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Digitale politische Bildung mit TikTok

Marcus Bösch

/ 8 Minuten zu lesen

(© Adobe-Stock/EdNurg )

„Unser Ziel ist es, das demokratische Bewusstsein in der Bevölkerung zu fördern und die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu motivieren und zu befähigen, mündig, kritisch und aktiv am politischen Leben teilzunehmen.“ So steht es im Leitbild der Bundeszentrale für politische Bildung . Eine Herausforderung für Akteur/-innen der politischen Bildungsarbeit, denn wie vermittelt man ein „Werte- und Demokratieverständnis der freiheitlich demokratischen Grundordnung” in Zeiten der Informationsüberflutung und der Information Disorder (auf deutsch „Informationsstörung”). Mit letztgenanntem Begriff bezeichnen Wardle und Derakshan die unübersichtliche Gemengelage aus Propaganda, Lügen, Verschwörungen, Gerüchten, Falschmeldungen, Unwahrheiten oder manipulierten Medien, die medial – vor allem im Internet – verbreitet werden. Neben einem Zu viel an Informationen dank neuer Informations- und Kommunikationstechnik und dem Aufkommen neuer Content Creator/-innen wird das mediale Informationsangebot durch eine neue Unübersichtlichkeit geprägt, die zur News Fatigue (auf deutsch „Nachrichtenmüdigkeit”) führen kann. Das Interesse an Nachrichten ist in Deutschland deutlich gesunken, schreibt das Hans-Bredow-Institut. Bestätigt wird dieser Trend vom Reuters Institute Digital News Report 2023, dessen deutsche Teilstudie vom Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg durchgeführt wurde.

Weltweit wurden 93.895 Menschen aus 46 Ländern zu ihrem Nachrichtenkonsum befragt. Ein Ergebnis: Nur noch 52 Prozent der erwachsenen Internetnutzenden in Deutschland geben an, äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert zu sein. Im Vorjahr waren es noch 57 Prozent. Dabei zeigt sich ein deutliches Gefälle zwischen den Altersgruppen. Während die über 55-Jährigen noch zu 71 Prozent ein großes Interesse an Nachrichten angeben, sind es bei den 18- bis 24-Jährigen nur 28 Prozent. Wie kann politische Bildung in diesem Kontext ansetzen? Wie vermittelt man ein Werte- und Demokratieverständnis vor allem an eine jüngere Zielgruppe?

Vielleicht so: „Hey! Hör mal kurz auf zu scrollen und nimm dir etwas Zeit, um was Wissenswertes über den Deutschen Bundestag zu erfahren.“ So spricht Anna Moors auf TikTok ihre Zielgruppe an.

Die damals 18 jährige startet im Rahmen eines Praktikums im Bundestag 2020 ihr persönliches Social Media Projekt @hinterzimmerpolitik auf Instagram und TikTok. Initialzündung sind Kommentare aus ihrem Freund/-innenkreis auf das Praktikum. Ob das nicht super langweilig sei in einem riesigen Verwaltungsapparat, sei sie gefragt worden, erzählt Moors. Sie habe daraufhin Menschen motivieren wollen, sich tiefer mit Politik und ihren Institutionen auseinanderzusetzen. Bemerkenswert an dem Projekt ist vor allem die plattformspezifische Ansprache, die Moors wählt. Statt Fakten aneinanderzureihen, nutzt sie intuitiv die Mittel und Möglichkeiten der App. „Is’n Vibe“ ist ein TikTok Video aus dem November 2020 beschriftet. Zu sehen sind mit dem Smartphone gefilmte Ansichten des Kanzleramtes, gefilmt aus dem Paul-Löbe-Haus. Moors filmt erst ihre Turnschuhe und schwenkt dann nach oben. Die nächste Einstellung zeigt sie im Selfie-Modus vor dem Reichstagsgebäude. Die Sonne scheint. Die Nationalflagge und die Flagge der Europäischen Union wehen im Wind. Moors filmt vom Schriftzug „Dem Deutschen Volke“ in den blauen Himmel. Unterlegt sind die 14 Sekunden mit dem damals auf der Plattform sehr beliebten Folk-Pop Stück Riptide des Sängers Vance Joy. Der Song ist hier zentral, denn er kontextualisiert die flüchtig wirkenden Bilder aus dem politischen Berlin und lädt sie mit Bedeutung auf. Beschrieben wird der Song von Hannah Gilchrist in der britischen Ausgabe des Red Magazine wie folgt: Es fühlt sich an, als ob Du an einem kalifornischen Strand sitzt und eine Flasche Bier trinkst, während Deine Freunde in den Wellen herumtollen – kein Wunder, dass das Lied von den Tracks der 1970er Jahre inspiriert ist.“ Nicht unbedingt das, was man als erstes mit dem Funktionsgebäude Paul-Löbe-Haus verbindet, hier befinden sich 550 Büros für 275 Abgeordnete, 21 Sitzungssäle für die Ausschüsse und etwa 450 Büros der Ausschuss-Sekretariat. Bei Moors gibt es diese Verbindung. Für sie ist das politische Zentrum der Hauptstadt und die Arbeit hier „ein Vibe“ – ein besonderes Gefühl. Das Ergebnis ihrer Videos ist ein neuer Blick auf politische Institutionen, nicht als visueller Hintergrund einer Nachrichtensendung, sondern als etwas, was man selber erfahren kann, etwas was inspiriert und den Wunsch nach mehr Informationen weckt. Und die liefert Moors mit Einblicken in ihren Arbeitsalltag. Die Videos tragen Bildunterschriften wie „Ich + die Kaffeemaschine im Büro = Eine innige Liebe“ und kommen gut an. Die Videos des Accounts, der inzwischen @annamoors heißt, haben über eine Million Likes. Die meistgesehenen Videos von Moors haben über 500.000 Ansichten. In ihren Videos beantwortet Moors unter anderem Fragen aus der Community. Denn zahlreiche Nutzer/-innen interessieren sich für ein Praktikum im Bundestag und wollen wissen, wie sie die Bewerbung am besten angehen. Moors arbeitet inzwischen fest als Social-Media-Managerin im Bundestagsbüro eines Abgeordneten.

Moors ist ein gutes Beispiel für funktionierende Individualaccounts auf der Plattform. Sie taucht wiederkehrend als Akteurin auf, Nutzer/-innen lernen sie so kennen und vertrauen ihr. Ähnliches gilt für die Creatorin Leonie Löwenherz , die mit ihren Videos zu den Themen intersektionale Repräsentation, Gender Studies und US-Politik gut 82.000 Follower und 2,3 Millionen Likes auf der Plattform angesammelt hat oder auch für Vicca Reich , die zu Feminismus und Gleichberechtigung informiert und von mehr als 44.000 Followern abonniert wird und 2,1 Millionen Likes bekommen hat. Durch eine gut inszenierte Authentizität gelingt hier eine Nutzer/-innenbindung, mit der sich klassische Bildungsakteure noch schwer tun. Weder die Stiftung für Engagement und Bildung mit ihrem Projekt You.Politics , noch das Projekt Democreate der Amadeu Antonio Stiftung kommen annähernd auf vergleichbare Zahlen. Beide Projekte mit der Zielausrichtung politische Bildung sind erwähnenswert, bleiben bei den Aufrufzahlen einzelner Videos zu Themen wie „Toleranz“ (298 Views), „Menschenwürde“ (390 Views) oder „Legislative (270 Views) aber meist im niedrigen dreistelligen Bereich. Klassischen Akteur/-innen gelingt es derzeit noch nicht, politische Aufklärung „durch einen audiovisuellen Akt“ nach Serrano, Papakyriakopoulos, Hegelich zu externalisieren. Denn tradierte Formen der Wissensvermittlung in einem simplen Sender/-innen-Empfänger/-innen-Modell funktionieren auf einer interaktiven Mitmachplattform wie TikTok offenbar nicht mehr. Um hier zu informieren, ist es zwingend geboten, als authentisch wahrgenommene/r Akteur/-in dialogisch und plattformspezifisch zu agieren. Moors’ Vibevideo ist demnach nicht nur ein kurzweiliges Video, sondern notwendiger Bestandteil eines funktionierenden Konzepts. Selbst klassische und reichweitenstarke Akteure wie die öffentlich-rechtliche Nachrichtensendung Tagesschau setzen auf TikTok neben Information auf Entertainment und einen Dialog auf Augenhöhe. Die beiden reichweitenstärksten Videos des Accounts (5,3 und 5,2 Millionen Views) zeigen keine klassischen Nachrichten, sondern die Moderatorin Susanne Daubner, die das Jugendwort des Jahres beziehungsweise die Liste mit Jugendwörtern des Jahres im Tagesschau-geschultem Duktus vorliest. Der unterhaltsame Bruch aus Tagesschau-Setting und isoliert vorgetragenen Vokabeln einer mehr oder minder authentischen Jugendsprache erzielt in kleinen Videoschnipseln auch jenseits der Plattform große Reichweiten als Meme.

Erste Anregungen für eine zielführende und erfolgreiche Ausgestaltung neuer Accounts im Kontext Lernen und Bildung bietet ein Leitfaden der Stiftung für Engagement und Bildung . Hilfreich ist auch das persönliche Phasenmodell von Prof. Ackermann für ihren Account @dieprofessorin . Er besteht aus folgenden sieben Phasen:

  1. Beobachtung und Assimilation. Bevor ein Account gestartet wird, empfiehlt es sich zunächst einmal grundlegende Erfahrungen auf TikTok zu machen und ein Gefühl für den Stil der Plattform zu erlangen.

  2. Aneignung & Übertragung. Auf Basis der Erkenntnisse lassen sich nun Formate und Genre ausprobieren und an das eigene Themenfeld anpassen.

  3. Marktrecherche. Wichtig ist eine erste Konkurrenzanalyse. Wer hat ähnliche Accounts auf der Plattform? Wer behandelt ähnliche Themen?

  4. Entwicklung. Ausgehend von der Marktrecherche lassen sich eigene Formate als Prototyp ausprobieren.

  5. Launch. Sind die ersten Prototypen erfolgversprechend, erfolgt der offizielle Start mit dem Posten von Videos auf der Plattform.

  6. Mit zunehmender Nutzung erfolgt eine Professionalisierung der eigenen Inhalte.

  7. Diese werden etabliert und verstetigt.

Kontinuierliches Posten, die Beteiligung an Trends und Hashtag-Challenges und die Identifikation eigener Hashtags zur Generierung von Sichtbarkeit führen dann hoffentlich zum gewünschten Erfolg. Der Weg lässt sich mit der sehr schlichten, aber doch richtigen Formel fassen: Probieren geht über studieren. Gerade ein so flüchtiges und im steten Wandel befindliches Medium wie die Plattform TikTok muss konstant genutzt werden, um hier eine Zielgruppe erreichen zu können. Dies erscheint vielversprechend, so lange relevante Zielgruppen hier überdurchschnittlich viel Zeit verbringen. Und auch wenn absehbar ist, dass TikTok wie andere Plattformen zuvor, auf lange Sicht weder die einzige, noch die letzte Plattform für audiovisuelle Inhalte sein wird, bieten sich hier derzeit wie gezeigt neue Chancen und Herausforderungen für die Bildungsarbeit.

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Marcus Bösch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg und forscht zu TikTok, politischer Kommunikation und Desinformation. Er veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter Externer Link: Understanding TikTok.