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Identitätsentwicklung Jugendlicher angesichts von Diskriminierungserfahrungen
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Die Identitätsentwicklung ist für Jugendliche ein widersprüchlicher und konfliktreicher Prozess. Die Frage "Wer bin ich eigentlich?" trifft Jugendliche mit Diskriminierungserfahrung dabei in doppelter Weise – denn ihre Zugehörigkeit wird im Alltag unentwegt zur Disposition gestellt. Wie Jugendliche mit derart verletzenden Erfahrungen umgehen, ist unterschiedlich – gerade subversive Strategien im Umgang mit Diskriminierung erfordern dabei die besondere Aufmerksamkeit von Pädagoginnen und Pädagogen.
Joanas "identity struggles"
Joana aka. CurlyJay (jetzt Jhaleezi) berichtet in ihrem Video in der Reihe "Say My Name" ausführlich über diskriminierende Erfahrungen während ihrer Jugend. Immer wieder musste sie etwa die korrekte Form und Intonation ihres Vornamens erklären – teils wurde ihr Name "Joana" einfach zu "Johanna" gemacht. Auch ihren Nachnamen, der in Mosambik üblich ist, musste sie immer wieder thematisieren und korrigieren bis sie schließlich dazu überging, diesen "deutsch [zu] machen", also sprachlich an die deutsche Standardsprache "anzupassen". Neben ihrem Namen waren es auch immer wieder ihre Haare sowie ihre Hautfarbe, die Menschen zum Anlass genommen haben, sie "anders" zu behandeln.
Es waren also nicht etwa ihr Kleidungsstil oder ein bestimmtes Verhalten, das man Joana entgegenhielt, sondern körperliche Merkmale, entlang derer Joana als "anders" herausgestellt wurde. Auch wenn sie etwa versuchte, ihre Haare zu glätten und so dem vermeintlichen Ideal "glatter Haare" zu entsprechen und nicht mehr "aufzufallen", konnte sie sich nie "verstecken"; nie das, aufgrund dessen sie "anders" gemacht wurde, ablegen. Die andauernden, oft abwertenden Bezüge auf ihr Äußeres, in dem sie sich von ihren weißen Mitschülerinnen und Mitschülern unterschied, gaben ihr das Gefühl "dass ich zu etwas gemacht werde, was ich meinen Augen gar nicht war". Immer wieder beschlich sie dabei der Gedanke, ihre "Identität zu hinterfragen oder abstoßen zu wollen". Joana nennt diese Gedanken auch "identity struggles".
Mit der Zeit, so erzählt Joana, habe sie einen "Panzer" entwickelt, um sich von den alltäglichen Herabsetzungen nicht gänzlich vereinnahmen zu lassen. Sie hat als Jugendliche "lernen müssen, dass mich Andere einfach anders machen" und sie nicht anders ist. Heute bezeichnet sich Joana als "mixed" oder auch "Afro-Deutsche" und gibt an, ihre Identität "gefunden" zu haben.
Doppelte Fraglichkeit der eigenen Identität
Was aber bedeutet Identität? Von der Wortbedeutung her betrachtet, lässt sich Identität als ein Übereinstimmen, ein Sich-Decken mit etwas verstehen. Bezogen auf den Menschen kann Identität mit den Worten des US-amerikanischen Philosophen und Sozialpsychologen George Herbert Mead als das stets in Veränderung begriffene Produkt sozialer Interaktion und damit verbundener Perspektivübernahme verstanden werden. Im Einnehmen des Blickwinkels eines anderen Menschen mit dessen jeweiligen sozialen Positionen entsteht erst ein "Selbst-Bewußtsein". In diesem werden die eigenen gesellschaftlichen Rollen und Positionen greifbar – es entsteht Identität als ein mir reflexiv zugängliches Ensemble gesellschaftlicher Rollen und Zugehörigkeiten.
Für die Identitätsentwicklung kommt der Jugend als Lebensabschnitt eine besondere Bedeutung zu.
Ist für Jugendliche Identität per se fraglich, so spricht aus Joanas Erfahrungsbericht gewissermaßen eine doppelte Fraglichkeit. Nicht nur stellt sie sich wie jede/r andere Jugendliche die Fragen: Wer bin ich? Was denken Andere über mich? Wie möchte ich in meiner Zukunft sein? Welchem Job möchte ich einmal nachgehen? Welche Persönlichkeit sollte eine potentielle Partnerin oder ein Partner mitbringen? Joana sieht sich überdies mit der Frage konfrontiert: Gehöre ich überhaupt dazu – nicht nur zur Peergroup in der Schule, sondern zu der Gesellschaft, in der ich lebe? Kann ich mit meinem Äußeren überhaupt je dazugehören?
Joana sieht sich einem Phänomen ausgesetzt, das die Frage nach Identität für sie über die bloße Jugend hinaus problematisch werden lässt und die von ihr benannten "identity struggles", die für die Jugend an sich typisch sind, weiter verschärft. Dieses Absprechen von Zugehörigkeit lässt sich als rassistische Diskriminierung benennen oder auch als Prozess des "Othering" bzw. des "andersgemacht-Werdens".
"Anders" gemacht werden
Andere Menschen als Andere zu erfahren, ist Grundmoment menschlicher Entwicklung. Diese/r Andere als Dimension menschlicher Entwicklung insbesondere im frühen Kindesalter ist jedoch abzugrenzen vom "Anderen" in gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen.
Gesellschaftliche Konstruktionsprozesse vom "Anderen" funktionieren nicht in einem "Ich-Du-Schema". Sie sind immerzu historisch, beziehen sich auf ein "Wir" in Abgrenzung zu einem "Ihr" und schaffen so die Gruppe "Anderer".
Gerade Menschen, denen aufgrund phänotypischer Merkmale eine bestimmte Herkunft unterstellt wird bzw. die Migration eines Familienangehörigen, sind hiervon betroffen. Der Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril hat in diesem Zusammenhang den Begriff des "natio-ethno-kulturellen Anderen" geprägt.
Am Erfahrungsbericht Joanas lässt sich eindrücklich herausstellen, wie diese zu einer "natio-ethno-kulturell Anderen" gemacht wurde und letztgenannter Aspekt wirksam wurde. Dass sie Joana als "anders" wahrnehmen, bringen Mitschülerinnen und -schüler wie Lehrerinnen und Lehrer auf vielfältige Weise zum Ausdruck. Die Referenzen beziehen sich auf ihr Äußeres, ihren Namen – auf "natio-ethno-kulturelle" Kategorien. Was jedoch fast zu Gänze in den Hintergrund zu rücken scheint, sind all die anderen möglichen Dimensionen, die für Joana ebenfalls eine Rolle spielen (können): Sie ist Jugendliche, eine junge Frau, eine Schwester, Tochter, vielleicht auch eine Vegetarierin usw.
Es ist nun nicht so, dass die Migrationserfahrung einer ihrer Elternteile für sie persönlich gar keine Rolle spielte – hierauf deuten die von ihr genutzten Selbstbezeichnungen "mixed" und "Afro-Deutsche" hin. Dies könnte reflexartig die Fragen aufwerfen: Sind diese Identifikationen als ermächtigende Selbstbehauptungen zu verstehen gegenüber der alltäglichen Erfahrung als anders wahrgenommen zu werden? Oder sind sie eher reaktive Übernahmen der ihr entgegen gebrachten Zuschreibungen? Aus Position von jemandem, die/der keinen Rassismus am eigenen Leib erfahren hat, ist es schwierig, diese Selbstdefinitionen angemessen zu erklären bzw. kritisch zu befragen. Mehr noch: Ein Befragen dieser Selbstzuschreibungen könnte letztlich ein erneutes "Anders-Machen" darstellen. Ausgangspunkt zur Durchbrechung des sich andeutenden Zirkels des "Anders-Machens" muss die Anerkennung von Selbstdefinitionen wie diesen sein.
Verletzungen durch Worte und der Umgang mit diesen
"Du gehörst nicht dazu, du bist fremd, du bist anders" – Sätze wie diese, von denen Clement im Video mit Lisa Sophie Laurent berichtet, hinterlassen Spuren.
Im Gespräch mit Lisa Sophie Laurent berichtet Clement, wie er sich in Folge seiner rassistischen Erfahrungen mit der Polizei verhält: "Auch wenn ich jetzt irgendwie an Polizisten vorbeilaufe, dann versuch‘ ich halt immer mich so geordnet wie möglich zu verhalten". Seine Strategie lautet: "Anpassen", Augenkontakt halten und immerzu lächeln. Dass diese Erfahrung für Clement eine tiefgreifende sein muss, lässt sich im Video selbst bereits erahnen. Auch in anderen Situationen verfolgt Clement bestimmte Strategien, um rassistischen Zuschreibungen zu entgehen. So berichtet er etwa im Kontext von karnevalistischen Aktivitäten, an denen er teilgenommen hat, stets das "gute Bild von ́nem Schwarzen abgeben" zu wollen. Das sei "so krass in einem drin". Auch Joana hat ihren Weg gefunden, mit abwertenden Zuschreibungen umzugehen. Sie hat sich einen "Panzer" zugelegt, eine kognitive Strategie der Distanzierung von Rassismus. Sie hat erkannt, dass "mich Andere einfach anders machen" und dass sie nicht etwa anders ist.
Jugendliche können auch subversive Strategien im Umgang mit abwertenden Zuschreibungen entwickeln, d. h. Umgangsweisen, die dominante Diskursmuster ironisch oder provokant unterlaufen, gesellschaftliche Deutungsmuster verschieben und ermächtigen, Zugehörigkeiten selbst definieren.
Ein Beispiel für ein solches Missverstehen muslimischer Jugendlicher bietet eine Studie, in deren Rahmen die Umgangsweisen muslimischer Jugendlicher mit dem potentiell diskriminierenden Themenkomplex "Salafismus" anhand von qualitativen Gruppendiskussionen mit ihren Peers in einem Jugendtreff untersucht worden sind. Während einer dieser Diskussionen berichten die beiden Jugendlichen Müjahid und Ömer (Pseudonyme) von einer Situation an der Kasse eines Supermarkts. Unweit vor ihnen folgen sie dem Gespräch von zwei Personen, in dem "die ganze Zeit auch über Flüchtlinge und Terrorismus geredet" wurde. Müjahid und Ömer beginnen daraufhin ein Gespräch über Sprengstoff, "Bomben" etc. – ganz so, als sei es ein ebenso gängiges Thema für den Small-Talk beim Einkaufen wie der Austausch rassistischer und antimuslimischer Ressentiments.
Isoliert beobachtet, könnte die geschilderte Kassensituation bei Beobachterinnen und Beobachtern Sorge und "Fundamentalismusverdacht"
In solchen Momenten muss man sich jedoch stets vor Augen führen: Die allerwenigsten (muslimischen) Jugendlichen weisen Sympathien mit extremistischen Gruppierungen auf. Eine medienpsychologische Studie zeigt etwa, dass der überwiegende Teil Jugendlicher – ganz gleich, ob muslimisch oder nicht – extremistischer Propaganda eher ablehnend gegenübersteht.
Fazit
Joanas "Identity struggles" stehen stellvertretend für die doppelte Fraglichkeit der Zugehörigkeit Jugendlicher, die in ihrem Alltag diskriminierende Erfahrungen machen. Die Erfahrung, "anders" gemacht zu werden und die eigene Zugehörigkeit als fraglich zu erfahren, ist nicht trivial. Es handelt sich um verletzende Erfahrungen, die zum Verstummen, dem Versiegen der Sprache führen können. Einige Jugendliche, wie etwa Joana, legen sich einen "Panzer" zu oder üben Vermeidungsstrategien ein wie Clement. Andere wiederum ironisieren, provozieren – eignen sich abwertende Zuschreibungen an und deuten diese so um. Diese subversiven Strategien als solche zu erkennen ist nicht nur wichtig, um erneute Zuschreibungen zu vermeiden. Subversive Umgangsweisen mit diskriminierenden Erfahrungen können auch als Anzeichen für empowernde Momente in der Identitätsentwicklung Jugendlicher gedeutet werden – und damit potentieller Ansatzpunkt sensiblen pädagogischen Handelns.
Weitere Inhalte
Julian Ernst (Lehramtsstudium in Köln und Istanbul) ist Doktorand am Arbeitsbereich für Interkulturelle Bildungsforschung der Universität zu Köln. Er forscht zur Medienkritik(fähigkeit) Jugendlicher, zu digitalen Bildungsmedien im Kontext von Hass und Gegenrede sowie zu didaktischen Fragestellungen Interkultureller Bildung. Weiterhin entwickelt er (medien)pädagogische Konzepte u.a. im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und des Innenministeriums NRW.
Dr. Josephine B. Schmitt (Studium der Psychologie in Hamburg, Promotion im Bereich Medienpsychologie an der Universität Hohenheim) ist Referentin am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum. Sie forscht unter anderem zu Inhalt, Verbreitung und Wirkung von Hate Speech, extremistischer Propaganda, Gegenbotschaften und (politischen) Informations- und Bildungsangeboten im Internet. Zudem entwickelt sie didaktische Konzepte für die Radikalisierungsprävention unter anderem im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und des Innenministeriums NRW.