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Behinderung und Bildungsungleichheiten | Bildung | bpb.de

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Behinderung und Bildungsungleichheiten Ein Interview von Benjamin Edelstein mit den Inklusionsforscherinnen Birgit Lütje-Klose und Janka Goldan

Birgit Lütje-Klose Janka Goldan

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Bis weit ins 19. Jahrhundert waren Menschen mit Behinderung vom allgemeinen Schulsystem und damit vom Zugang zu formalen Bildungsangeboten komplett ausgeschlossen. Zwar hat die Bildungspolitik im Verlauf des letzten Jahrhunderts einiges getan, um Bildungsungleichheiten zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen zu verringern. Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung sind im Schulsystem jedoch weiterhin benachteiligt. Woran lässt sich das festmachen und welche Folgen hat die Bildungsbenachteiligung für die betroffenen Schüler:innen? Diese und weitere Fragen beantworten die Inklusionsforscherinnen Birgit Lütje-Klose und Janka Goldan in einem schriftlichen Interview.

Inklusives Sportfest. Gemeinsames Lernern kann sowohl für Kinder mit als auch für Kinder ohne Behinderungen sehr erfolgreich sein. (© picture-alliance/dpa, Julian Stratenschulte)

Rückblick: Entstehung der Sonderschulen in Deutschland


Lange Zeit waren Menschen mit Behinderungen von der Teilhabe an Bildung weitgehend ausgeschlossen. Erst langsam entwickelte sich ein Bewusstsein dafür, dass auch sie ein Recht auf Bildung haben. Wie ging die Eingliederung von Menschen mit Behinderung ins Bildungssystem in Deutschland vonstatten?

Die Einführung der Interner Link: allgemeinen Schulpflicht mit der Weimarer Verfassung von 1919 richtete sich zwar grundsätzlich an alle Kinder und Jugendlichen, aber sogenannte "schwachsinnige" blieben, ebenso wie körperlich oder sinnesgeschädigte Menschen, von ihr ausgenommen. Für ihre Bildungsbedürfnisse sollten eigene spezialisierte Einrichtungen sorgen. Erste solche Spezialschulen waren bereits seit dem 18. Jahrhundert gegründet worden, etwa die "Taubstummenanstalten" des Abbé de l‘Epée in Paris 1770 oder die "Schulen für Krüppelhafte" des Johann Nepomuk von Kurz in München 1833. Sie aber waren zunächst den Kindern gut situierter Bürger:innen oder Fürstenkindern vorbehalten. Erste Ansätze von Einrichtungen, die für alle Kinder geöffnet waren und sich besonders an Arme, Benachteiligte und Behinderte richteten, wurden mit den Waisenhäusern Pestalozzis in der Schweiz (1798), dem Internat Levana von Georgens und Deinhardt in Österreich (1854) oder den diakonischen Einrichtungen wie dem Rauhen Haus Wicherns in Hamburg (1833) verwirklicht. Schon in den frühen Schriften über die pädagogischen Bemühungen um arme, vernachlässigte Kinder und solche mit körperlichen oder seelischen Schädigungen wurde – wie auch später immer wieder, u.a. von Stötzner (1864/ 1963), Klauer (1966) und Begemann (1970) – beschrieben, dass "Schwachsinn" ein Symptom des Aufwachsens unter Armutsbedingungen sein kann (z. B. von Pestalozzi, Georgens und Deinhardt oder später auch William Stern). Der Grundgedanke bei der Gründung dieser frühen Institutionen war dabei ein durchaus inklusiver: so ging etwa Pestalozzi bei der Gründung seines Waisenhauses in Stanz davon aus, dass alle, auch "Kinder von äußerstem Blödsinn" bildungsfähig seien und "durch liebreiche Leitung ... zum Genuss eines freien ungehemmten Lebens geführt werden" könnten (Pestalozzi, Stanzer Brief 1798).

Hundert Jahre später aber änderte sich das gesellschaftliche Klima. Fachlich begann jetzt die theoretische Auseinandersetzung mit der "Lehre von den Kinderfehlern", wie der Pädagoge Ludwig van Strümpell (1890) seine "Pädagogische Pathologie" nannte: Er unterschied zwischen sogenannten "normalen" und "pathologischen Kinderfehlern" und begründete damit die Unterscheidung von "bildsamen" und "nicht mehr bildsamen Kindern" (Strümpell, zit. nach Hänsel & Schwager, 2003). Daran anschließend forderte er, so wie andere in seiner Tradition stehende Pädagogen, die "pathologischen" von den "normalen" Kindern zu trennen und für sie eine Spezialerziehung in eigens dafür eingerichteten Schulen vorzusehen. Es wurde argumentiert, dass diese Kinder eben ganz anders seien und lernten als die anderen. Zugleich wurde der Volksschule die Fähigkeit abgesprochen, diese mehrheitlich aus armen, unterprivilegierten Milieus stammenden Schüler:innen angemessen unterrichten zu können.

Vor diesem Hintergrund entstanden Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Hilfsschulen für damals sogenannte "Blödsinnige" und "Schwachsinnige". In der Weimarer Republik wurden solche Schulen dann in großer Zahl eingerichtet und damit ein umfassendes paralleles System neben der Volksschule aufgebaut (vgl. zusammenfassend Werning & Lütje-Klose 2016, S. 25ff). Begründet wurde dies zum einen mit Verweis auf eine Fürsorgefunktion der Hilfsschulen: Sie sollten für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten einen "Schonraum" bereitstellen, mit kleineren Lerngruppen und spezifischen Unterstützungsmaßnahmen. Auf diesem Wege sollte das "Sitzenbleiberelend" derjenigen Schüler:innen gelindert werden, die in den bis zu 60 Kindern großen, im "Gleichschritt" durch den Unterrichtsstoff geführten Volksschulklassen nicht mitkamen, bis zum Ende ihrer Schulzeit die Anfängerklassen wiederholen und dabei immer wieder Strafen über sich ergehen lassen mussten.

Zum anderen versprach man sich von den Hilfsschulen eine "Entlastung" der Volksschulen, deren Niveau im Zuge der Industrialisierung deutlich angehoben worden war, um mit den neuen Anforderungen der Arbeitswelt schrittzuhalten. Wenn sich die neuen Hilfsschulen um diejenigen Schüler:innen kümmerten, die im Lehrplan nicht mitkamen, so die schon von Strümpell vertretene Überzeugung, könne dadurch die Leistungsfähigkeit der Volksschule bedeutend gesteigert werden. Diese habe "andere Aufgaben zu lösen als sich mit geistig Schwachen und Stumpfsinnigen herumzumühen". Sie würden nur "hindern und hemmen" (Stötzner 1864, 7), so das Argument der sich etablierenden Hilfsschullehrerschaft, die für ihre Aufgaben speziell weitergebildet waren. Schließlich ging es auch um die "soziale Brauchbarmachung" der betreffenden Schüler:innen – sie sollten für einfache Tätigkeiten qualifiziert und damit in die Lage versetzt werden, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen.

Im Nationalsozialismus wurden die nunmehr etablierten Hilfsschulen in den Dienst der sogenannten Euthanasie-Programme gestellt, die sich insbesondere gegen Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen richteten. Diese, aber auch die als "schwachsinnig" eingestuften Hilfsschüler:innen wurden in großem Umfang aus den Volksschulen und teilweise auch aus den Hilfsschulen ausgesondert, ihren Eltern entzogen und in Arbeitsdiensten eingesetzt oder in Anstalten gebracht.

Die NS-Zeit war in der Tat auch mit Blick auf Menschen mit Behinderung das mit Abstand dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Die Selektionsideologie, die sich mit dem Ausbau der Hilfsschulen verbunden hatte, wurde jetzt auf perverse Weise radikalisiert. Mit Hilfe der sogenannten Personalbögen, in denen bei Untersuchungen zur Einschulung oder zur Überweisung in die Hilfsschule persönliche Daten des Kindes zum Gesundheitszustand, Intelligenzquotienten usw. eingetragen wurden und die von den Hilfsschullehrkräften über die Schulzeit weiter geführt wurden, wurden im Verlaufe der NS-Zeit zunehmend mehr Repressionen ausgeübt. Nur noch diejenigen Schüler:innen, die im Sinne von Kriegseinsatz und industrieller Reservearmee als "brauchbar" angesehen wurden, sollten weiter in den Hilfsschulen beschult werden. Für alle anderen wurden zunächst spezielle Klassen eingerichtet und später die Beschulung vollständig ausgesetzt. Interner Link: Die Zwangsmaßnahmen basierten auf dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"von 1933 in der letzten Phase des Nationalsozialismus und reichten von der Zwangssterilisation von Schüler:innen, die als "sittlich gefährdet" oder "rassehygienisch problematisch" gesehen wurden, bis hin zur Aussonderung und Tötung von Kindern, die als nicht bildbar eingestuft worden waren, im Rahmen von sogenannten Euthanasieprogrammen (vgl. Moser 2009), denen Schätzungen zufolge europaweit mindestens 300.000 Menschen zum Opfer fielen.

Wie ging es nach dem zweiten Weltkrieg weiter?

Nach Kriegsende 1945 gab es viele Kinder und Jugendliche, die allein auf der Straße lebten, verletzt, beeinträchtigt, traumatisiert waren und oftmals ohne Eltern zurückblieben. Im Zuge des Wiederaufbaus wurden nach und nach Waisenhäuser und Erziehungssheime aufgebaut. Mit den Kriegsrückkehrern kamen auch Lehrer:innen zurück, die in den neu oder wieder aufgebauten Schulen eingesetzt wurden. Die Logik dieses Wiederaufbaus folgte dabei den bekannten Mustern: neben der Volksschule wurden zunächst auch Gymnasien und sukzessive das gesamte sogenannte dreigliedrige Schulsystem wieder etabliert. Das Schulsystem wurde in Deutschland also nicht etwa reformiert und – wie in vielen anderen Ländern, etwa in England oder Skandinavien – zu einem Gesamtschulsystem umgebaut, Interner Link: sondern in seiner gegliederten Struktur wieder aufgebaut (Reichmann-Rohr & Weiser 2006). Dazu gehörte auch die Re-Etablierung separater Hilfsschulen, die ab den 1970er Jahren als Sonderschulen bezeichnet wurden. Seit den 1950er Jahren des Wirtschaftswunders wurde in diese besonderen Schulen viel investiert: es entstanden, insbesondere für körperlich oder sinnesgeschädigte Kinder, teilweise sehr gut ausgestattete Sonderschulen "auf der grünen Wiese", wohingegen die Sonderschulen für Kinder mit Lernschwierigkeiten eher in den Stadtteilen verblieben und kaum besondere Ausstattungsmerkmale aufwiesen. Behinderung wurde weiterhin maßgeblich als individueller Defekt verstanden. Das psychologische Kriterium Intelligenz wurde – vor allem für Kinder mit Beeinträchtigungen im Lernen und in der geistigen Entwicklung – zum entscheidenden Merkmal für die Zuordnung zu einer Schulform des sich nun noch weiter ausdifferenzierenden Sonderschulwesens, wohingegen für Körper- und Sinnesschädigungen sowie Sprachbeeinträchtigungen vor allem medizinische Sichtweisen und diagnostische Perspektiven überwogen.

Dass auch Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen und Behinderungen – genau wie alle anderen – ein Recht auf Bildung und Schulbesuch haben, ist in Deutschland ebenso wie international noch gar nicht so lange selbstverständlich. Erst zwischen den 1960 und 1970er Jahren wurde die Schulpflicht in den deutschen Bundesländern auch für geistig behinderte Kinder eingeführt, zuvor konnten sie alternativ in Tagesbildungsstätten betreut werden. Es ist zudem eine Besonderheit des deutschen Schulsystems, dass Schüler:innen mit einer gutachterlich festgestellten "Sonderschulbedürftigkeit" noch bis Anfang der 1990er Jahre dazu verpflichtet waren, die für sie ausgewählte Sonderschulform zu besuchen (Schnell 2003). Bis heute gibt es je nach Bundesland mindestens sieben unterschiedliche Sonderschulformen für die Schwerpunkte Lernen, emotional-soziale Entwicklung, Sprache und Kommunikation, körperlich-motorische Entwicklung, geistige Entwicklung, Sehen und Hören und Kommunikation.

"Behinderung" und "sonderpädagogischer Förderbedarf" – was ist gemeint?


Im Kontext der Schule wird heute in der Regel nicht von "Behinderung" gesprochen, sondern von sonderpädagogischem Förder- bzw. Unterstützungsbedarf. Was steckt hinter den verschiedenen Begrifflichkeiten?

In den Sozialgesetzbüchern, in denen u.a. die Rehabilitation und die Teilhabe behinderter Menschen geregelt ist, wird bis heute von einem "individualisierenden" Verständnis von Behinderung ausgegangen. Danach ist eine Behinderung etwas, das ein Mensch "hat" und das ihn – so die drei zentralen Kriterien – langandauernd, schwerwiegend und umfänglich (Kanter 1980) an der gesellschaftlichen Teilhabe hindert. So heißt es in §2 Abs. 1 des neunten Sozialgesetzbuchs: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist." Behinderung wird hier also mit einer Schädigung oder Funktionsbeeinträchtigung gleich gesetzt und im Individuum verortet. Bis in die 1970er Jahren war dieses Begriffsverständnis auch im schulischen Kontext gebräuchlich und kam etwa in der Bezeichnung der entsprechenden sonderpädagogischen Fachrichtungen (Lernbehindertenpädagogik, Sprachbehindertenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik usw.) ebenso wie der verschiedenen Sonderschulformen zum Ausdruck ("Sonderschule für Lernbehinderte, für Sprachbehinderte, für Körperbehinderte, für geistig Behinderte, für Blinde, für Gehörlose, für Verhaltensgestörte" usw., KMK 1972).

Im schulischen Kontext (aber auch darüber hinaus) wurde diese Sichtweise von Behinderung aber zunehmend kritisch diskutiert, da sie die Gefahr der Stigmatisierung mit sich bringt und darüber hinaus ausblendet, dass Menschen nicht behindert sind, sondern durch Barrieren im Alltag und in der Gesellschaft vor allem behindert werden.

In diesem Sinne plädierten Menschen mit Behinderungen selbst ebenso wie z. B. Juristen und Juristinnen für ein "relationales" und "soziales" Verständnis von Behinderung, demzufolge eine Behinderung nicht als unmittelbare Folge einer irgendwie gearteten Schädigung der Person zu betrachten ist, sondern als etwas, das in konkreten Situationen entsteht, in denen die Aktivitätsmöglichkeiten und Partizipationschancen der betreffenden Person eingeschränkt sind. Demnach sind etwa die Ausgestaltung der Umwelt (z. B. bauliche Aspekte wie Stufen oder Treppen, sprachliche Barrieren in der Kommunikation oder Informationsbeschaffung, schwer verständliche Dokumente wie Internetseiten, Probleme beim Ausfüllen von Formularen) sowie Erwartungshaltungen und Zuschreibungen von Mitmenschen wesentlich daran beteiligt, dass eine Behinderung im Sinne einer Teilhabeeinschränkung entsteht und aufrechterhalten bleibt. Ausgehend von dieser Diskussion etablierte sich im angloamerikanischen Raum im schulischen Kontext die Begrifflichkeit "special educational needs" bzw. "additional support needs". Der Grundgedanke ist hier, dass sich ein Bedarf an schulischer Unterstützung eben nicht aus der Schädigung an sich ergibt, sondern aus dem Verhältnis (der "Relation") zwischen spezifischen Erwartungen, Anforderungen und Gegebenheiten aufseiten der Schule und etwaigen Funktions- oder Aktivitätseinschränkungen aufseiten der Person. So wird etwa ein Kind, dessen Sprachentwicklung z. B. aufgrund einer wenig anregenden häuslichen Umgebung verzögert ist und das deshalb Sprachverständnisprobleme hat, von seinen Lehrkräften bei der Einschulung als auffällig wahrgenommen, weil es den Aufforderungen der Lehrkraft nur verzögert und nach Orientierung an den anderen Kindern folgt. Nehmen die Lehrkräfte diese Schwierigkeiten nicht wahr und passen sie ihre Erwartungen nicht an die Fähigkeiten des Kindes an, dann geben sie ihm ggf. keine direkte Unterstützung dabei, die Regeln der Schule zu verstehen und ihnen folgen zu können. In der Folge wird dieses Kind möglicherweise als verhaltensauffällig wahrgenommen und bekommt Strafen, auf die es mit Widerstand oder Rückzug reagiert. So verfestigt sich nach und nach das Bild der Lehrkräfte von einem verhaltensauffälligen Kind und das Bild des Kindes von einem überfordernden, unverständlichen Schulsystem, in dem es nicht zurechtkommt. Nach diesem Verständnis ist stets individuell zu prüfen, inwieweit eine bestimmte Beeinträchtigung (z. B. im sprachlichen, geistigen oder körperlichen Bereich) unter den konkret vorherrschenden schulischen Gegebenheiten die Teilhabemöglichkeiten einschränkt und welche konkreten Unterstützungsressourcen notwendig sind, um diese Einschränkungen soweit wie möglich zu kompensieren.

Mit den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1994 wurden die internationalen Diskussionen mit Blick auf den Behinderungsbegriff auch hierzulande aufgegriffen. Von nun an wurde im Schulsystem und in den Schulgesetzen in Anlehnung an den anglo-amerikanischen Begriff "special educational needs" von "sonderpädagogischem Förderbedarf" gesprochen, und nicht mehr, wie all die Jahre zuvor, von Behinderungen oder auch "Sonderschulbedürftigkeit". Die KMK-Empfehlungen von 2011 variierten diesen Begriff nochmals und sprachen von einem "besonderen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf". In vielen (auch amtlichen) Dokumenten wird aber weiterhin von sonderpädagogischem Förder- bzw. Unterstützungsbedarf gesprochen. Die bis dahin als Sonderschulen bezeichneten Schulformen wurden analog dazu umbenannt in Förderschulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Lernen, Sprache, emotional-soziale Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, geistige Entwicklung, Sehen und Hören.

Integration, Inklusion und die UN-Behindertenrechtskonvention


In den 1970er Jahren starteten viele Bundesländer Schulversuche, um das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen in Regelschulen zu erproben. Wie kam es dazu und wie hat sich die schulische Integration seither entwickelt?

In den 1960er Jahren begannen Eltern behinderter Kinder sich gegen die Verpflichtung zum Sonderschulbesuch anhand von Gerichtsverfahren zu wehren. Zusammen mit engagierten Lehrkräften und Wissenschaftler:innen formierten sie sich seit den 1970er Jahren zu einer Bürgerrechtsbewegung, um die Integration ihrer Kinder in die Regelschulen durchzusetzen und "Eine Schule für alle Kinder" zu schaffen (Müller 2018). Der Deutsche Bildungsrat verfasste 1973 unter der Leitung des Schulpädagogen Jakob Muth das erste bildungspolitische Dokument, welches das gemeinsame Lernen behinderter und nicht-behinderter Kinder und Jugendlicher in der Schule empfiehlt.

In allen Bundesländern wurden dann in den 1980er und 1990er Jahren Schulversuche zur schulischen Integration von Kindern mit Behinderungen durchgeführt. Sie wurden durch wissenschaftliche Untersuchungen begleitet, die einhellig zu dem Ergebnis kamen, dass Integration bei angemessenen Rahmenbedingungen (u.a. kleinere Klassen, Doppelbesetzung mit regulären und sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrkräften, bei Bedarf zusätzliche therapeutische Maßnahmen) nicht nur möglich, sondern sowohl für Kinder mit als auch für Kinder ohne Behinderungen sehr erfolgreich sein kann, und zwar in Bezug auf ihre schulischen Leistungen, ihr Wohlbefinden und ihre soziale Partizipation (zusammenfassend Preuss-Lausitz 2018).

Diese weitreichenden Veränderungen wurden auch durch eine internationale Diskussion um die bestmögliche Förderung von Kindern mit Behinderungen und "special needs" vorangetrieben. So wurde 1994 die "Erklärung von Salamanca" verabschiedet, in der Wissenschaftler:innen aus zahlreichen Ländern, einschließlich Deutschland, aufgrund vielfältiger Forschungsergebnisse einen Vorrang integrativer (in der englischsprachigen Originalversion hieß es schon damals: inklusiver) Beschulung vor der Sonderbeschulung forderten. An diese Erklärung schloss 2006 die Interner Link: UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) an, die von den Vereinten Nationen verabschiedet und in den Folgejahren von den meisten Ländern der Welt ratifiziert wurde – in Deutschland im Jahr 2009. Die lange geforderte gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen ist damit zu einem international verbürgten Recht geworden.

Welche Bestimmungen werden in der UN-Behindertenrechtskonvention konkret getroffen?

Im Hinblick auf das Bildungssystem ist Interner Link: Artikel 24 der UN-Konvention von maßgeblicher Bedeutung. Er unterstreicht das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung und volle soziale Partizipation, fordert deren gleichberechtigten "Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeldlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen" sowie "wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet". Ferner gehört hierzu die Schaffung "angemessener Vorkehrungen", d.h. dass die beteiligten Staaten ihre jeweiligen Bildungssysteme unter Ausschöpfung aller verfügbaren Ressourcen so ausstatten müssen, dass Schüler:innen mit und ohne Behinderung ihr Potential voll entfalten können (Art. 24 Abs. 2, Schattenübersetzung). Hinter diesen Bestimmungen steht nicht nur das gesetzlich verankerte Recht, sondern auch der visionäre Grundgedanke, dass in einem inklusiven Schulsystem alle Schüler:innen willkommen sind. Wenn ein Kind mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf eingeschult wird, ist die einzelne Schule demnach in der Pflicht, die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, es aufzunehmen: Nicht das Kind muss schulfähig werden, sondern die Schule muss inklusionsfähig werden. Das wird mit den vier "großen A" der UN-Konvention zum Ausdruck gebracht: Availability (Verfügbarkeit), Accessability (Zugänglichkeit), Acceptability (Akzeptanz durch Schulpersonal, Mitschüler:innen und Eltern) und Adaptability (Veränderbarkeit in Bezug auf individuelle Bedürfnisse) (Lindmeier & Lütje-Klose, 2018).

Wenn Schüler:innen mit Behinderungen bzw. mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf seit Einführung der schulischen Inklusion einen Rechtsanspruch auf den gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem haben, inwieweit kann man dann noch von Benachteiligung sprechen?

Trotz all der begrifflichen, rechtlichen und organisatorischen Veränderungen gehören Menschen mit Behinderungen bzw. Schüler:innen mit sonderpädagogischen Förder- bzw. Unterstützungsbedarfen auch mehr als Interner Link: 10 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu den am deutlichsten von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffenen Gruppen (vgl. World Report on Disabilities, WHO 2011; Zick et al. 2016). Insbesondere für Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich "Lernen" – und das ist in Deutschland wie in den meisten anderen Ländern die größte Teilgruppe – kommen nicht selten weitere benachteiligende Faktoren hinzu. Die betreffenden Schüler:innen wachsen z. B. häufiger in Armutsverhältnissen auf oder stammen aus Familien, in denen zuhause kein Deutsch gesprochen wird (Werning & Lütje-Klose 2016; Wild et al. 2015). Es sind hier also mit Blick auf die Bildungschancen häufig mehrere Benachteiligungsdimensionen gleichzeitig wirksam – in der Forschung sprechen wir in diesem Zusammenhang von "Intersektionalität".

Darüber hinaus existieren im deutschen Schulsystem weiterhin die Förderschulen. Die meisten Bundesländer haben die von der UN-BRK implizierten Reformen (noch) nicht umfassend umgesetzt. Die sogenannte Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte, die dafür zuständig ist, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu begleiten, kritisiert seit Jahren die Aufrechterhaltung der Förderschulen und die mangelnde Ausstattung mit Ressourcen an den Allgemeinbildenden Schulen (Kroworsch, 2017; 2019). Nach wie vor sind viele Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vom Besuch der wohnortnächsten Regelschule ausgeschlossen, weil die meisten Bundesländer ihrer Pflicht, "angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen" (Artikel 24, 2c) zu schaffen, nicht umfänglich nachkommen und die Realisierung von Inklusion an einen sogenannten Ressourcenvorbehalt gekoppelt haben. Das heißt, dass die Schulaufsichten der Bundesländer in Einzelfällen den Besuch einer Förderschule erzwingen können, wenn die Regelschulen nicht über ausreichend Ressourcen verfügen. Dabei ist ein erheblicher Teil der Ressourcen – insbesondere in Gestalt sonderpädagogischer Lehrkräfte – an den weiterhin bestehenden Förderschulen gebunden, weshalb die Förderschulen weiterhin als Schulform empfohlen und angewählt werden (müssen). Aus menschenrechtlicher Perspektive haben die Vereinten Nationen in ihren Externer Link: Allgemeinen Bemerkungen Nr. 4 zwar deutlich gemacht, dass ein parallel existierendes Förderschulsystem nicht mit der UN BRK vereinbar ist. Gleichzeitig muss hervorgehoben werden, dass das Interner Link: Thema politisch und gesellschaftlich umstritten ist. In der Konsequenz haben wir im deutschen Schulsystem heute also ein Nebeneinander von inklusiver Beschulung in der Regelschule und separierter Beschulung an Förderschulen, wobei die quantitativen Relationen je nach Bundesland unterschiedlich sind.

Stand der Inklusion: Was uns die Zahlen sagen und was nicht


Gibt es konkrete Zahlen, an denen sich der Stand der Inklusion hierzulande festmachen lässt?

Die Regierungen der Länder berichten in der Schulstatistik in der Regel den sogenannten Inklusionsanteil, d.h. den Anteil der Schüler:innen mit Unterstützungsbedarf, die eine allgemeine Schule besuchen, gemessen an allen Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf. Dieser Inklusionsanteil ist in den meisten Ländern im Zeitverlauf deutlich angestiegen und liegt je nach Bundesland im Schuljahr 2020/21 zwischen 31,1 Prozent in Bayern und 90,1 Prozent in Bremen (siehe Grafik Inklusionsanteil). Als Maß für den Stand der Umsetzung von Inklusion sind diese Zahlen allerdings irreführend. Denn die sogenannte Förderschulbesuchsquote – das ist der Anteil der Schüler:innen, die eine Förderschule besuchen, gemessen an allen Schüler:innen – ist im Verlauf der Jahre (mit Ausnahme von beispielsweise Bremen und Schleswig-Holstein) nur geringfügig gesunken: Als die UN-BRK im Schuljahr 2008/2009 ratifiziert wurde, lernten deutschlandweit 4,9 Prozent aller Schüler:innen an einer Förderschule; im Schuljahr 2020/2021 waren es noch immer 4,4 Prozent der Schüler:innenschaft (siehe Grafik Förderschulbesuchsquote).

Die Zahl der sonderpädagogisch Förderbedürftigen, die inklusiv an Regelschulen lernen, ist also gestiegen, ohne dass die Zahl der Schüler:innen an Förderschulen entsprechend gesunken ist. Klingt paradox. Wie ist das möglich?

Die Antwort darauf findet sich in den Förderquoten (siehe Grafik Förderquote). Hier ist nämlich auch die sogenannte Förderquote dargestellt, also der Anteil der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an allen Schüler:innen. Diese sogenannte Förderquote ist im Zeitverlauf deutlich gestiegen. Daraus kann man schließen, dass der Anstieg der Inklusionsanteile, den wir in der Grafik zum Inklusionsanteil sehen, hauptsächlich auf eine Zunahme formaler Feststellungsverfahren im Bereich sonderpädagogischer Förderung zurückzuführen ist und nicht auf einen Abbau des Förderschulsystems.

Interessanterweise zeigen die schulstatistischen Daten, dass auch die Förderquote im Vergleich der Bundesländer enorm variiert (siehe Grafik Förderquote). Im Schuljahr 2020/21 wiesen auf Bundesebene im Durchschnitt 7,9 Prozent aller Schüler:innen einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf auf. Auf Ebene der Länder reichte derselbe Anteil von 5,8 Prozent in Hessen bis 9,9 Prozent in Sachsen-Anhalt. Derartige Unterschiede zeigen sich seit Jahrzehnten bis hinunter auf die Ebene der Kreise und kreisfreien Städte, und zwar über verschiedene Förderschwerpunkte und auch Jahrgangsstufen hinweg (Goldan & Kemper, 2019). Der Inklusionsforscher Dieter Katzenbach (2015, S. 38) spricht in diesem Zusammenhang von einer "systematischen Zufälligkeit der Vergabe des Labels 'Sonderpädagogischer Förderbedarf'". Zwar ist die Formulierung überspitzt, aber sie verweist auf eine wichtige Tatsache: die Wahrscheinlichkeit, das man als Schüler:in einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf zugewiesen bekommt, ist je nach Wohnort sehr unterschiedlich.

Wie wird ein Förderstatus vergeben und was folgt daraus für Schüler:innen?


Das müssen Sie genauer erklären. Wie kann die Diagnose eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs einer solchen 'Zufälligkeit' unterliegen?

Obwohl psychologische Diagnostik, vor allem in Form standardisierter Tests, Bestandteil der umfangreichen sonderpädagogischen Gutachten sein kann und in der Regel auch ist, handelt es sich bei der amtlichen Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs letztlich um einen bürokratischen Prozess, in den – vom Antrag bis zur Entscheidung – verschiedene Akteure und Akteurinnen (z. B. Lehrkräfte, Eltern, Schulamt) eingebunden sind (Schuck, 2006). In diesem Prozess wird unter Berücksichtigung unterschiedlicher Daten eine Kind-Umfeld-Analyse durchgeführt, in dem entwicklungsfördernde und -hemmende Bedingungen im Kind selber sowie in seinem Umfeld analysiert und abgewogen werden. Dabei spielen die subjektiven Einschätzung der Gutachter:innen eine erhebliche Rolle (Kottmann 2007). Zwar wird die Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs im Allgemeinen als Diagnostik charakterisiert. Dies ist aber nicht mit diagnostischen Verfahren gleichzusetzen, die vollständig standardisiert sind.

Insbesondere für die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Emotionale und Soziale Entwicklung sind die Kriterien, die von Seiten der Kultusministerkonferenz (KMK, 1994) für die Feststellung eines entsprechenden Förderbedarfs festgelegt worden sind, sehr vage. Es gibt hier also bei der Entscheidung darüber, ob bei einem Kind ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf vorliegt oder nicht, einen beträchtlichen Ermessensspielraum (Orthmann Bless, 2007). Auch haben verschiedene Studien auf die Fehleranfälligkeit der sonderpädagogischen Gutachten hingewiesen, auf deren Basis eine solche Entscheidung getroffen wird (z. B. Kottmann, 2006; 2007). Der 'Fall Nenad' gilt als prominentes Beispiel eines Schülers, bei dem fälschlicherweise ein Unterstützungsbedarf im Bereich Geistige Entwicklung festgestellt wurde und der über Jahre an einer entsprechenden Förderschule unterrichtet wurde, bevor er auf dem Klageweg eine erneute Überprüfung erreichen konnte, durch die sein Förderstatus revidiert wurde (Bloemer-Hausmanns, 2018).

Stellt das Label 'sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf' denn per se eine Benachteiligung dar?

Grundsätzlich geht es bei der Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfes darum, die Gewährung zusätzlicher (vor allem sonderpädagogischer) Förderung zu ermöglichen und z. B. im Förderschwerpunkt Lernen die Pflicht zur Benotung von Leistungen auszusetzen. Das Ziel besteht also darin, bestehende Benachteiligungen zu vermeiden. Dennoch kann es durch das Label zu Benachteiligungen kommen, weil es für die betreffenden Schüler:innen mit Stigmatisierungsrisiken einhergeht. Ob und in welchem Umfang die formale Diagnose dann de facto eine strukturelle Benachteiligung von Kindern mit Beeinträchtigungen nach sich zieht, lässt sich anhand der Daten allein nicht beantworten. Im Sinne der UN-BRK können formale Diagnosen dann als benachteiligend gelten, wenn sie lediglich der Überweisung auf eine Förderschule dienen – nicht aber wenn durch diese sichergestellt wird, dass die Schüler:innen Zugang zu Ressourcen und gezielter Förderung erhalten, die ihre gleichberechtigte Teilhabe am Unterricht in der Regelschule ermöglichen.

Im Fall des Schülers Nenad muss man die Frage allerdings klar mit 'ja' beantworten, da er aufgrund des festgestellten Unterstützungsbedarfs während der Grundschulzeit auf eine Förderschule für Geistige Entwicklung überwiesen wurde. Da die Schüler:innen an diesen Schulen nicht nach den Lehrplänen der allgemeinen Schulen unterrichtet werden, ist Nenad als eigentlich normal intelligentes Kind deutlich hinter seinen Lern- und Bildungsmöglichkeiten zurückgeblieben. Zudem kann ein Förderschulbesuch im Lebenslauf eine stigmatisierende Wirkung entfalten und so z. B. die Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verringern (Blanck, 2020).

Abgesehen von solchen Fällen, in denen eine Fehldiagnose weitreichende Folgen für den individuellen Bildungsverlauf hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten, ob und inwieweit das Label 'Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf' eine Benachteiligung darstellt. Zweifelsohne gibt es jenseits von regelrechten Fehldiagnosen einen ausgedehnten Graubereich zwischen Unterstützungsbedarf/kein Unterstützungsbedarf. Manchmal kann einfach nicht zweifelsfrei bestimmt werden, ob ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf vorliegt. Hinzu kommen verschiedene Faktoren, die aufgrund des Ermessensspielraums einen Einfluss auf die Einleitung von Verfahren und die Feststellungsentscheidung haben können und somit eine Erklärung für die regionalen Unterschiede in der Förderquote darstellen können. Dazu zählen beispielsweise die unterschiedlichen Regularien in den Feststellungsverfahren in Abhängigkeit vom Bundesland, das durchschnittliche Leistungsniveau in der entsprechenden Schulklasse, die Belastbarkeits- und Toleranzgrenze der Lehrkräfte und z. B. auch die Frage, ob sich eine Förderschule in der Nähe befindet (Goldan & Grosche, 2021). Relevant ist auch die Frage, ob Schulen für Kinder bzw. Jugendliche, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert worden ist, zusätzliche Ressourcen erhalten (können). In diesem letztgenannten Zusammenhang wird in der Forschung auf das sogenannte Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma (Füssel & Kretschmann 1993; Kornmann 1994) hingewiesen: Zwar ist es im Sinne der Inklusion auf die Etikettierung von Schüler:innen zu verzichten. Gleichzeitig ist aber der Bedarf an Ressourcen für die Schüler:innen mit sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen erhöht, und da Ressourcen in vielen Bundesländern noch auf Basis der Diagnosen zugewiesen werden (z. B. sonderpädagogische Lehrkräfte, spezifisches Material, Inklusionsassistenzen usw.), kommen die Lehrkräfte und Schulleitungen nicht umhin, die Förderbedarfe weiterhin formal festzustellen und so ihren Ressourcenbedarf anzuzeigen (Kottmann, Miller & Zimmer, 2020).

Für den oder die Einzelne kann die formale Feststellung eines sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs sowohl zu einem Nachteilsausgleich führen (z. B. in Form zusätzlicher Ressourcen und Förderung oder der Möglichkeit, auf die Vergabe von Noten zu verzichten) als auch zu benachteiligenden Entscheidungen und Praktiken (z. B. wenn sie die Überweisung von der Regel- auf eine Förderschule zur Folge hat). Die Studienlage zeigt, dass hier eine differenzierte Betrachtung vorgenommen werden muss. Einerseits kann das Etikett "sonderpädagogischer Förderbedarf" den Zugang zu zusätzlicher Förderung ermöglichen, die das akademische Selbstkonzept positiv beeinflussen kann (Savolainen, Timmermans & Savolainen, 2018). Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, welche einen stigmatisierenden und negativen Effekt des Labels nachweisen können, z. B. wenn es um die Leistungsbeurteilung der entsprechenden Schüler:innen, ihre soziale Inklusion und die Entwicklung ihres Selbstwerts geht (Arishi, Boyle & Lauchlan, 2017).

Die Kategorisierung von Schüler:innen im Kontext sonderpädagogischer Förderung birgt ohne Zweifel Risiken, die zur Benachteiligung dieser Gruppe führen können. Dennoch kann es in Anbetracht der bildungspolitischen Realität auch benachteiligend sein, von einem formalen Feststellungsverfahren abzusehen, weil die betroffenen Schüler:innen dann womöglich mit ihren Schwierigkeiten allein gelassen werden. Hier müssten bildungspolitische und -administrative Strukturen angepasst werden, um ein umfassend inklusives Schulsystem einzurichten, das von vornherein die Schaffung angemessener Vorkehrungen für den Fall von Beeinträchtigungen und Unterstützungsbedarfen vorsieht, formale Labels obsolet macht und der Heterogenität der Schüler:innenschaft mit Wertschätzung und ausreichend Ressourcen – auch für seltene und komplexe Formen von Behinderung – begegnen kann.

Inwiefern förderbedürftige Schüler:innen benachteiligt sind und was sich tun lässt


Welche individuellen und gesellschaftlichen Folgen hat die Bildungsbenachteiligung von Schüler:nnen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf?

Die fortwährende Beschulung von Schüler:innen an separierten Förderschulen ist in den vergangenen Jahrzehnten auch aus wissenschaftlicher Perpektive zunehmend in die Kritik geraten. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Praxis nach Auffassung zahlreicher Expert:innen nicht mit der UN-BRK vereinbar ist, weisen einige Studien – insbesondere für den Förderschwerpunkt Lernen – darauf hin, "dass Förderschulen die Benachteiligung [der Schüler:innen; Anmerkung der Autorinnen] eher nicht ausgleichen, sondern stattdessen sogar manifestieren und verstärken können" (Blanck, 2020, S. 213). Dies betrifft in erster Linie die Leistungsentwicklung von sonderpädagogisch förderbedürftigen Schüler:innen, die sich verschiedenen Studien zufolge an allgemeinen Schulen besser darstellt als an Förderschulen (z. B. Kocaj, 2014; Neumann, Lütje-Klose, Wild & Gorges, 2017). Die Gründe hierfür sind nicht abschließend geklärt, doch deuten die vorliegenden Befunde darauf hin, dass der beobachtete Leistungsvorsprung von Inkusionsschüler:innen damit zusammenhängt, dass sie aufgrund des generell höheren Anforderungsniveau an allgemeinen Schulen dort mehr lernen und dabei auch vom höheren Kompetenzniveau der Mitschüler:innen profitieren (Kocaj, Jansen, Kuhl & Stanat, 2020).

Diesen Vorteilen scheinen jedoch auch gewisse Nachteile gegenüberzustehen: So zeigt sich beispielsweise, dass das sog. Akademische Selbstkonzept – also das Bild, das Schüler:innen von ihren eigenen schulischen Fähigkeiten haben – bei Inklusionsschüler:innen geringer ausgeprägt ist als bei ihren Peers an Förderschulen (Kocaj et al., 2020). Dies ist auf den sog. Big-Fish-Little-Pond-Effekt zurückzuführen, der beschreibt, dass Schüler:innen ihre schulischen Leistungen schlechter einschätzen, wenn die Vergleichsgruppe hinsichtlich der Schulleistung deutlich besser abschneidet, also zum Beispiel wenn Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen eine Regelschule besuchen. Hinsichtlich des schulischen Wohlbefindens zeigt sich demgegenüber kein einheitliches Bild. Zwar weisen einige Studien darauf hin, dass sich Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an Förderschulen weniger wohl fühlen als ihre Peers an den allgemeinen Schulen (z. B. Zurbriggen, Venetz, Schwab and Hessels, 2019). Andere Studien wiederum konnten diesbezüglich keine Unterschiede feststellen (Schwab et al., 2015). In der BiLieF-Studie (der Bielefelder Längsschnittstudie zum Lernen in inklusiven und exklusiven Förderarrangements), die ausschließlich Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich Lernen in verschiedenen Settings untersucht hat (allgemeine Schulen, Förderschulen und Schulen mit Unterstützung durch ein Kompetenzzentrum sonderpädagogischer Förderung), konnten keine signifikanten Unterschiede im Wohlbefinden zwischen den verschiedenen Förderorten festgestellt werden (Lütje-Klose et al., 2018; Wild et al., 2015). Eine repräsentative Studie für Deutschland hat jüngst untersucht, ob sich das Label "Sonderpädagogischer Förderbedarf" ungünstig auf das Wohlbefinden auswirkt. Hierzu wurden statistische Zwillinge gebildet, d.h. es wurden Schüler:innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf an Regelschulen miteinander verglichen, die sich auf verschiedenen Kerndimensionen ähnlich sind. Hier zeigten sich Nachteile für Schüler:innen mit dem Label "Sonderpädagogischer Förderbedarf", u.a. mit Blick auf die Lebenszufriedenheit, die Zufriedenheit mit der Schule, mit Freunden und hinsichtlich der Lernfreude (Goldan, Nusser & Gebel, 2022).

Hinsichtlich des Bildungserfolgs von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zeigen schulstatistische Analysen seit vielen Jahren, dass mehr als zwei Drittel der Schüler:innen von Förderschulen ohne qualifizierenden Abschluss bleiben. Im Jahr 2016 verließen auf Bundesebene beispielsweise etwas über 72 Prozent aller Förderschüler:innen die Förderschule ohne einen Hauptschulabschluss (ca. 9.140 Schüler:innen). Bei den sonderpädagogisch Förderbedürftigen an allgemeinen Schulen, also den Inklusionsschüler:innen, traf dies im gleichen Jahr "nur" auf 54 Prozent der Abgänger:innen zu (ca. 865 Schüler:innen). Differenziert man diese Zahlen weiter nach verschiedenen Bundesländern und Förderschwerpunkten, zeigen sich erneut erhebliche Unterschiede in den Anteilswerten, die für allgemeine Schulen jedoch fast durchweg niedriger ausfallen (Kemper & Goldan, 2018; Goldan & Kemper, 2020).

Wenngleich diese Ergebnisse als Hinweis auf einen erfolgreicheren Bildungsverlauf der betreffenden Schüler:innen an allgemeinen Schulen gedeutet werden können, ist bei der Interpretation noch immer Vorsicht geboten. Denn es ist auf Basis der schulstatistischen Daten, die den Zahlen zugrunde liegen, nicht möglich, weitere Faktoren zu kontrollieren, die bekanntermaßen einen Einfluss darauf haben, welchen Schulabschluss junge Menschen erreichen (z. B. den Bildungshintergrund der Eltern oder das Kompetenzniveau der Schüler:innen, das sich in Abhängigkeit von der Schulform wahrscheinlich unterscheidet). So ist denkbar, dass Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf häufiger eine inklusive Beschulung für ihr Kind wählen, wenn sie aus privilegierten sozialen Verhältnissen stammen. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass es tendenziell die leistungsstärkeren Schüler:innen sind, die in einem inklusiven Setting beschult werden, wie es etwa in der BiLieF-Studie nachgewiesen wurde (Neumann et al., 2018). Nichtsdestotrotz geben diese Zahlen Anlass zur Sorge, da aus der Forschung bekannt ist, dass die Lebenschancen (etwa hinsichtlich Einkommen, Gesundheit und sozialer Integration) von Schüler:innen, die ohne qualifizierten Schulabschluss die Schule verlassen, deutlich verringert sind. Insbesondere der Übergang in eine Berufsausbildung ist ohne Schulabschluss erheblich erschwert, und ein fehlender Berufsabschluss wiederum vermindert die Chance auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Welche Ansätze wären aus Sicht der Forschung vielversprechend, um die Bildungschancen von Menschen mit Behinderung zu verbessern?

Die COVID-19 Pandemie hat einmal mehr gezeigt, wie stark die Bildungschancen von Menschen mit (und ohne) besondere Unterstützungsbedarfe davon abhängig sind, wie umfassend die häusliche Unterstützung seitens der Eltern ist. Ein Großteil der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wächst in prekären Verhältnissen auf, d.h. die Schüler:innen sind psycho-sozial und ökonomisch hoch belastet und können auf wenig (professionelle) Unterstützung zurückgreifen. Sie sind wie keine andere Gruppe auf ein Bildungssystem angewiesen, das in der Lage ist, sie bestmöglich zu fördern (vgl. u.a. Goldan et al., 2021).

In der Forschung gibt es vielversprechende Befunde und Hinweise, wie sich die Bildungschancen für benachteiligte Schüler:innen verbessern lassen. Auch wenn an dieser Stelle nicht vertiefend darauf eingegangen werden kann, sollen einige zentrale Punkte genannt werden. Beispielsweise wäre es zukünftig wichtig, die inklusiv arbeitenden Schulen zu stärken, d.h. Strukturen innerhalb der Schule auf- und auszubauen, die zum Gelingen schulischer Inklusion beitragen. Hierfür ist zunächst eine angemessene personelle, räumliche und materielle Ausstattung notwendig, eine unterstützende Schulleitung, die zu einem inklusiven Leitbild im Kollegium beiträgt (hierzu gehören vor allem Prinzipien wie Akzeptanz von Heterogenität als Normalität und Bereicherung, Wertschätzung gegenüber allen Kindern, hohe Leistungsanforderungen an alle Schüler:innen) und die multiprofessionelle Kooperation fördert (Arndt & Werning, 2016). Darüber hinaus wäre es wichtig, auch die Kooperation mit den Eltern zu stärken, diese für die schulische Laufbahn ihrer Kinder in die Verantwortung zu nehmen und sie dabei aktiv zu unterstützen. Auch die Ganztagsschulen müssen einen qualitativ hochwertigen Ausbau erfahren und die Schüler:innen auch jenseits des Curriculums fördern, z. B. im Rahmen hochwertiger Ferien- und AG-Angebote. Selbstverständlich sind mit Blick auf die Verbesserung von Bildungschancen nicht nur Schulen in der Pflicht, sondern z. B. auch Akteur:innen der Bildungsplanung, d.h. Ministerien und die kommunale Bildungsplanung, die neben den Schulen auch die Stadtteile und deren Weiterentwicklung in den Bick nehmen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass beispielsweise im Rahmen des Aktionsprogramms "Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche" Konzepte entwickelt werden, die benachteiligten Schüler:innen (mit und ohne Behinderung) nachhaltig zugute kommen.

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Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose, geb. 1962 in Gütersloh, ist Diplom-Erziehungswissenschaftlerin, Lehrerin für sonderpädagogische Förderung und seit 2007 Professorin für schulische Inklusion und sonderpädagogische Professionalität an der Universität Bielefeld. Sie bildet zukünftige Lehrkräfte aus und forscht zu der Frage, unter welchen Bedingungen sich Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogische Unterstützungsbedarfe in Bezug auf ihr Wohlbefinden und ihre schulischen Leistungen gut entwickeln. Seit vielen Jahren untersucht sie, wie multiprofessionelle Kooperation in inklusiven Schulen bewertet und umgesetzt wird. Dazu hat sie gemeinsam mit Kolleg*innen im Projekt BiFoKi (Externer Link: www.bifoki.de) eine Fortbildungskonzeption entwickelt und erprobt, die derzeit evaluiert wird.

Dr. Janka Goldan, geb. 1987 in Frankfurt am Main, ist Diplom-Erziehungswissenschaftlerin, Betriebswirtin (IWW) und Akademische Rätin auf Zeit an der Universität Bielefeld in der "AG 3 – Schultheorie mit dem Schwerpunkt Grund- und Förderschulen". Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Entwicklung schulischer Inklusion und der strukturellen Benachteiligung von Schüler*nnen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich Lernen. Derzeit beschäftigt sie sich vornehmlich mit der Frage, inwieweit die Etikettierung und Kategorisierung von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf zu deren Benachteiligung beiträgt. Ihre Fragestellung untersucht sie in erster Linie anhand großer Studien und amtlicher Daten.