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Brasiliens Aufstieg Möglichkeiten und Grenzen regionaler und globaler Politik

Wolf Grabendorff

/ 15 Minuten zu lesen

Brasilien tritt verstärkt als regionale Führungsmacht auf – und ist dabei in Lateinamerika nicht unumstritten. Dies führt auch zu zunehmender Distanz und Konflikten mit den USA und der EU.

Der Zuckerhut in Rio de Janeiro (© picture alliance/augenklick )

Es gibt wenige Länder die ein so ausgeprägtes Verständnis von ihrer Rolle als Großmacht haben wie Brasilien. Interne Reformen und externe Entwicklungen seit Ende der 1970er- Jahre wie das Ende des Kalten Krieges haben Brasiliens Aufstieg zur Führungsmacht erheblich erleichtert. Dazu gehörten vor allem eine ganze Reihe wichtiger wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen unter den letzten drei Präsidenten, Fernando Henrique Cardoso (1995-2002), Lula da Silva (2003-2010) und Dilma Rousseff (seit 2011). Vor allem aber der Erfolg eines demokratisch verankerten Entwicklungsmodells, sowie auch die ständig wachsenden Energiereserven, eine drastisch veränderte geopolitische Situation in Lateinamerika und politisch wie wirtschaftlich ständig intensivere Süd-Süd-Beziehungen auf Grund Brasiliens ungewöhnlich erfolgreicher Diplomatie. Seit Goldman Sachs 2003 das BRIC Konzept der 4 aufstrebenden Wirtschaftsmächte (Brasilien, Russland, Indien und China) vorstellte, ist Brasiliens Aufsteigerrolle aus der internationalen Diskussion nicht mehr wegzudenken.

Brasiliens Außenpolitik beruht vor allem auf vier Grundvorstellungen, die ideologisch durchaus unterschiedliche Regierungen den jeweiligen internationalen Rahmenbedingungen anzupassen wussten:

  • Die Vorstellung von einem großen Land, dessen Ressourcen nicht nur eine Grundlage für die eigene Entwicklung, sondern auch für seinen internationalen Einfluss bieten.

  • Die Vorstellung von einer multirassischen tropischen Kultur, die in der Lage ist, die Gegensätze zwischen schwarz und weiß, arm und reich, entwickelt und unterentwickelt zu überwinden.

  • Die Vorstellung vom langfristigen Erfolg eines marktwirtschaftlichen Entwicklungsmodells mit einer bedeutenden staatlichen Komponente, die vor allem für den sozialen Fortschritt verantwortlich ist.

  • Die Vorstellung von einem pragmatischen Nationalismus, der nur an den jeweiligen nationalen politischen Interessen orientiert ist.

Diese Selbsteinschätzung lässt sich auch an den vier derzeitigen Zielvorstellungen der brasilianischen Außenpolitik ablesen:

  • Die Teilnahme an den Entscheidungen aller wichtigen internationalen Organisationen

  • Die Anerkennung durch die Führungsmächte USA, EU, Russland, China und Indien als gleichberechtigter Partner in einer multipolaren Weltordnung

  • Die Akzeptanz als regionale Führungsmacht in Südamerika

  • Die Aufnahme des Landes als ständiges Mitglied in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN)

Die beiden letzten Präsidenten Brasiliens – besonders Lula da Silva – sind in ihren Bemühungen um diese Ziele sehr aktiv gewesen und haben dabei gegenüber den Nachbarstaaten und anderen außenpolitischen Partnern vor allem auf Konsens gesetzt und sich außerdem bei verschiedenen internationalen Konflikten auch als Vermittler bewährt. Der internationale Aufstieg Brasiliens hat nicht nur zum nationalen Stolz beigetragen, sondern auch interne und externe Kosten verursacht, die in Zukunft noch zunehmen dürften, weil die zentrale Entscheidung Brasiliens, sich gegebenenfalls um die Aufnahme in die "Erste Welt" – etwa durch den OECD-Beitritt – zu bemühen oder aber seine Rolle als eine Führungsmacht des Südens auszubauen, immer noch aussteht.

Interne Voraussetzungen für den internationalen Aufstieg

Außenpolitik ist in Brasilien traditionell Staatsaufgabe und war bis zu Beginn dieses Jahrhunderts kaum innenpolitischen Diskussionen ausgesetzt. Brasiliens Diplomaten gelten weltweit als besonders kompetent und einflussreich und spielen bei zahlreichen multilateralen Verhandlungen eine herausragende Rolle. Unter Lula da Silvas Präsidentschaft wurden insgesamt 36 neue diplomatische Vertretungen eröffnet, die meisten davon in Afrika. Präsident Lula da Silva betonte dabei die historische Verpflichtung Brasiliens mit seinen 76 Millionen Einwohnern afrikanischer Herkunft, die vorranginge Beziehungen mit Afrika nach sich zögen. Unter seiner Präsidentschaft hat allerdings auch der parteipolitische Einfluss auf die Außenpolitik erheblich zugenommen und dadurch zu einer Verringerung des Itamaraty – wie das brasilianische Außenministerium genannt wird – dominierten innenpolitischen Konsens über das Profil der brasilianischen Außenpolitik beigetragen. Durch die Vertiefung des demokratischen Prozesses nahmen auch andere Akteure zu regionalen und globalen Fragen Stellung und tragen dazu bei, dass in Brasilien die Außenpolitik seit Beginn dieses Jahrhunderts zu einem immer wiederkehrenden Streitobjekt in der Innenpolitik geworden ist. Anlass dafür waren außerdem die heftigen Reaktionen der Opposition und der Medien in Brasilien auf die Verstaatlichung von Petrobras-Fördereinrichtungen in Bolivien 2006, auf den Staatsstreich in Honduras 2009 und besonders auf die Unterstützung von Präsident Nikolás Maduro während der innenpolitischen Auseinandersetzungen in Venezuela 2014. Die hohe politische Sensibilität in Brasilien hinsichtlich einer außerdemokratischen Rolle der Militärs in der Lateinamerika ist nicht nur auf die Erfahrungen im eigenen Land zurückzuführen, sondern muss auch im Zusammenhang mit Brasiliens Bestrebungen zur Schaffung und Erhaltung der regionalen politischen Stabilität gesehen werden.

Zugunsten dieses Ziels hat Präsident Lula da Silva das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates hinter sich gelassen. Das ist ihm umso leichter gefallen, da sein eigenes demokratisch weitgehend stabiles und ideologisch weniger festgelegtes Entwicklungsmodell weder wirtschaftlich noch sozial den Vergleich mit anderen Modellen in der Region zu scheuen braucht. Dieser interne Entwicklungserfolg Brasiliens innerhalb der letzten zwanzig Jahre trägt vermutlich mehr zu seiner regionalen Führungsrolle bei, als seine zukünftige Rolle als Erdölexporteur mit den derzeit sechst größten Erdölvorräten der Welt. Andererseits spiegeln die weiterhin bestehenden Defizite in der Infrastruktur, der Industrieproduktion und dem Bildungssystems, aber auch bei der Einkommensverteilung eher die Schattenseiten des brasilianischen Modells wider. Die generelle Stabilität der demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in dem fünftgrößten Land der Erde mit der siebtgrößten Volkswirtschaft, aber nur dem zehntgrößten Militärhaushalt und knapp 200 Millionen Einwohnern bildet aber sicherlich die entscheidende Voraussetzung für den weiteren Aufstieg Brasiliens zu einer globalen Führungsmacht.

Nachbarschaftsbeziehungen: Integration oder regionale Kooperation in Südamerika?

Dem "Vater" der brasilianischen Außenpolitik , Baron Rio Branco, gelang es während seiner Amtszeit als Außenminister (1902-1912) ohne eine einzige Kriegshandlung, aber durch sechs verschiedene Schlichtungsverfahren mit den Nachbarstaaten, das Territorium Brasiliens um ein Gebiet von der Größe Frankreichs zu erweitern. Friedliche Konfliktlösungen ist seither Brasiliens Modell für seine Regionalpolitik in Südamerika. Die Aussöhnung mit dem "Erzrivalen" Argentinien wurde zum außenpolitischen Leitmotiv beider Staaten in den ersten Jahren ihrer Redemokratisierung in den 1980er-Jahren. Ein bilaterales Abkommen über die gegenseitige Inspektion der Nuklearanlagen wurde zur Keimzelle für die Gründung des Mercosur, ein gemeinsamer Markt Südamerikas, 1991. Auf Grund der asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten blieb jedoch dessen dauerhafter Erfolg aus. Dennoch ist der Mercosur in den zwanzig Jahren seines Bestehens zu einem wichtigen Faktor der politischen Stabilität im Cono Sur Südamerikas geworden. Durch politische Assoziation zunächst mit Chile und Bolivien sowie später mit Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela wurde der Mercosur von Brasilien auch als Instrument für die Verbesserung der Nachbarschaftsbeziehungen genutzt. Die politische – aber noch nicht vollzogene wirtschaftliche – Aufnahme Venezuelas sowie die Beitrittsabsicht Boliviens stellen, angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsmodelle und politischen Allianzen, allerdings Brasiliens Nachbarschaftspolitik vor neue Herausforderungen.

Brasilien hat sich schon seit 1994, als es als Antwort auf die von den USA geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) seinen Nachbarn eine südamerikanische Freihandelszone (SAFTA) vorschlug, um eine regionale Institutionenbildung bemüht, in deren Mittelpunkt aber immer eher die regionale Kooperation als die regionale Integration stand. So wurde auf seine Initiative 2004 die Südamerikanische Gemeinschaft der Nationen (CSN) gegründet, die alle Staaten des Halbkontinents einbezieht. Damit wurde Brasiliens geopolitische Entscheidung für eine südamerikanische Identität formalisiert. Dabei ging es vor allem darum, in Zukunft eine doppelte strategische Rivalität mit anderen Führungsansprüchen in der Region wie der USA oder Mexiko auszuschließen. Diese Strategie konnte Brasilien aber nicht in vollen Umfange durchsetzen, weil es kaum bereit war – wie die Beispiele Kuba und Honduras gezeigt haben – diese Regelung selbst einzuhalten, und weil verschiedene südamerikanische Staaten – vor allem Kolumbien und Venezuela eigene Konzepte entwickelt haben. Dennoch hat Brasilien seinen Führungsanspruch in der Region keineswegs aufgegeben sondern eher ausgebaut. So hat es verschiedene Unterorganisationen des Unasur ins Leben gerufen, von denen der Südamerikanische Verteidigungsrat (CDS) das politisch wichtigste institutionelle Kooperationsinstrument darstellt, weil hier zum ersten Male die Verteidigungs- und Außenminister Südamerikas, unter Ausschluss der USA, gemeinsam an der Etablierung einer regionalen Sicherheitsarchitektur arbeiten. Dies zeigt, dass Brasilien bereit ist, Süd-Süd Kooperationen den Vorrang vor der bis dahin weitgehend reibungslosen Zusammenarbeit mit den USA in Sicherheitsfragen einzuräumen.

Brasiliens Bereitschaft zu größerer sicherheitspolitischer Verantwortung lässt sich auch an seiner Führungsrolle bei der VN-Stabilisierungsmission (MINUSTHA) in Haiti ablesen. Brasilien war 2004, nachdem Haitis Präsident Jean-Bertrand Aristide ins Exil gegangen war, nicht nur bereit, die militärische Führung mit einem großen Kontingent eigener Truppen zu übernehmen sondern konnte auch acht weitere lateinamerikanische Länder überzeugen hier international Flagge zu zeigen. Die dabei gesammelten logistischen Erfahrungen dürften die regionale Sicherheitskooperation im Südamerikanischen Verteidigungsrat erleichtern und Brasilien in Zukunft auch für andere internationale Krisenmissionen prädestinieren.

Auf der bilateralen Ebene hat Brasilien Anstrengungen zur Stabilisierung der Region unternommen. Dies war sowohl bei innenpolitisch riskanten Entwicklungen in Paraguay, Bolivien und zuletzt in Honduras der Fall, wie auch bei Vermittlungsversuchen zwischen Präsident Chávez und der Opposition in Venezuela 2003 und mit Hilfe von Unasur erneut 2014, sowie zwischen Kolumbien und Venezuela 2009. Das ehrliche Bemühen demokratische Regeln im innerstaatlichen wie zwischenstaatlichen Verhalten zu stärken, wird man Brasiliens Regierung dabei nicht absprechen können. Wenn eigene wirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen waren, wie im Falle der Beziehungen zu Argentinien, Bolivien, Ecuador, Paraguay und Venezuela, ließ sich allerdings oft ein Konflikt mit den politischen Stabilisierungsbemühungen kaum vermeiden, denn positive Wirtschaftsbeziehungen garantieren keineswegs immer harmonische Nachbarschaftsbeziehungen und die angestrebte regionale Führungsrolle Brasiliens wird in Südamerika durchaus auch als Hegemonieanspruch kritisiert.

Brasilien als "Anti-Status-quo-Macht" im Internationalen System

Die Grundlage von Brasiliens vielfachen diplomatischen Anstrengungen liegt in der Rolle des Landes als "Anti-Status-quo-Macht" innerhalb der internationalen Staatenhierarchie. Seit der Gründung der VN, zu deren Gründungsmitgliedern Brasilien zählt, hat sich das Land gegen die Festschreibung einer internationalen Machtkonstellation am Ende des II. Weltkrieges gewandt und sich in allen multilateralen Gremien immer wieder für eine "gerechtere" Weltordnung eingesetzt, an deren Gestaltung der "Süden" ausreichend beteiligt werden müsse.

Das Bemühen, mit Hilfe der G4-Staaten (Japan, Deutschland, Brasilien und Indien) die Reform des Sicherheitsrats der VN voranzutreiben und selbst als Vertreter Lateinamerikas dort einen ständigen Sitz zu erhalten, ist vermutlich die bekannteste Form seines Einsatzes für eine neue Weltordnung. Es lag weniger an der lautstarken Opposition von Argentinien und Mexiko, sondern eher an der generell ablehnenden Haltung der ständigen Mitglieder gegenüber der G4-Initiative, dass es hier bisher nicht zu Reformen gekommen ist. Erfolgreicher war der Versuch Brasiliens innerhalb der Verhandlungen der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) eine "Gegenmacht" gegen die aus seiner Sicht "unheilige Allianz" von USA und EU in Fragen der Agrarsubventionen zu organisieren. Während des Verhandlungsprozesses in Cancún 2003 rief Brasilien mit tatkräftiger Unterstützung Chinas und verschiedener Staaten des Südens die G20-Staaten innerhalb der WTO ins Leben, deren strikte Ablehnung des "westlichen" Verhandlungsangebots zum Scheitern der Verhandlungen beitrug. Seitdem sind sich auch die USA und die EU einig darin, dass ohne eine Zustimmung Brasiliens kein Erfolg mehr in den Verhandlungen der WTO zu erreichen sein dürfte. Dies ist 2013 mit der Wahl eines Brasilianers, Roberto Azevodo, zum Generalsekretär der WTO nur noch offensichtlicher geworden

Auch andere multilaterale Initiativen haben dazu beigetragen das Profil Brasiliens als Führungsmacht des Südens zu schärfen. Gleich zu Beginn der Amtszeit Lula da Silva wurde 2003 die trikontinentale IBSA-Gruppe (Indien, Brasilien. Südafrika) ins Leben zu rufen. Obwohl Brasilien innerhalb der BRICS Staaten keineswegs eine herausragende Rolle spielt, war es Lula da Silva gelungen, Präsidententreffen dieser sehr heterogenen Gruppe zu organisieren, und damit ihre Position im internationalen System zu stärken. Zu dieser Betonung der gemeinsamen Interessen des Südens müssen auch die periodische Ausrichtung von Präsidententreffen mit den arabischen und afrikanischen Staaten im Rahmen von Unasur gezählt werden. Alle diese diplomatischen Anstrengungen haben nicht nur die Diversifizierung der brasilianischen Außen- und Wirtschaftsbeziehungen zum Ziel gehabt, sondern zweifelsohne auch die Rolle des Landes als Führungsmacht des Südens gefestigt. Mit der Etablierung dieser internationalen Netzwerke ist auch der globale Einfluss Brasiliens gestiegen, zumal seine Fähigkeiten, Brücken auch über politische und wirtschaftliche Interessenunterschiede hinweg zu schlagen, immer mehr gefragt sind und teilweise schon als die spezifische "soft power" des Landes angesehen werden.

Seine Führungsrolle im Geflecht "neuer Mächte" hat verständlicher Weise das Profil Brasiliens in seinen stärker traditionellen bilateralen Beziehungen mit den USA und der EU erheblich verändert. Der erkennbare Rückgang des Einflusses der USA in Lateinamerika seit Ende des Kalten Krieges – und noch verstärkt nach den Anschlägen des 11. September 2001 – hat ebenfalls zur Ausweitung der regionalen Rolle Brasiliens beigetragen. Aber vor allem die Ablehnung Brasiliens des wichtigsten US Vorhabens in der Region, die Etablierung einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA) 2003 war eine Zäsur in den bilateralen Beziehungen. Damals hatten in Lateinamerika nur die Mercosur-Mitgliedsstaaten und Venezuela Brasilien in seiner ablehnenden Haltung unterstützt und damit zwar die Regionalstrategie der USA zu Fall gebracht aber gleichzeitig den Weg für die neue US Strategie bilateraler Freihandelsabkommen mit den "willigen" Staaten Lateinamerikas freigemacht. Die weltwirtschaftlichen Veränderungen im letzten Jahrzehnt haben Brasiliens Handelsbeziehungen auf der Süd-Südschiene, vor allem mit Asien aber auch innerhalb Lateinamerikas auf Kosten des Handels mit den USA deutlich anwachsen lassen. So hat China längst den ersten Platz unter den Handels- und Investitionspartnern Brasiliens eingenommen, während die Wirtschaftsinteressen der USA gegenüber Brasilien – vor allem hinsichtlich seiner zukünftigen Position als Erdölexporteur – auch in diesem Bereich mit denen Chinas in Konkurrenz stehen.

Zusätzliche bilaterale Konfliktpunkte ergaben sich immer dort, wo die USA Entscheidungen in Lateinamerika getroffen haben, die mit den Interessen Brasiliens nicht übereinstimmten. Kuba war in diesem Zusammenhang schon immer ein besonderer Zankapfel, zumal die bilateralen Beziehungen zwischen Brasilien und Kuba seit der Präsidentschaft Lula da Silvas erheblich ausgebaut worden sind. Die Krise in Honduras 2009 und das zunächst geplante erweiterte Militärbasennutzungsabkommen der USA mit Kolumbien führten zu heftiger Kritik Brasiliens an der US Politik, während in Washington Brasiliens gute Beziehungen zu Kuba, Venezuela und zum Iran immer wieder beanstandet wurden. Ausgelöst durch die weltweiten Spionageaktivitäten der USA sanken dann 2013 die bilateralen Beziehungen fast auf den Gefrierpunkt als die "abgehörte" Präsidentin Dilma Rousseff den lange geplanten Staatsbesuch in den USA kurzfristig absagte und dann auch noch einen Milliarden schwerer Rüstungsauftrag nicht an das US-amerikanische Unternehmen Boeing sondern an Saab in Schweden vergeben wurde. Die offene Austragung dieser bilateralen Konfliktpunkte zeugt einerseits von dem gestiegenen Selbstbewusstsein Brasiliens und anderseits von der Unfähigkeit in Washington mit der Machtkonkurrenz in der Westlichen Hemisphäre angemessen umzugehen. Gerade angesichts der bestehenden geopolitischen Instabilitäten in Lateinamerika und dem weiter zunehmenden Gewicht des Landes in den Süd-Südbeziehungen können die USA immer weniger auf eine außenpolitische Kooperation mit Brasilien zählen.

Brasiliens Beziehungen zur EU sind weniger konfliktreich als mit den USA aber auch weniger intensiv. Erst 2007 hat die EU als letztem Land der BRIC Staaten, den Status einer "Strategischen Partnerschaft" angeboten. Sieben Jahre später ist nur ein geringes Maß an gegenseitigem Vertrauen zu erkennen, das aber als Grundlage für die beabsichtigte enge Zusammenarbeit in multilateralen Fragen unverzichtbar wäre, nicht zuletzt weil die Machtverschiebungen in der multipolaren Welt von Brasilien eher als vorteilhaft und von der EU eher als nachteilig angesehen werden. Trotz der sehr engen und weit gefächerten bilateralen Beziehungen mit einzelnen Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Spanien und Frankreich – hier sogar im sicherheitspolitischen Bereich – scheint die EU Brasilien bisher noch nicht in gleichen Masse als globalen Akteur einzuschätzen wie andere BRICS-Staaten, obwohl es in Fragen des Klimawandels sicherlich eine zentrale Rolle spielen kann und auch bei den weltwirtschaftlichen Reformdebatten in der G-20 ein wichtiger Allianzpartner sein könnte. Aber auch hinsichtlich der EU Beziehungen zu Südamerika könnte die "strategische Partnerschaft" mit Brasilien eine solide Basis für eine realistischere Regionalstrategie bieten, nachdem die langjährigen Bemühungen um biregionale Assoziierung zwischen den regionalen Integrationsprozessen weitgehend gescheitert sind. Zu dem Realismus auf europäischer Seite müsste freilich auch die Einsicht gehören, mit Brasilien gegebenenfalls ein bilaterales Freihandelabkommen auszuhandeln, dem das Land derzeit – vor allem wenn es jetzt auch im dritten Anlauf nicht zu dem seit Jahren angekündigten biregionalen Abkommen mit dem Mercosur kommen sollte – aufgeschlossener gegenübersteht. Dass Brasilien als "Anti-Status-quo-Macht" und Führungsmacht des Südens keineswegs immer die gleiche Weltsicht mit der EU teilt, wird sich in jeder bilateralen Beziehungsform kaum vermeiden lassen. Freilich haben gerade einige der innovativen Beiträge Brasiliens zur den sicherheitspolitischen Debatten im VN-Rahmen – wie das Konzept "responsibility while protecting" – eher zur Verärgerung der Europäer als zu einer verstärkten Zusammenarbeit beigetragen. Das Bemühen Brasiliens als "Normunternehmer" aufzutreten, verstärkt einerseits seinen Führungsanspruch in zentralen Fragen der internationalen Zusammenarbeit und beunruhigt anderseits seine traditionellen außenpolitischen Partner. Gerade auf Grund der außerordentlich aktiven und innovativen internationalen Rolle Brasiliens muss sich die EU wohl auf eine zunehmende Nord-Süd-Distanzierung in der "strategischen Partnerschaft" einstellen weil Brasilien als pragmatische Führungsmacht in Zukunft ohnehin mit keinem allzu großen globalen Gewicht der EU rechnet.

Eine noch nicht konsolidierte Führungsmacht

Brasilien teilt mit der EU das Schicksal, sich als Führungsmacht noch nicht konsolidiert zu haben, was angesichts der grundlegenden und keineswegs abgeschlossenen Veränderungen im internationalen System nicht anders zu erwarten ist, zumal die internationale Anerkennung als Führungsmacht nicht ursächlich von der eigenen Wirtschaftskraft oder gar der Kapazität zur Durchsetzung der eigenen Interessen abhängt, sondern vor allem auch von der Fähigkeit in der eigenen Region Krisenmanagement zu betreiben und von den etablierten beziehungsweise sich etablierenden Führungsmächten als solche anerkannt zu werden. Hier lassen sich bei Brasilien vier – nicht unbedingt selbst verschuldete – Defizite erkennen:

  • Seine Rolle als Führungsmacht ist in der eigenen Region – selbst in Südamerika und erst recht in Lateinamerika umstritten.

  • Von Seiten der etablierten Weltmacht USA ist eine eindeutige Anerkennung der neuen internationalen Rolle Brasiliens bisher ausgeblieben.

  • Unter den sich etablierenden Führungsmächten ist die Akzeptanz Brasiliens bei China und Indien ausgeprägter als bei Russland und der EU.

  • Seine Rolle als weltwirtschaftlicher Akteur in Handel, Dienstleistungen und Investitionen bleibt ebenso wie seine militärische Stärke weit hinter der "hard power" der übrigen Führungsmächte zurück.

In Zukunft muss sicherlich noch mit einem weiteren Defizit gerechnet werden, weil sich in Brasilien bisher kein innenpolitischer Konsens über die mit einer Führungsmachtrolle verbundenen politischen und wirtschaftlichen Kosten erzielen lässt. Die Kalkulierbarkeit des außenpolitischen Engagements Brasiliens wird vom zügigen Abbau beziehungsweise der Überwindung dieser Defizite ebenso abhängen wie von den zukünftigen Veränderungen eines durch zunehmende Multipolarität gekennzeichneten internationalen Systems. Die zentralen Vorstellungen Brasiliens liegen dabei in der Durchsetzung seiner nationalen Interessen und seiner Rolle bei der Reform der internationalen Ordnung. Während des Konsolidierungsprozesses Brasiliens als Führungsmacht können weder die USA noch die EU mit einer umfassenden und belastbaren Allianzfähigkeit Brasiliens rechnen, weil das Land zwar gute Beziehungen zu "dem Westen" pflegen, aber die entscheidende Unterstützung für seinen weiteren internationalen Aufstieg zur Führungsmacht vor allem aus dem "globalen Süden" erhalten dürfte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Daniel Flemes, Brasilien – Regionalmacht mit globalen Ambitionen, in: GIGA Focus, nº 6 (2007) S. 1-8; Peter Hakim, Rising Brazil: The Choices of a New Global Power, in: Política Externa, vol. 19 n.1, Madrid (2010); Julia E. Sweig /David Herrero, Going Global, the Brazilian Way, Legatum Institute, London 2012; Amado Luiz Cervo, The Foreign Policy of Brazil, in: Austral: Brazilian Journal of Strategy & International Relations, vol.1, n. 2, 2012, S. 9-14; Wolf Grabendorff, Brasilien auf dem Weg zur Weltmacht?, in: Siegfried Frech/Wolf Grabendorff (Hrsg.), Das politische Brasilien, Schwalbach 2013, S. 273-290.

  2. Vgl. Gerhard Seibert, Brasilien in Afrika: Globaler Geltungsanspruch und Rohstoffe, in: GIGA Focus, nº 8, (2009), S. 1-8; Christina Stolte, Brazil in Africa: Just Another BRICS Country Seeking Resources?, Chatham House briefing paper, London 2012.

  3. Vgl. Bernardo Sorj/Sergio Fausto, Brazil and South America: Constrasting Perspectives, in: Plataforma Democrática, Working Paper 12, Rio de Janeiro 2011; Susanne Gratius/Miriam Gomes Saraiva, Continental Regionalism: Brazil's prominent role in the Americas, CEPS Working Document n. 374, Brussels 2013; Sergio Caballero Santos, Brasil y la región: una potencia emergente y la integración regional sudamericana, in: Revista Brasileira de Politica Internacional, Vol. 54, n. 2, Brasilia, 2011, S. 158-172.

  4. Vgl. Yesko Quiroga Stöllger, Brasilien: Sozialer Fortschritt, demokratische Unruhe und internationaler Gestaltungsanspruch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 50-51, Bonn, 2013, S. 19-24.

  5. Vgl. Ignacio Lara, Potencialidades y límites de Brasil como potencia media emergente, in: Anuario Americanista Europeo, n. 10, 2012, S.53-72, hier S. 61

  6. Vgl. Peter Birle, Brasilien und die Amerikas: Lateinamerika und die USA als Bezugspunkte der brasilianischen Außenpolitik, in: Peter Birle/ Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay (Hrsg.) Hemisphärische Konstruktionen der Amerikas, Frankfurt a. Main 2006, S. 139-166, hier S. 145

  7. Vgl. Alcides Costa Vaz, Coaliciones internacionales en la política exterior brasileña: Seguridad y reforma de la gobernanza, in: Revista d'Afers Internacionals, n. 97-98, Barcelona 2012, S.175-1187.

  8. Vgl. Augusto Varas, Brazil in South America: from indifference to hegemony, in: FRIDE, Comment, Madrid (2008), S. 1-7.

  9. Vgl. Giovanni Grevi, The EU and Brazil: Partnering in an uncertain world?, CEPS Working Document, n. 382, Brussels, 2013.

  10. Vgl. Jeff Tollefson, A Light in the Forest: Brazil´s Fight to Save the Amazon and Climate-Change Diplomacy, in: Foreign Affairs, March-April 2013, New York, S.141-151.

  11. Vgl. Susanne Gratius, Brasilien und die Europäische Union, in: Siegfried Frech/Wolf Grabendorff (Hrsg.), Das politische Brasilien, Schwalbach 2013, S. 159-177, hier S.175.

  12. Vgl. Peter Birle, Brasilien als internationaler Akteur, in: Peter Birle (Hrsg.), Brasilien: Eine Einführung, Frankfurt am Main, 2013, S. 149-168, hier S. 166.

  13. Vgl. Amado Luiz Cervo, Brazil in the current world order, in: Austral Brazilian Journal of Strategy & International Relations, vol.1, n. 2, 2012, S. 35-57, hier S. 53.

  14. Vgl. Rita Giacalone, La Cooperación Sur-Sur de los Poderes Regionales: El caso de Brasil, in: Mural Internacional, v. 4, n.2, julio-diciembre 2013, S. 26-35, hier S. 32.

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Wolf Grabendorff, geb.1940, Politikwissenschaftler mit Arbeitsschwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik in Lateinamerika. Gastprofessor an der Universidad Andina Simon Bolivar in Quito, Ecuador.