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Internationaler Tag der Gebärdensprachen

Redaktion

/ 7 Minuten zu lesen

Menschen mit Hörbehinderung müssen noch immer mit vielen Barrieren kämpfen. Am Tag der Gebärdensprachen wird auf die Bedeutung der Gebärdensprachen und die Rechte von Gehörlosen aufmerksam gemacht.

Elisabeth Brichta ist Tänzerin in der Nikita Dance Crew, einer Tanzgruppe aus gehörlosen und hörenden Tänzerinnen. Die Studentin im Fach Gebärdensprachdolmetschen an der Hochschule Landshut gibt zudem selbst bilingualen Hip-Hop-Unterricht. Hier zeigt sie die Gebärde für das Wort "Dolmetschen" bzw. "Übersetzen". (© picture-alliance, SZ Photo | Alessandra Schellnegger)

Am 23. September ist der Internationale Tag der Gebärdensprachen. Die Vereinten Nationen haben den Tag ins Leben gerufen, um auf die wichtige Bedeutung der Gebärdensprachen für Menschen mit Hörbehinderung sowie auf die Rechte von Gehörlosen aufmerksam zu machen.

Was sind Gebärdensprachen?

Gebärdensprachen sind visuelle Sprachen - das bedeutet, dass sie nicht gehört, sondern gesehen werden. Worte werden mit den Händen gebildet und durch Mimik, Bewegungen des Oberkörpers und die Bewegung des Mundes unterstützt. Gebärdensprachen sind eigenständige Sprachen mit einer eigenen Grammatik und Ausdrucksweise. Für viele Menschen mit Hörbeeinträchtigung sind sie nicht Zweit-, sondern Muttersprache.

Historie und Dialekte

Manche Fachleute gehen davon aus, dass Gesten und Gebärden schon vor der Lautsprache als Kommunikationsform genutzt wurden. Aber auch, dass es unter gehörlosen Menschen schon immer eine Form der Gebärdensprache gegeben haben muss. So formten sich im Laufe der Zeit einfache Gebärden zu einer strukturierten Abfolge, einer Grammatik. Dadurch, dass die gehörlosen Menschen in kleinen Gruppen überall verstreut waren, entwickelten sich unabhängig voneinander unterschiedliche Gebärdensprachsysteme an verschiedenen Orten. In einem spanischen Kloster unterrichtete ein Mönch 1570 erstmals die gehörlosen Kinder der Adeligen mithilfe des Fingeralphabets. Im Jahr 1771 gründete der Geistliche Abbé de L’Epée in Paris die erste Schule für gehörlose Kinder. L’Epée entwickelte für seinen Unterricht ein Zeichensystem, das sich später in ganz Frankreich und Europa verbreitete und als Grundlage für die American Sign Language (ASL) diente. In Deutschland gründete Samuel Heinicke im Jahre 1778 die erste staatliche Gehörlosenschule in Leipzig. Er stand im engen Austausch mit Abbé de L’Epée, setzte aber anders als L’Epée in seiner Didaktik ganz auf die Lautsprache. Erst sein Nachfolger Ernst-Adolf Eschke testete die Gebärdensprache im Unterricht und reformierte das Konzept der Schule. Einen ganz anderen Weg beschloss jedoch wenig später der „Zweite internationale Taubstummen-Lehrer-Kongress“ 1880. Hier erklärten die überwiegend hörenden Delegierten die Gebärdensprache für ungeeignet und legten die Lautsprache als alleinige Unterrichtsmethode für gehörlose Kinder fest. Die betroffenen Kinder waren fortan gezwungen, das Lippenlesen zu erlernen und Sprachübungen zu absolvieren – häufig verbunden mit großem Aufwand und ohne nennenswerte Bildungserfolge. Gehörlose Lehrerinnen und Lehrer, die selbst Gebärdensprache verwendeten, konnten und durften nicht mehr unterrichten. Im Jahr 1884 wurde auch in Deutschland beschlossen, im Unterricht für Gehörlose allein die Lautsprachmethode zu nutzen. Die Entscheidung von Mailand hatte weitreichende Folgen, die bis Mitte des 20. Jahrhundert reichten. Sie führten zu erheblichen Bildungsnachteilen, sozialer Ausgrenzung und einem tiefen Einschnitt in die Gehörlosenkultur.

Erst durch den amerikanischen Linguisten William Stokoe erlangte die Gebärdensprache in den 1960er Jahren wieder größere Bedeutung. Stokoe belegte mit seiner Forschung die linguistische Vollwertigkeit der Amerikanischen Gebärdensprache. Diese Erkenntnisse gelangten auch nach Deutschland und ebnete den Weg dafür, dass die Gebärdensprache nach und nach wieder im Bildungsbereich Einzug hielt. Heute existieren weltweit über 300 verschiedene Gebärdensprachen. Innerhalb der Deutschen Gebärdensprache (DGS) gibt es mehrere regionale Dialekte. 2002 wurde die Deutsche Gebärdensprache durch das Behindertengleichstellungsgesetz als eigene Sprache anerkannt. Seit 2017 haben gehörlose Menschen Anspruch auf bezahlte Dolmetscherdienste in wichtigen Lebensbereichen wie Gerichtsverfahren. Im Jahr 2021 wurde die DGS in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes eingetragen.

Zahl der Gehörlosen in Deutschland und weltweit

Der Deutsche Gehörlosen-Bund sowie der Sozialverband VdK schätzen, dass hierzulande rund 80.000 gehörlose Menschen leben. Allerdings gibt es neben tauben Menschen, auch Beeinträchtigte, deren Hörvermögen mehr oder weniger stark eingeschränkt ist. Das Bundessozialministerium geht mit Verweis auf Zahlen des Bundesamts für Statistik von 307.480 Personen mit „Taubheit / Schwerhörigkeit“ für das Jahr 2023 in Deutschland aus. Das entspricht etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung. Dies ist jedoch nur der Anteil der aufgrund ihrer Hörbeeinträchtigung offiziell als schwerbehindert anerkannten Personen – die Zahl der Menschen mit weniger stark beeinträchtigtem Gehör oder einer nicht diagnostizierten Hörschwäche ist wahrscheinlich weit höher.

Viele Gehörlose von funktionalem Analphabetismus betroffen

Schreiben und Lesen lernen Kinder meist, indem Laute in ein Schriftsystem übertragen werden – und umgekehrt. Das geschriebene Wort basiert auf der Lautsprache. Deshalb ist der Schriftspracherwerb für Gehörlose mit hohen Hürden verbunden und viele von ihnen sind von Interner Link: Analphabetismus oder zumindest funktionalem Analphabetismus betroffen. Von funktionalem Analphabetismus spricht man, wenn Betroffene zwar einzelne Wörter oder Sätze lesen und schreiben können, aber nicht in der Lage sind, komplexere zusammenhängende Texte zu verstehen und Informationen daraus zu entnehmen. In Deutschland ist Sozial- und Behindertenverbänden zufolge nicht erfasst, wie hoch der Anteil der Analphabetinnen und Analphabeten oder mit funktionalem Analphabetismus unter Menschen mit Hör- oder Sprachbehinderung ist. Internationalen Studien zufolge ist allerdings davon auszugehen, dass 60 bis 80% der Gehörlosen Leseprobleme haben. Auch der Sozialverband VdK, der viele Menschen mit Beeinträchtigung vertritt, geht davon aus, dass funktionaler Analphabetismus bei Menschen mit Hörbehinderung „wegen Barrieren beim Schriftspracherwerb deutlich häufiger vorkommt“.

Noch immer viele Barrieren für Gehörlose

Aus Sicht des Deutschen Gehörlosen-Bunds bestehen trotz des eigentlich existierenden Rechtsanspruchs auf Inklusion durch die UN-Behindertenrechtskonvention „in nahezu allen Lebensbereichen“ für Gehörlose nach wie vor „erhebliche Barrieren“ – so etwa in den Bereichen Interner Link: Bildung, Medien, Interner Link: politische Teilhabe, Alltagsbewältigung oder Gesundheitsversorgung. Auch der VdK moniert, dass hierzulande noch immer „viel zu viele Barrieren“ existierten. Interner Link: Inklusion werde laut Deutschem Gehörlosen-Bund häufig auf technische Hilfsmittel oder den Einsatz von Gebärdensprach-Dolmetschenden reduziert. „Das entspricht weder dem Geist noch den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention“, so der Deutsche Gehörlosen-Bund. Dahinter stehe vielmehr die Erwartung, dass Gehörlose die Kommunikationsbarrieren selbst überwinden sollten. Tatsächlich sei Inklusion jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch den Erwerb von Gebärdensprache durch hörende Menschen einschließe - deshalb fordert der Deutsche Gehörlosen-Bund von der Politik, jeder Bürger und jede Bürgerin hierzulande müsse das Recht haben, „Gebärdensprache kostenlos zu erlernen – bereits in der Schule und später auch im Erwachsenenalter“. Mehr als die Hälfte der hörbehinderten Kinder und Jugendlichen besuchen eine Regelschule, andere werden in Förderschulen unterrichtet. Bei einer 2022 veröffentlichten Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Auftrag des Bundessozialministeriums gaben 45 Prozent der Menschen mit einer Beeinträchtigung beim Hören an, einen Volks- oder Hauptschulabschluss zu haben. 25 Prozent von ihnen haben die Mittlere Reife und 23 Prozent die (Fach-)Hochschulreife. 90 Prozent der Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung gaben in der Erhebung von 2022 an, dass sie regelmäßig an Wahlen teilnehmen. 98% der Befragten sagten, sie führen ein selbstbestimmtes Leben.

UN-Behindertenrechtskonvention und Behindertengleichstellungsgesetz

Mit der Interner Link: UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) können sich Beeinträchtigte eigentlich seit 2008 auf ein umfangreiches Regelwerk berufen. Auch Deutschland hat sich 2009 zur Umsetzung der Konvention verpflichtet, die sich nicht auf ein allgemeines Diskriminierungsverbot beschränkt, sondern den Unterzeichnerstaaten konkrete Vorgaben macht, wie sie ein gleichberechtigtes Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen umsetzen sollen: Zum Beispiel durch das Recht auf inklusive Bildung oder den Abbau von Barrieren im öffentlichen Raum. Außerdem gilt in Deutschland das Behindertengleichstellungsgesetz, um die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung zu vermeiden. Es verpflichtet den Bund, für Gleichstellung und den Abbau von Barrieren zu sorgen. Das Deutsche Institut für Menschen mit Behinderung, das die Umsetzung der Konvention kontrollieren soll, kritisiert jedoch seit Jahren, dass die Konvention hierzulande nicht ausreichend umgesetzt werde. Konkret moniert das Institut zum Beispiel eine erschwerte politische Partizipation von Menschen mit Hörbeeinträchtigung in Deutschland – etwa durch nicht barrierefreie Sitzungsräume ohne entsprechende Mikrofonanlagen oder fehlende Gebärdendolmetschende. Der VdK fordert außerdem, den Geltungsbereich des Behindertengleichstellungsgesetzes auf private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen auszuweiten. Das Bundessozialministerium (BMAS) wirkt nach eigener Aussage „über verschiedene Maßnahmen auf den Abbau von Barrieren hin“. Es verweist auch auf das im Juni in Kraft getretene Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Viele digitale Angebote wie Onlineshops und Gesundheitsdienste oder auch Bankautomaten müssen seither in der Regel barrierefrei zugänglich sein. Zudem sei im Koalitionsvertrag vereinbart worden, die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen im privaten und im öffentlichen Bereich zu verbessern. „Dafür soll das Behindertengleichstellungsgesetz weiterentwickelt, alle öffentlich zugänglichen Bauten des Bundes barrierefrei gestaltet sowie ein Bundeskompetenzzentrum für Interner Link: Leichte Sprache und Gebärdensprache aufbaut werden“, teilt eine BMAS-Sprecherin mit.

Gebärdensprache in den visuellen Medien

Das Internet als Ort, der Kommunikation und Information auch unabhängig von Sprache und Hörvermögen ermöglicht, stellt viele Werkzeuge zur Verfügung, die den Alltag von Gehörlosen erleichtern können. Andreas Bittner ist Dozent am Deaf-Studies-Lehrstuhl der Humboldt-Universität in Berlin und erklärt, dass „das Internet Gehörlosen eine stärkere Individualisierung ermöglicht und somit auch Unabhängigkeit schafft.“ Es gibt Video-Telefonie, kulturelle Angebote wie Deaf Poetry Slams oder Online-Museumsführungen und Streams mit Gebärdensprachenübersetzung. Trotz vieler Entwicklungen auf diesem Gebiet und dem Aufstieg von visuellen Plattformen wie TikTok und Instagram, ist das Netz noch kein barrierefreier Ort. Laut einer Studie der Rheinischen Fachhochschule Köln fühlen sich 76 Prozent der Gehörlosen eingeschränkt, wenn es um audiobasierte Inhalte im Netz geht, da diese nicht überall mit Untertiteln, bzw. Gebärdenübersetzung verfügbar sind. Zudem bilden sich analog wie online getrennte Kommunikationswelten, die Gehörlose und Hörende voneinander abgrenzen.

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