raeder und Dönitz. Am 18. Oktober 1945 begann der Gerichtshof seine Arbeit, hörte zahlreiche Zeugen, sichtete unzählige Beweisdokumente, unter ihnen auch Filmaufnahmen aus den Konzentrationslagern, und gab den Angeklagten Gelegenheit, zu ihren Taten Stellung zu nehmen. Am 1. Oktober 1946 fällte er die Urteile: Der einstige Vizekanzler v. Papen, der Abteilungsleiter im Reichspropagandaministerium Hans Fritzsche und der ehemalige Reichsbankchef Hjalmar Schacht wurden freigesprochen; zu lebenslanger Haft verurteilte das Gericht Rudolf Heß, den Vorgänger Dönitz’ als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Erich Raeder und NS-Wirtschaftsminister Walther Funk; langjährige Gefängnisstrafen erhielten Albert Speer, Reichsjugendführer Baldur v. Schirach, der einstige Reichsprotektor von Böhmen und Mähren Konstantin von Neurath und Großadmiral Karl Dönitz; alle übrigen wurden zum Tode verurteilt und, bis auf Göring, der sich selbst vergiftete, am 16. Oktober 1946 hingerichtet. Dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher folgten zwölf weitere Prozesse gegen die Eliten aus Wirtschaft, Verwaltungen und NS-Organisationen, die die Verbrechen des Regimes unterstützt, initiiert und gebilligt hatten.

Entnazifizierung

Nach dem Willen der Alliierten sollte die deutsche Gesellschaft in einem umfassenden Maß entnazifiziert werden. Allein in der amerikanischen Zone wurden 13 Millionen Fragebögen mit insgesamt 131 Fragen ausgegeben, aber nur ein Bruchteil konnte bearbeitet werden. Um zunächst die Minderbelasteten vom Verdacht der Mittäterschaft freizusprechen, schoben die Spruchgerichte die Fälle der Hauptschuldigen häufig nach hinten, was im Laufe der Zeit den gegenteiligen Effekt hatte. Denn als die Reihe an die Hauptbelasteten hätte kommen müssen, erschien die Praxis der Entnazifizierung im sich verschärfenden Kalten Krieg zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion nicht mehr so wichtig, da die Deutschen nicht als Gegner behandelt, sondern jeweils Bündnispartner werden sollten. Und so erreichten auch Hauptschuldige sehr milde Urteile. "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“, hieß es dann treffend im Volksmund. Mit sogenannten Persilscheinen stellten sich ehemalige Nationalsozialisten untereinander Entlastungszeugnisse aus. Was als politische Säuberung gedacht war, geriet ganz im Gegenteil zu einer Weißwäsche für ehemalige Mittäter und Mitläufer.

In der britischen Zone herrschte ohnehin von Anfang an eine Politik, die angesichts der immensen Probleme, die die Aufrechterhaltung des Alltagslebens und die Versorgung der Besatzungszone aufwarfen, an den alten Funktionseliten festhielt, insbesondere am Verwaltungs- und Polizeiapparat, und nur die jeweiligen Spitzenbeamten aus politischen Gründen entließ.

Konsequenter ging die Sowjetunion in ihrer Zone vor. Dort wurden alle Richter, Lehrer und Polizisten weitgehend ausgetauscht und auch der Verwaltungsapparat stärker von Nationalsozialisten gesäubert als in den Westzonen. Nach einer kurzen und nachhaltigen Phase der Entnazifizierung jedoch erklärte die Führung der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei (SED), aus der Zwangsvereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten 1946 entstanden, dass es nun um den Aufbau ginge, an dem sich auch ehemalige Nationalsozialisten beteiligen könnten, wenn sie sich loyal zum sowjetischen System verhielten. Jedoch existierten in der DDR noch bis 1950 sogenannte Speziallager, in denen die sowjetischen Stellen etwa 50 000 Häftlinge, zu einem großen Teil ehemalige Nationalsozialisten, aber auch politische Oppositionelle wie Sozialdemokraten, die sich geweigert hatten, der SED beizutreten, sowie gänzlich Unbeteiligte mit nur unzureichender Versorgung gefangen hielten. Tausende starben oder wurden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. 1950 wurden in der DDR auch noch einmal etwa 300 Menschen in Prozessen, die nicht rechtsstaatlich waren, zu hohen Haftstrafen verurteilt, gegen 32 die Todesstrafe verhängt, die in 24 Fällen auch vollstreckt wurde. Danach jedoch ging auch in der DDR die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern merklich zurück.

Hatte die Zahl der Urteile gegen NS-Täter in Westdeutschland 1949 noch bei über 1500 gelegen, sank sie bis auf 21 Verurteilungen im Jahr 1955 ab. Erst als gegen Ende der 1950er-Jahre mit dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess gegen den ehemaligen Gestapochef von Tilsit, Bernhard Fischer-Schweder, und andere das Ausmaß der Verbrechen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bekannter wurde, setzte auch die Strafverfolgung gegen die Täter wieder ein. Vor allem die Gründung einer zentralen Ermittlungsstelle, der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Gewaltverbrechen in Ludwigsburg, im Jahr 1959 trug erheblich dazu bei, dass sich in den kommenden Jahren einstige Gewalttäter des NS-Regimes vor Gericht verantworten mussten, auch wenn die Urteile selbst häufig äußerst milde ausfielen.

QuellentextMangelnde Aufarbeitung

[...] „Sollte wirklich das deutsche Volk so von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, daß ihm etwa bei den Anstaltsmorden gar nie der Gedanke gekommen wäre, daß es sich hier trotz des gesetzlichen Führerbefehls um gesetzliches Unrecht handelte?“ Übereinstimmend mit diesem Gedanken des deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch führte das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom Dezember 1945 den Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein.
Den Alliierten war es damit möglich, in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen NS-Täter anzuklagen, ohne mit den nationalsozialistischen Rechtsnormen argumentieren zu müssen, die zur Zeit der Tat galten. „Der Dolch des Mörders“, hieß es 1947 im Urteil des Nürnberger Juristenprozesses, „war unter der Robe des Juristen verborgen.“ So wurde das NS-Recht als ein System „bürokratischer Rechtlosigkeit“ delegitimiert.
Während des Prozesses gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher 1945/46 empfanden die Deutschen dieses Vorgehen noch mehrheitlich als gerecht oder wenigstens fair [...].
Als die Alliierten Ende 1946 ankündigten, die Verfahren auszudehnen, kippte [...] die Stimmung. In den Nürnberger Nachfolgeprozessen klagten die Alliierten nun gegen die bürgerlichen Funktionseliten des NS-Staates, gegen die Ärzteschaft und die Wehrmachtskommandeure, gegen Unternehmer und Bankiers, nicht zuletzt gegen die Juristen des „Dritten Reiches“.
Hinzu kamen zahlreiche Prozesse in den einzelnen Besatzungszonen. 1949 saßen in den alliierten Gefängnissen in Landsberg, Werl und Wittlich rund 1800 Gefangene ein. Den Deutschen wurden sie zu Galionsfiguren ihrer Auflehnung gegen die Alliierten – und ihrer Abwehr der jüngsten Vergangenheit. [...]
Ehemalige NS-Juristen, die Nürnberger Verteidiger, die Kirchen und die Presse formierten sich damals zu einer regelrechten „Gnadenlobby“ und plädierten dafür, die Kriegsverbrecher aus der Haft zu entlassen.
[...] Meinungsumfragen belegen, dass diese aggressive Lobbyarbeit große Zustimmung in der Bevölkerung fand. [...]
Die meisten Deutschen standen den Nürnberger Verfahren daher am Ende der vierziger Jahre stark ablehnend gegenüber – wohl auch, weil sie sich in ihrer Opposition gegen die Nachfolgeprozesse indirekt selbst entlasten und den angeblichen Kollektivschuldvorwurf der Alliierten abwehren konnten. Dieser Vorwurf war zwar nie explizit erhoben worden, der Eindruck vieler Deutscher aber, kollektiv am Pranger zu stehen, gedieh auf dem Boden realer Erfahrungen: der Entnazifizierung in der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Entlassung von weit mehr als 400 000 Beamten und Berufssoldaten durch die Alliierten.
Als im Herbst 1949 die erste deutsche Bundesregierung unter Konrad Adenauer ihre Arbeit aufnahm, widmete sie sich denn auch als einer ihrer ersten Aufgaben genau diesen drei Themen: der Frage nach der Begnadigung der Kriegsverbrecher, nach dem endgültigen Abschluss der Entnazifizierung – und der Wiedereinstellung der „verdrängten“ Beamtenschaft. Innerhalb weniger Jahre sollte sie dabei den Weg ebnen für eine systematische Verneblung der NS-Vergangenheit und die Abschaffung der Radbruchschen Formel in der deutschen Strafgesetzgebung. [...]
[1951 beschloss] die Bundesregierung [...] mit knapper Zustimmung der Länder [...], den Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – die sogenannte Nürnberg-Klausel aus der Europäischen Menschenrechtskonvention – nicht ins neu zu kodifizierende Strafrechtsregister der Bundesrepublik aufzunehmen. Dem stehe, so hieß es, das Rückwirkungsverbot „nulla poena sine lege“ (Keine Strafe ohne Gesetz) entgegen. In der Folge wurden vor deutschen Gerichten denn auch „einige Menschen“ eher weniger als mehr verurteilt. [...]
Die Gesamtbilanz: In den knapp fünfzig Jahren bis 1998 wurden rund 106 000 Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen eingeleitet. Nur 6494 endeten mit einem Strafurteil. Historiker schätzen, dass die Zahl der unmittelbar am Holocaust beteiligten Täter bei etwa einer viertel Million liegt; dazu kommen Zehntausende weitere politische Mordtaten. Weit mehr als 150 000 nie von der Justiz auch nur ins Visier genommene Mörder und eine, wie es der Politikwissenschaftler Joachim Perels formuliert, über Jahrzehnte währende „Umdeutung der NS-Diktatur in einen Rechtsstaat“ – dies war der Preis, mit dem sich die junge Bundesrepublik die oft fadenscheinige Loyalität von Millionen Nazifizierten erkaufte.
Erst vor zehn Jahren [1999] entschied der Bundestag, den Unrechtsurteilen der NS-Herrschaft rückwirkend die Rechtsgültigkeit abzusprechen und damit das Grundgesetz in vollem Umfang für die Verfolgung von NS-Tätern heranzuziehen – zwei Generationen zu spät.
Die Geschichtsmythen, die im Treibhaus der fünfziger Jahre gediehen, versperren unterdessen oft noch heute wie dichtes Gestrüpp den Blick auf die NS-Vergangenheit – die Mythen vom Befehlsnotstand und vom unterdrückten, unschuldigen deutschen Volk, Mythen, die ehemalige NS-Richter über Jahrzehnte hinweg in deutschen Gerichtssälen für Recht erklärt hatten.

Christian Staas, „Was damals Recht war …“, in: Zeit Geschichte Nr. 1/2009, S. 76 ff.

Debatte um Verjährung

Einen großen Raum in der öffentlichen Diskussion nahm daher die Frage ein, ob juristisch ein "Schlussstrich“ gezogen werden solle, indem Straftaten aus der NS-Zeit ab einem bestimmten Zeitpunkt verjährt sein sollten. So verjährten bereits 1960 bestimmte Verbrechen wie Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung und konnten danach nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. Allein Mord und Beihilfe zum Mord blieben als Straftaten übrig, in denen weiterhin von Staatsanwälten ermittelt werden musste. Doch auch hier wurde die Frage der Verjährung 1965 wieder aufgerührt, als nach der damaligen Rechtslage auch Mordtaten verjährt sein sollten. Da einerseits die staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren deutlich machten, dass die Zahl der NS-Täter weit höher lag als bislang angenommen, und andererseits die Stimmen derer, die einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ziehen wollten, in der Bundesrepublik noch recht vernehmbar waren, entschied sich der Bundestag für einen Kompromiss. Die Verjährungszeit für Mord wurde nicht verändert, aber der Zeitpunkt, von dem an sie gelten sollte. Statt des Kriegsendes 1945, das bislang den Berechnungen zugrunde lag, wurde jetzt das Jahr 1949 als Gründungsdatum der Bundesrepublik genommen. Die Debatte wurde damit aber nicht gelöst, sondern nur um vier Jahre verschoben.
1969 entzündete sie sich erneut, nun aber innerhalb einer deutlich veränderten Öffentlichkeit, die der Frage des Umgangs mit dem Nationalsozialismus weit größere Bedeutung zumaß als noch wenige Jahre zuvor. Nachdem die UNO-Vollversammlung im November 1968 eine Konvention über die Nichtverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angenommen hatte, erhöhte der Bundestag nun die Verjährungsfrist von Mord auf 30 Jahre und gab damit der Justiz die Möglichkeit, bis zum Ende des Jahres 1979 gegen bislang noch unentdeckte NS-Täter zu ermitteln. Im Juli 1979 schließlich folgte der Bundestag der internationalen Norm und beschloss, dass Mordverbrechen nicht mehr verjähren, also auch strafrechtlich zu verfolgen sind, wenn die Tat Jahrzehnte zurückliegt und der Täter selbst inzwischen ein alter Mensch geworden ist.

Quellentext„Keine Verjährung für Mord“

Aus der Rede des Bundestagsabgeordneten Ernst Benda am 10. März 1965:

„Der Deutsche Bundestag hat bei vielen Gelegenheiten in einer so eindeutigen Weise und im ganzen Haus übereinstimmend seinen Abscheu vor den Verbrechen des Nationalsozialismus und seinen Willen zur Wiedergutmachung und Ablehnung jedes Nationalismus oder jedes Neonazismus in unserem Volke bekundet [...].
Für die Antragsteller (gegen die Verjährung, Anm. d. Red.) steht über allen Erwägungen juristischer Art ganz einfach die Erwägung, daß das Rechtsgefühl eines Volkes in unerträglicher Weise korrumpiert werden würde, wenn Morde ungesühnt bleiben müßten, obwohl sie gesühnt werden könnten. Ich habe hier unter vielen Briefen, die ich bekommen habe, den Brief eines mir ganz unbekannten Mannes, eines Sozialinspektors aus Hamburg, der mit Jugendlichen, die gefährdet sind, straffällig zu werden, zusammenarbeitet. Er schreibt, daß ihn die Jungen, die Dummheiten gemacht haben und nun im Jugendgefängnis sitzen, [...] fragen, wie es mit der Gerechtigkeit sein könne in einem Staat, in dem für Jungenstreiche jemand ins Gefängnis kommt und Leute, die Morde begangen haben, unbestraft herumspazieren. [...] [D]as ist einfach der Kern des Problems. [...]
Ich komme zum Schluß mit einem anspruchsvollen Wort, das mir ein Kollege gesagt hat, der in dieser Sache einer völlig anderen Meinung ist als ich. Er hat mir gegenüber gemeint, man müsse um der Ehre der Nation willen mit diesen Prozessen Schluß machen. Meine Damen und Herren, Ehre der Nation – hier ist für mich einer der letzten Gründe, warum ich meine, daß wir hier die Verjährungsfrist verlängern bzw. aufheben müßten. [...]
Das gehört für mich zur Ehre der Nation, daß der, wie ich weiß, unvollkommen bleibende, aber redliche Versuch unternommen wird, das zu tun, daß man von sich sagen kann: Man hat das, was möglich ist, getan. [...]
Und es gibt dann schließlich das Wort, das ich an den Schluß setzen möchte, es gibt dieses Wort an dem Mahnmal in Jerusalem für die sechs Millionen ermordeten Juden, das in einer eindrucksvollen Form in einer ganz schlichten Halle den Satz zitiert, der nicht aus diesem Jahrhundert stammt, der von einem jüdischen Mystiker des Anfangs des 18. Jahrhunderts stammt – ich sage ihn gleich in Deutsch, er steht dort in Englisch und Hebräisch – : Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 265, Bonn 1988, S. 522 ff.

Integration der Täter und Mitläufer

Artikel 131 des Grundgesetzes bestimmte, dass die Rechtsverhältnisse von Personen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst standen und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet wurden, durch ein Bundesgesetz zu regeln seien. Damit war es der Beamtenlobby als einziger gesellschaftlicher Gruppe gelungen, im Grundgesetz ihre Entschädigungsansprüche zu verankern. Insgesamt handelte es sich gemäß der Zählung der Bundesregierung um etwa 430 000 Personen, darunter rund 55 000, die aus politischen Gründen, das heißt wegen ihres nationalsozialistischen Engagements, nach dem Krieg entlassen worden waren.

Das "131er“-Gesetz, das 1951 nach langen Debatten vom Bundestag verabschiedet wurde, sah vor, dass bis auf die in den Entnazifizierungsverfahren in den Kategorien I (Hauptschuldige) und II (Belastete) eingestuften Beamten – deren Anteil betrug insgesamt weniger als ein halbes Prozent – alle anderen als "Beamte auf Wiedereinstellung“ galten. Allein die ehemaligen Beamten der Gestapo und Berufssoldaten der Waffen-SS waren von diesen gesetzlichen Regelungen ausdrücklich ausgenommen – mit einer bezeichnenden Ausnahmebestimmung. Denn im Schlusskapitel des Gesetzes hieß es, dass es auch auf Gestapobeamte Anwendung finden könnte, wenn diese "von Amts wegen“ zur Gestapo versetzt worden seien. Die öffentlichen Arbeitgeber waren gehalten, 20 Prozent ihres Besoldungsaufwandes für die "131er“ bereitzuhalten.

Viele Angehörige auch aus eng mit dem NS-Staat verbundenen Beamtengruppen wie den Richtern oder der Polizei konnten mittels des "131er“-Gesetzes wieder im öffentlichen Dienst angestellt werden und zum Teil auch Karriere machen. So erreichten zum Beispiel im Bundeskriminalamt mehrere ehemalige Abteilungsleiter des Reichssicherheitshauptamtes erneut führende Positionen. Ein NS-Täter wie Rudolf Bilfinger, der 1953 wegen seiner Tätigkeit als Gestapochef in Toulouse von einem französischen Militärgericht in Abwesenheit zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, stieg bis zum Oberverwaltungsgerichtsrat am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auf.

Entschädigungen

Neben der strafrechtlichen Verfolgung der Täter ging es im Nachkriegsdeutschland auch um die Entschädigung der Opfer. Gleich nach dem Sieg über den Nationalsozialismus verhängten die Alliierten eine Vermögenskontrolle, um geraubtes jüdisches Eigentum wieder an die ursprünglichen Besitzer zurückgeben zu können. 1947 erließ die amerikanische Besatzungsmacht ein Rückerstattungsgesetz, aufgrund dessen vor allem jüdische Opfer die Rückgabe ihres gestohlenen Eigentums einfordern konnten. Frankreich und Großbritannien folgten mit ähnlichen gesetzlichen Bestimmungen.

Diese Restitution betraf hauptsächlich "arisierte“ Immobilien, Häuser und Unternehmen. Der größte Profiteur der Enteignung jüdischen Vermögens nicht nur in Deutschland, sondern überall im besetzten Europa war jedoch der NS-Staat gewesen, gegen den bis 1949, da es bis dahin keinen Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches gab, nicht geklagt werden konnte. Die Alliierten verpflichteten deshalb die Bundesrepublik Deutschland, die diese Rechtsnachfolge beanspruchte, die Rückerstattungspflichten zu übernehmen. In der DDR, die sich in keiner Verbindung zum NS-Regime sah, unterblieb dagegen eine Rückerstattung jüdischen Vermögens, sie musste jedoch, anders als die Bundesrepublik, erhebliche Reparationen an die Sowjetunion leisten.

Israel, das eine halbe Million jüdische Flüchtlinge aus Europa aufgenommen hatte, war der erste Staat, der zu Beginn der 1950er-Jahre finanzielle "Wiedergutmachungsleistungen“ von der Bundesrepublik erhielt. Im September 1952 unterzeichnete Bundeskanzler Konrad Adenauer ein Abkommen, das Israel drei Milliarden DM zubilligte, die zu einem Teil in Warenlieferungen abgegolten wurden, sowie die Jewish Claims Conference, die die Ansprüche der ermordeten deutschen Juden vertrat, mit 450 Millionen DM bedachte.

Zwar bestimmte das Londoner Schuldenabkommen von 1953, dass erst im Rahmen eines allgemeinen Friedensvertrages auch die Frage der Entschädigungszahlungen an ehemals von Deutschland besetzte Länder geregelt werden sollte. Aber nach dem israelischen Verhandlungserfolg forderten auch andere westliche Staaten wie Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, die Niederlande oder Norwegen finanzielle Entschädigungsleistungen von der Bundesrepublik für Zerstörungen und Gewalttaten der deutschen Besatzungsmacht. In mehreren bilateralen Abkommen zwischen 1959 und 1964 verpflichtete sich die Bundesrepublik zu Zahlungen in Höhe von insgesamt 876 Millionen DM. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 konnten auch die osteuropäischen Staaten, die ja in weit stärkerem Maße von dem Terror und der Vernichtungspolitik des NS-Regimes betroffen gewesen waren, Entschädigungsansprüche geltend machen. Polen erhielt 1991 für die noch lebenden NS-Opfer eine Zahlung von 500 Millionen DM, Russland, Weißrussland und die Ukraine 1992 insgesamt eine Milliarde DM, Tschechien 140 Millionen DM.

Auch innenpolitisch konnten die Verfolgten des NS-Regimes allmählich durchsetzen, für die Leiden, die sie erlitten hatten, finanziell entschädigt zu werden. 1956 wurde vom Bundestag das Bundesentschädigungsgesetz erlassen, das bis 1965 mehrfach erweitert wurde. Etwa eine Million Personen, vor allem deutsche Juden, die in Konzentrationslager und Gettos gesperrt worden waren und den Holocaust überlebt hatten, erhielten nun Entschädigungsleistungen von rund 43 Milliarden DM. Insgesamt wurden von der Bundesrepublik an Verfolgte des NS-Regimes bis 2002 etwa 60 Milliarden DM gezahlt. Zum Vergleich: Die finanziellen Leistungen, die nach dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 deutsche Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten erhalten hatten, betrugen 104 Milliarden DM.

Doch nicht allen Verfolgten des NS-Regimes wurde eine Anerkennung ihrer Leiden zuteil. Die Gewaltmaßnahmen gegen Roma und Sinti vor 1942 galten den Gerichten in den 1950er-Jahren als durchaus legitim, da es sich ja um "asoziale Zigeuner“ gehandelt habe. Weder die Internierung in "Zigeunerlagern“ ab 1936 noch die Deportationen von Roma und Sinti ins besetzte Polen im Frühjahr 1940 wurden von den Gerichten als Verfolgung anerkannt. Erst im Erlass Heinrich Himmlers vom Dezember 1942, alle Roma und Sinti nach Auschwitz zu deportieren, mochte die bundesdeutsche Rechtsprechung einen Verfolgungsgrund sehen, der den Anspruch auf Entschädigung begründete. Bis in die 1960er-Jahre mussten Roma und Sinti warten, bevor der Bundesgerichtshof die bisherige Rechtsprechung aufhob und auch die Gewaltmaßnahmen vor 1942 in die Entschädigungsleistungen einbezogen wurden. Die Neuregelung galt jedoch nur für diejenigen, die schon in den 1950er-Jahren einen Antrag auf Entschädigung gestellt hatten, der damals abgelehnt worden war. Es bedurfte daher noch erheblichen langjährigen politischen Drucks bis in die 1980er-Jahre hinein, damit alle betroffenen Roma und Sinti Entschädigungen bekommen konnten.

Die größte Gruppe, die von den Wiedergutmachungszahlungen ausgeschlossen blieb, waren die Millionen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Jahrzehntelang hatten sich die Unternehmen, die von der Zwangsarbeit profitiert hatten, beharrlich geweigert, Entschädigungen zu zahlen. Auch die Bundesregierung wies die Forderungen mit Hinweis auf das Londoner Schuldenabkommen ab, wonach solche Zahlungen erst im Rahmen eines allgemeinen Friedensvertrages zu regeln seien. Erst als in den 1990er-Jahren in den USA Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter gegen deutsche Firmen drohten, lenkte die Industrie ein und suchte die damalige rot-grüne Bundesregierung nach einem Verfahrensweg für Entschädigungsleistungen. Nach langen, zähen, immer wieder vom Scheitern bedrohten Verhandlungen wurde 2000 die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet, deren Stiftungskapital in Höhe von zehn Milliarden DM zur einen Hälfte von deutschen Unternehmen, darunter Allianz, BMW, Volkswagen, Bayer, BASF, Krupp, Siemens, Deutsche Bank und Dresdner Bank, zur anderen Hälfte aus Steuermitteln bezahlt wurde. Mit einem komplizierten Auszahlungsmodus konnten nun endlich rund 1,6 Millionen noch lebende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor allem in Osteuropa eine bescheidene Entschädigungszahlung zwischen 5000 und 15 000 DM erhalten.

Erinnerung

Die 1950er-Jahre gelten als eine Zeit des Schweigens über die nationalsozialistische Vergangenheit. Auch wenn es stimmt, dass in vielen Familien über den Nationalsozialismus und die Beteiligung der Eltern, Großeltern und anderer Verwandter nicht gesprochen wurde, so war der Zweite Weltkrieg keineswegs tabu – es wurde jedoch nur auf spezielle Weise über ihn gesprochen.

Große Auflagen bis zu 500 000 Exemplare monatlich erreichten zum Beispiel die "Landser“-Hefte, in denen der Kriegsalltag der einfachen Soldaten verklärt und die ungebrochene Tapferkeit und Kameradschaft deutscher Soldaten beschworen wurden. Die Verbrechen der Wehrmacht, der Mord an den Juden in den besetzten Gebieten kamen in den "Landser“-Heften nicht zur Sprache. Ebenso unkritisch schilderte der Bestsellerautor Heinz G. Konsalik in weit über 100 Romanen, die insgesamt eine Millionenauflage erfuhren, den Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg.

Etliche Spielfilme behandelten den Weltkrieg. In "Des Teufels General“ (1955), nach dem Theaterstück von Carl Zuckmayer, unter der Regie von Helmut Käutner und in der Hauptrolle Curd Jürgens, erkennt der legendäre Fliegergeneral Harras, der sich über die Nazis lustig macht, zu spät, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, und begeht Selbstmord. 1959 kam "Hunde, wollt ihr ewig leben“ in die deutschen Kinos, der in realistischer Weise den katastrophalen Kampf um Stalingrad 1942/43 darstellte. In dem Antikriegsfilm "Die Brücke“ von Bernhard Wicki (1959) verteidigen 16-jährige Soldaten im April 1945 eine Brücke gegen die herannahende amerikanische Armee, weil sie glauben, der "deutschen Ehre“ verpflichtet zu sein und nicht "feige“ sein zu dürfen. Bis auf einen Jugendlichen kommen alle in diesem völlig sinnlosen Kampf um. Ebenso wurden in Ostdeutschland Filme produziert, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzten. Der wohl berühmteste ist "Die Mörder sind unter uns“ (1946) von Wolfgang Staudte, unter anderen mit Hildegard Knef. Der ehemalige Militärarzt Mertens trifft in Berlin seinen einstigen Vorgesetzten wieder, der an der Ostfront Zivilisten erschießen ließ und nun als geachteter Bürger lebt. Zunächst will Mertens ihn töten, besinnt sich jedoch und übergibt ihn dem Gericht. In Konrad Wolfs Film "Sterne“ (1959) entschließt sich ein deutscher Unteroffizier in einem besetzten bulgarischen Dorf nach langem Zögern, verfolgten Juden zu helfen und die Partisanen zu unterstützen.

Schriftsteller wie Heinrich Böll, Alfred Andersch und Günter Grass sowie andere, die sich in der "Gruppe 47“ zusammenfanden, behandelten in ihren Büchern die Kriegs- und Nachkriegszeit. "Wir schrieben“, notierte Heinrich Böll 1952, "also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern“. In einem der wichtigsten Bücher der deutschen Nachkriegsliteratur, "Die Blechtrommel“ (1958), schildert Günter Grass aus der Perspektive von Oskar Matzerath, der seit seinem dritten Lebensjahr nicht mehr wächst, deutsche Geschichte in den 1920er- und 1930er-Jahren. Auch in der DDR entstanden bedeutende Romane wie Bruno Apitz’ "Nackt unter Wölfen“ (1958), der im Konzentrationslager Buchenwald spielt, "Kindheitsmuster“ (1976) von Christa Wolf oder Hermann Kants "Der Aufenthalt“ (1977), die sich mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzten.

Im Dezember 1959 wurde die westdeutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt durch Hakenkreuz-Schmierereien an Synagogen und Schändungen von jüdischen Friedhöfen. Plötzlich stand die Gefahr des Antisemitismus in Deutschland wieder auf der Tagesordnung, nachdem man viele Jahre darüber gänzlich hinweggesehen hatte. Nun jedoch beschlossen die Kultusminister der Länder neue "Richtlinien über die Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichts- und gemeinschaftskundlichen Unterricht in den Schulen“ und forderten, die politische Aufklärung über den Nationalsozialismus zu verbessern. Die 16-teilige Fernsehserie "Das Dritte Reich“ erreichte 1960/61, allerdings bei einer noch geringen Verbreitung privater TV-Geräte, Einschaltquoten von etwa 60 Prozent.

Wie schwer sich die deutsche Gesellschaft mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit tat, zeigte die Wanderausstellung "Ungesühnte Nazi-Justiz“, die 1959/60 von der SPD-Studentenorganisation SDS organisiert worden war. In der Ausstellung wurden unter anderem auch Namen von Richtern genannt, deren verbrecherische Todesurteile im Zweiten Weltkrieg ungeahndet geblieben waren. Der Hauptverantwortliche für die Ausstellung, Reinhard Strecker, wurde daraufhin aus der SPD ausgeschlossen, die Mitgliedschaft im SDS im November 1961 endgültig als unvereinbar mit der SPD-Mitgliedschaft erklärt.

Der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem, der im Mai des Vorjahres von einem israelischen Kommando aus Buenos Aires, wohin er sich nach dem Krieg mit seiner Familie geflüchtet hatte, entführt worden war, rückte den Mord an den europäischen Juden wieder in das öffentliche Bewusstsein. Denn der Holocaust bildete den Mittelpunkt des Verfahrens gegen den Hauptverantwortlichen des RSHA für die Deportationen von Juden aus allen besetzten europäischen Ländern in die Vernichtungsstätten im Osten. Der Prozess gegen Eichmann wurde weltweit im Fernsehen übertragen, und Hannah Arendts erfolgreiches wie umstrittenes Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“, das 1963 in den USA und ein Jahr später auf deutsch erschien, prägte das Bild dieses NS-Täters.

Wenige Jahre später standen im Frankfurter Auschwitz-Prozess 24 Angeklagte vor Gericht. Sie hatten ebenso wie Eichmann nichts Dämonisches an sich, sondern hatten wie andere "normale“ Deutsche jahrelang nach dem Krieg unerkannt gelebt, obwohl sie unter anderem als Adjutant des Lagerkommandanten, als SS-Führer oder Lagerapotheker ganz entscheidenden Anteil am Massenmord gehabt hatten. Durch die umfangreichen Ermittlungen, rund 1300 gesammelte Zeugenaussagen, durch die Berichte von 359 Zeugen aus 19 Nationen vor dem Frankfurter Gericht und nicht zuletzt durch ausführliche Gutachten von Historikern des Instituts für Zeitgeschichte in München entstand in diesem Prozess erstmals ein umfassendes Bild vom Vernichtungslager Auschwitz, das durch Radio und Fernsehen auch in die Wohnzimmer der deutschen Gesellschaft übertragen wurde.

Während in der DDR mit einem monumentalen Ausbau der Gedenkstätte Buchenwald in erster Linie der kommunistischen Häftlinge gedacht wurde, die in den Konzentrationslagern gefoltert und ermordet worden waren, gelang es den jüdischen Gemeinden in Westdeutschland, das Gedenken an die Verfolgung der Juden aufrechtzuerhalten. Anfang der 1960er-Jahre fanden wieder Veranstaltungen am 9. November statt, die an den Pogrom 1938 erinnerten. Zum 40. Jahrestag 1978 gab es zahlreiche, vor allem lokale Initiativen, die an die verbrannten Synagogen, zerstörten Geschäfte, die vertriebenen und ermordeten Juden mit Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen und Broschüren erinnerten.

Im Januar 1979 wurde – wenn auch zunächst nur in den dritten Programmen – im deutschen Fernsehen die vierteilige US-amerikanische Serie "Holocaust“ ausgestrahlt, die eine enorme Resonanz fand. Gerade durch die Form des Spielfilms, in dem die Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Weiss, der nicht-jüdischen Familie Helms und derjenigen eines Täters, des SS-Angehörigen Dorf, miteinander verwoben wurden, erreichte die Fernsehserie ein Millionenpublikum. Die vier Teile zur besten Sendezeit nach der "Tagesschau“ erzielten heutzutage unerreichbare Einschaltquoten zwischen 31 und 40 Prozent, und selbst die anschließenden Diskussionsrunden mit Historikern, Publizisten und Psychologen schauten sich noch elf bis 18 Prozent der Fernsehzuschauer an.

Die Fernsehserie "Holocaust“ bildete zweifellos eine Zäsur im gesellschaftlichen Bewusstsein des Holocaust und darf in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Gleich im Anschluss veröffentlichte der "SPIEGEL“ einen Bericht des polnischen Häftlings Wiesław Kielar, der fünf Jahre Auschwitz überlebt hatte, und die "ZEIT“ brachte eine Serie über das Warschauer Getto. Die Gedenkstätte Dachau verzeichnete 1979 einen Zuwachs der Besucherzahlen von 22 Prozent. "Holocaust“, so urteilte der Medienhistoriker Frank Bösch, prägte "die mediale Erinnerungskultur der achtziger Jahre“. Nachfolgende Spielfilme wie "Die Geschwister Oppermann“ (1983), "Väter und Söhne“ (1986) und "Die Bertinis“ (1988) orientierten sich an Familiengeschichten. Nach den Tätern erhielten nun auch die jüdischen Opfer Namen und Gesichter.

Mit seinem monumentalen Film "Shoah“ (1986), an dem er über zehn Jahre gearbeitet hatte, setzte der französische Regisseur Claude Lanzmann einen Markstein in der Visualisierung des Holocaust. In über neun Stunden sind es allein Überlebende und wenige Mitläufer und Täter, die über den Massenmord berichten. Kein einziges Dokument wird gezeigt, kein Foto oder Filmausschnitt aus der NS-Zeit – nur die Stimmen der Opfer sollen Zeugnis ablegen. "Dieser Film“, so Lanzmann, "ist nicht aus Erinnerungen gemacht, das habe ich gleich gewusst. Vor Erinnerungen graut mir: Erinnerungen sind kraftlos. Der Film bewirkt die Aufhebung jeglicher Distanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, ich habe diese Geschichte in der Gegenwart neu erlebt.“ Ebenso nachhaltig, wenn auch weit publikumswirksamer wirkte ein Jahrzehnt später Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste“ (1993), der wohl wie kein anderer Spielfilm vorher weltweit ein Millionenpublikum erreicht hat.

In den vergangenen drei Jahrzehnten sind zahlreiche Gedenkstätten an Orten nationalsozialistischen Terrors entstanden, oftmals auf Initiative lokaler Bürgergruppen. An ehemalige Gestapogefängnisse wird in deutschen Städten ebenso erinnert wie an Deportationsplätze und Standorte von 1938 niedergebrannten Synagogen. In den KZ-Gedenkstätten sind umfassende, modern gestaltete Ausstellungen zu sehen, Schulklassen werden mit pädagogischen Programmen über die nationalsozialistischen Verbrechen aufgeklärt. Zu den nachhaltigsten Gedenkorten im Alltag gehören die in mehreren deutschen Städten verlegten "Stolpersteine“. Sie werden vor den letzten selbstgewählten Wohnhäusern in den Bürgersteig eingelassen und erinnern namentlich an die einstigen jüdischen und anderen Nachbarn, die Opfer der NS-Zeit wurden.

Der Holocaust gehört seither nicht nur zum Gedächtnis der Deutschen, sondern seiner wird global erinnert. Die Gründung des US Holocaust Memorial Museum in Washington 1993 ist dafür ein sichtbares Zeichen. In Deutschland dauerte es indes bis in das Jahr 2005, als nach jahrelangen Debatten in Berlin das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eingeweiht werden konnte. Drei Jahre später wurde unweit vom Stelenfeld ein eigenes Denkmal zur Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen aufgestellt, und im Oktober 2012 folgte ein eigenes Denkmal für die Roma und Sinti. Die Unausweichlichkeit, dass bald auch die letzten Überlebenden des Holocaust gestorben sein werden und sie nicht mehr unmittelbar persönlich Zeugnis vom Geschehen ablegen können, hat einen deutlichen Schub in der Dokumentation ihrer Erlebnisse, in der Musealisierung und Medialisierung des Holocaust bewirkt. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist offenkundig keineswegs abgeschlossen, sondern wird auch weiter die Zukunft bestimmen. (Siehe auch Infoaktuell "27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“.)

Quellentext„Ein Tag der Befreiung“

Eine Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung, speziell in Deutschland, war die Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in der Gedenkstunde zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 1985.

„Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.
Wir Deutschen begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.
Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.
Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang.
Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewissheit erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?
Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?
Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse, dunkle Zukunft.
Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.“ [...]

http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/NeueHerausforderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8Mai1985/ (zuletzt abgerufen: 8.10.12)

QuellentextBesuch in einer Gedenkstätte

[...] Nun steht ein junger Historiker zwischen den ehemaligen SS-Kasernen und entschuldigt sich bei den Schülern für seine Sonnenbrille. Eine blöde Lichtempfindlichkeit, sagt Roland Cerny-Werner zur Klasse 11 des evangelischen Gymnasiums Erfurt. Tatsächlich lässt die Brille ihn nach Reiseleiter aussehen, und dieses Touristische wirkt ein bisschen beschämend an einem Ort wie diesem. Das sagt Werner natürlich nicht. Denn Scham wäre Einfühlung, und Einfühlung wäre Überwältigung, also fast schon verordneter Antifaschismus, den aber wollen die Erben der größten „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR“ unbedingt überwinden. Bloß keine hohle Pietät! Bloß keine Andachtsbefehle! Höflich bittet Werner zu beachten, dass die Gedenkstätte auch ein Friedhof sei und Angehörige von Toten hierherkämen. „Überlegt mal, ob ihr wirklich ein Handyfoto von den Krematoriumsöfen braucht. Wir haben kein Fotoverbot, nur ein Rauchverbot. Entscheidet selbst.“ Ein paar langhaarige Jungen kramen ihre Telefone hervor und schalten sie aus.
Zwei Stunden dauert die Führung übers Lagergelände. [...]
Werner hat die Krematoriumsfotos nicht zufällig erwähnt. Auf rechten Websites kursieren immer wieder neue Schnappschüsse von den Öfen und Kommentare im Stil von „Schade, dass es vorbei ist“. Zwar fand hier nie ein Brandanschlag statt wie 1992 im ehemaligen KZ Sachsenhausen, als Neonazis die Baracke mit der Ausstellung über jüdische Häftlinge zerstörten. Dafür stellen Thüringer Jungrechte sich gern in SS-Pose hinter die Genickschussanlage. Sie haben Grundrisse des Lagers kopiert, um es am Modell „zu optimieren“. Sie pinkeln als Mutprobe auf Gedenksteine.
Das Problem in der Aufarbeitungsprovinz sind jedoch nicht nur die Rechtsextremen, sondern auch die Erwartungen gutwilliger Geschichtstouristen. Manche sind enttäuscht, dass es hier keine Gaskammern gibt. Andere staunen, dass es eine komplizierte Infrastruktur der Vernichtung gab, 24 Konzentrationslager und weit über 1000 Außenlager. Offenbar wissen die Deutschen nicht ganz so genau über das „Dritte Reich“ Bescheid, wie die Schlussstrichfraktion behauptet. [...]
Etwa 60 000 Menschen wurden [...][in Buchenwald] ermordet – Politische, Homosexuelle, Kriegsgefangene, Sinti und Roma, Juden. 60 000 klingt wenig im Vergleich zu sechs Millionen.
Deshalb fragt Werner die Klasse: „Wenn Auschwitz ein Vernichtungslager war, war Buchenwald dann keins?“ Ein Augenblick Stille im Schatten der ehemaligen Kommandantur. Ein Junge schlägt vor: „Doch, aber anders.“ Ein Mädchen: „Vernichtung durch Arbeit. Durch Hunger, Kälte, Prügel.“ Sie stehen vor den Hundezwingern des Lagerkommandanten Koch und sprechen über Willkür als System. Zum Beispiel konnten SS-Männer sich „Zusatzurlaub erschießen“, indem sie Fluchttote für die Statistik produzierten, dazu musste man nur die Mütze eines Gefangenen hinter die Postenkette werfen und ihm mit vorgehaltener Waffe befehlen, sie aufzusetzen.
Werner scheint solche brutalen Details ungern zu erzählen. [...] Die neue Historikergeneration will Unrechtsbewusstsein statt Gefühlsausnahmezustand.
Wenn die Schüler sich in den schmalen Arrestbunker drängen, wo damals die Opfer auf ihre nächste Folter warteten, sollen sie sich nicht wohlig gruseln, sondern begreifen: Faschismus war ein Gesellschaftsverbrechen. Ausführlich diskutiert Werner mit ihnen über „Volksschädlinge“ und die völkische Umdefinition des Jüdischseins in ein „Rassemerkmal“.
Der Holocaust selbst spielt bei den einfachen Gedenkstättenführungen keine Hauptrolle, aber kommt im Vorbeigehen immer wieder vor. Während die Schüler das Lagertor passieren, bemerkt einer, dass hier als Motto „Jedem das Seine“ stehe, in Auschwitz hingegen „Arbeit macht frei“. [...] Als ihr betreuender Lehrer gegen ein Uhr mahnt, sie müssten sich nun beeilen, um den Bus nach Hause zu erwischen, erhebt sich lautstarker Protest. Wozu jetzt noch Physikunterricht?
Es ist nicht die Schuld der Schüler, wenn die Geschichte abgespult werden muss wie beliebiger Schulstoff. Über den Appellplatz eilen sie ins Krematorium. Die weißen Fliesen der Pathologie, die sauberen Klinker der Öfen, die welken Blumen im Gedenkraum. Draußen die abschließende Bitte, möglichst nicht zu rennen zur Bushaltestelle. Fotografiert hat heute keiner. [...]
[...] „Erinnerung ist heute so ein heiliges Wort“, sagt [der amtierende westdeutsche Gedenkstättendirektor Volkhard] Knigge, „als hätte sie nie der Verstetigung von Revanche und Rache gedient.“ Die Neonazis kämen auch hierher, um sich zu erinnern, schon deshalb dürfe die Gedenkstätte kein Horror-Disneyland sein. Schaulust dürfe sich nicht entfalten, auch wenn manche Besucher den Verzicht auf Schreckensrequisiten verharmlosend finden. Sorgfältige Forschung sei der einzige Schutz gegen die Oberflächlichkeit des Gedenkens.
[...] Und jetzt? Gedenkauftrag erfüllt? Was könnte noch kommen? Der letzte Bus natürlich, darin sitzen ein paar junge Gedenkstättenhistoriker und fahren in den Feierabend. Weil in Weimar Zwiebelmarkt ist, das Oktoberfest Ostdeutschlands, wollen sie noch eine Bratwurst essen. Werner ist auch dabei. Sein Kollege Roland Hirte erzählt ihm, dass vorm Goethe-Schiller-Denkmal während einer Führung zwei ausländische Schüler zusammengeschlagen wurden. Heute tummeln sich auf dem Theaterplatz massenhaft Feindflug-Tattoos und Reichsarbeitsfront-Kappen. Was tun gegen Neonazis? Darüber entbrennt in einer Kneipe heftiger Historikerstreit. Werner: Ich ignoriere Lonsdale-Pullover bei meinen Führungen. Bloß keine Extraaufmerksamkeit, deswegen laufen die ja so rum. Hirte: Ich spreche die an. Werner: Dann platzt meine ganze Veranstaltung. Hirte: Du kannst doch nicht einfach wegschauen. Ich will wissen, wen ich vor mir habe und ob die Klasse zustimmt. Werner (gereizt): Es geht doch nicht um unsere Bedürfnisse. Die Mehrheit der Klasse soll was lernen. Hirte (zornig): Du hast aber die Pflicht, das anzusprechen. Die müssen den Pullover rumdrehen oder werden rausgeschmissen. Werner (laut): Was bringt das? Soll ich demnächst NPD-Wähler rausschmeißen, obwohl die Partei legal ist? Dann müsst ihr mich auch rausschmeißen!
Von wegen Gedenkroutine. Gedenken mit Routine wäre Geschichte ohne Gegenwart. Dazu müsste man sich schon blind und taub stellen. Die Buchenwaldhistoriker vereinbaren noch in der Kneipe eine Weiterbildung. Streit ist ihre Waffe gegen die Weinerlichkeit. Schade, dass die letzten Überlebenden nicht dabei sind. Die zornige Anteilnahme der Jungen wäre ihnen vielleicht ein Trost.

Evelyn Finger, „Erinnerung ist so ein heiliges Wort“, in: ZEIT Geschichte Nr. 4/2008, S. 78 ff.
http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2008/04/Reportage-Gedenkstaette-Buchenwald (zuletzt abgerufen: 8.11.2012)

Michael Wildt ist gelernter Buchhändler und arbeitete von 1976 bis 1979 im Rowohlt-Verlag. Anschließend studierte er von 1979 bis 1985 Geschichte, Soziologie, Kulturwissenschaften und Theologie an der Universität Hamburg. 1991 schloss er seine Promotion zum Thema „Auf dem Weg in die ‚Konsumgesellschaft‘. Studien über Konsum und Essen in Westdeutschland 1949-1963“ ab und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. Von 1997 bis 2009 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und habilitierte 2001 mit einer Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Seit 2009 ist er Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalsozialismus, Holocaust, Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und soziale wie politische Ordnungsvorstellungen in der Moderne.

Kontakt: E-Mail Link: michael.wildt@geschichte.hu-berlin.de

Peter Krumeich, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Wildt, hat an der inhaltlichen Entwicklung des Heftes mitgewirkt und insbesondere in Abstimmung mit der Redaktion die Bildrecherche für dieses Heft übernommen.