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Nach dem Wachstum kommt die Ungewissheit | Hintergrund aktuell | bpb.de

Nach dem Wachstum kommt die Ungewissheit

Redaktion

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Brasilien hat ein Jahrzehnt des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufstiegs hinter sich. Nun kommt die Fußballweltmeisterschaft in das größte Land Südamerikas und viele Brasilianer fragen sich nach dem Mehrwert des teuren Spektakels.

An einer Bushaltestelle in Brasiliens Hauptstadt Brasilia demonstrieren Ende Mai Brasilianer gegen den Weltfußballverband FIFA, der die Fußballweltmeisterschaft 2014 in ihrem Land veranstaltet. (© AP)

Der Gastgeber will den sechsten Titel: Wenn Brasiliens Fußballnationalmannschaft an diesem Donnerstagabend deutscher Zeit die Weltmeisterschaft im eigenen Land mit dem Spiel gegen Kroatien eröffnet, dann geht das Team als Favorit ins Turnier. Fünf WM-Titel hat die "Seleção" bereits geholt – den letzten 2002 in Japan und Südkorea, den ersten 1958 in Schweden. Das Interner Link: nach Fläche und Bevölkerung fünftgrößte Land der Erde ist dabei längst nicht mehr nur im Fußball eine Macht. Brasiliens wirtschaftliche und politische Bedeutung hat sich im vergangenen Jahrzehnt enorm gesteigert.

Das "B" in "BRICS"

Was die Bank Goldman Sachs 2003 in ihrem Jahresbericht für die sogenannten BRICS-Länder – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – prophezeite, hat sich weitestgehend bestätigt: Ihre Volkswirtschaften sind stark gewachsen und Interner Link: die Länder haben weltweit an Einfluss gewonnen. In Brasilien hat sich der Boom seit 2011 zwar abgekühlt, die Zuwachsraten der Wirtschaft sanken. Doch das ändert nichts an dem steilen Aufstieg, den das Land hinter sich hat: 2012 lag Brasiliens Bruttoinlandsprodukt Interner Link: um 28 Prozent über dem Wert von 2002. 19 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs sind in diesem Zeitraum entstanden. Der Handel blühte auf, Exporte wie Importe haben stark zugenommen, die Welt kauft emsig Rohstoffe und Industriegüter aus Brasilien. Kein anderes Land produziert so viel Zucker, Kaffee und Tabak wie der 8,5 Millionen Quadratkilometer große Staat, der fast die Hälfte der Fläche Südamerikas einnimmt. Auch die Brasilianer selbst konsumieren immer mehr und kurbeln Wirtschaft und Arbeitsmarkt an.

Das hat auch mit den politischen Prämissen der seit 2003 regierenden Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, kurz: PT) zu tun. Armut und Hunger zu bekämpfen und soziale Entwicklung zu befördern – mit diesen Versprechen war der einstige Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva 2002 als Präsident angetreten.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff winkt im Dezember 2012 bei der Eröffnungsfeier des Governador-Magalhães-Pinto-Stadions, besser bekannt als"Mineirão", in Belo Horizonte. (© EFE/Presidencia de Brasil)

Seit 2011 führt seine Nachfolgerin Dilma Rousseff diese Politik weiter, deren Kern zahlreiche Sozialprogramme sind. Darunter ist "Bolsa Familia" das bekannteste: Eltern schicken ihre Kinder in die Schule sowie zu regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen. Dafür erhalten sie im Schnitt 35 Dollar pro Monat vom Staat, der mit diesem Programm 46 Millionen Menschen erreicht.

Mit den Preisen steigt die Wut

Trotz dieser Errungenschaften waren die weltweiten Schlagzeilen in den vergangenen Monaten von den landesweiten Protesten gegen die WM bestimmt. Schon ein Jahr vor der WM, Mitte Juni 2013, hatten in mehreren Städten insgesamt 200.000 Menschen gegen die Ausgaben für die WM protestiert – auch weil die WM so viel Geld verschlingt. Schätzungen zufolge liegen die Kosten insgesamt bei etwa 11 Milliarden Euro. Geld, das im Bildungs- oder Gesundheitswesen dringend benötigt würde. Ein weiterer Stein des Anstoßes ist das Auftreten der staatlichen Sicherheitskräfte: Um WM- und Olympia-Touristen zu schützen, geht der Staat vor allem in den "Favelas", den Stadtsiedlungen Rio de Janeiros, äußerst hart gegen Bandenkriminalität und Drogenhandel vor. Kritiker bemängeln, dass die Einsätze das Alltagsleben vieler Bürger militarisierten und langfristig nichts an den immens hohen Kriminalitätsraten des Landes ändern würden. Bei der Bevölkerung selbst hat das harte Vorgehen den schlechten Ruf der Polizei noch verstärkt. Bis in die Mittelschicht hinein hält man Teile der eigenen Sicherheitskräfte für korrupt, wirft ihnen sogar Folter und Verwicklung in kriminelle Machenschaften vor.

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Wissenschaftler: Großevents bringen nichts

Das Gefühl vieler Brasilianer, von der WM selbst nicht profitieren zu können, lässt sich sogar wissenschaftlich untermauern: Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts kommen zum Schluss, dass internationale Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien volkswirtschaftlich dem Gastgeber keinen Nutzen brächten. Die Investitionen seien weder nachhaltig noch gemeinwohlorientiert. Profiteure seien dagegen Organisationen wie der Weltfußballverband FIFA oder bei Olympischen Spielen das IOC (Internationales Olympisches Komitee).

Spannend bleibt es in Brasilien auch direkt nach der WM. Denn im Oktober steht die Präsidentschaftswahl an. Doch trotz der Proteste der vergangenen Monate und des inzwischen stagnierenden Wirtschaftswachstum wäre alles andere als ein Sieg von Amtsinhaberin Rousseff derzeit eine Überraschung.

Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien

Das Turnier

Zwischen 12. Juni und 13. Juli ist Brasilien Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft 2014. Um den Titel spielen 32 Mannschaften in zwölf Stadien. Diese neu zu errichten oder auszubauen hat Schätzungen zufolge 2,7 Milliarden Euro gekostet – mehr als bei den letzten beiden Weltmeisterschaften in Südafrika und Deutschland zusammen.

Der Gastgeber

Brasilien hat eine 21 Jahre andauernde Militärdiktatur mit Folter, Entführungen und Morden hinter sich, die 1985 endete. Eine Wahrheitskommission ist derzeit mit der Aufklärung der Verbrechen befasst. Die vergangenen zehn Jahre standen im Zeichen wirtschaftlichen, sozialen und weltpolitischen Aufschwungs. Gerade für viele andere lateinamerikanische Länder ist Brasilien heute ein wichtiger, starker Partner.

Die Bürger

Die Brasilianer gelten als fußballbegeistert, doch die Kritik an den immensen Kosten der Weltmeisterschaft hat im vergangenen Jahr zugenommen. Die Zustimmung zur Ausrichtung der Veranstaltung ist Umfragen zufolge auf 48 Prozent gesunken.

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