Vor 80 Jahren: Völkerbund billigt Antrag auf absolute Neutralität der Schweiz
Die Schweiz gilt als Vorreiterin neutraler Außenpolitik. Vor 80 Jahren haben die Mitglieder des Völkerbunds der vollen Neutralität der Schweiz zugestimmt. Was als neutral gilt, ist allerdings bis heute Auslegungssache.
Am 14. Mai 1938 haben die Mitglieder des Völkerbundrates dem Antrag der Schweiz auf "integrale Neutralität" zugestimmt. Der Völkerbund war eine internationale Staatengemeinschaft, die 1920 auf Anregung des damaligen amerikanischen Präsidenten Wilson zur Sicherung des internationalen Friedens gegründet wurde.
Der Schweizer Wechsel zur "integralen" oder auch absoluten Neutralität war im Rat des Völkerbunds umstritten, denn er minderte den außenpolitischen Einfluss der ohnehin geschwächten Staatengemeinschaft. Bis dahin hatte die Neutralität der Schweiz einen sogenannten differenziellen Charakter gehabt: Das Land musste sich zwar nicht an militärischen Schritten beteiligen, politische und wirtschaftliche Maßnahmen der internationalen Staatengemeinschaft jedoch in Teilen mittragen. Das sollte sich nun ändern. Der Hintergrund: Japan, Deutschland und Italien waren in den Jahren zuvor aus dem Völkerbund ausgetreten. Der Rat des Völkerbundes hatte daraufhin Wirtschaftssanktionen gegen die Abtrünnigen verhängt. Die Schweiz wollte diese allerdings nicht mittragen – nicht zuletzt, um trotz aller politischen Divergenzen ihren wichtigen Handelspartner Italien nicht zu verlieren.
Neutralität – eine Frage der Auslegung
Die Schweizerische Eidgenossenschaft, so der amtliche Name der Schweiz, war im Jahr 1815 entstanden, als sich Europa nach dem Ende der napoleonischen Kriege auf dem Wiener Kongress neu ordnete. Die Neutralität Schweiz wurde erstmals von den europäischen Großmächten anerkannt. Der Bundesvertrag von 1815, die Gründungsurkunde der Schweiz, legte fest, dass die Schweiz ihre Neutralität auch militärisch verteidigen könne.
Tatsächlich sollten alle männlichen, schweizerischen Bürger an der Waffe ausgebildet sein, für den Fall, dass die Grenzen und damit auch die Neutralität angegriffen worden wäre. Zuletzt befestigten und bewachten die Schweizer ihre Staatsgrenzen während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wirklich verteidigen mussten diese sie aber nie.
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Neutralität
Neutrale Staaten im Krieg
Im Völkerrecht, das die Beziehungen zwischen den Staaten regelt, gibt es auch den Begriff der Neutralität. Dort steht, dass sich ein neutraler Staat nicht an einem Krieg oder einem sonstigen Konflikt zwischen anderen Staaten beteiligen darf. Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 haben genauer definiert, welches Verhalten von neutralen Staaten erwartet wird. Danach darf ein neutraler Staat kriegführende Länder weder militärisch noch politisch oder wirtschaftlich unterstützen. Wichtig ist, dass sich neutrale Staaten ganz genau an diese Verpflichtung halten, sonst laufen sie Gefahr, dass die anderen Staaten ihre Neutralität nicht anerkennen und sie in einen Krieg verwickeln.Vermittlung durch neutrale Staaten
Neutrale Staaten bieten oftmals an, in einem Konflikt zwischen verschiedenen Staaten zu vermitteln. Sie können dann durch ihre unparteiische Politik dazu beitragen, Krisen beizulegen. Die neutralen Staaten werden von den Konfliktparteien nicht als Gegner oder Bedrohung angesehen. Das ist ein Vorteil für die Verhandlungen.Andauernde und zeitweise Neutralität
Zu unterscheiden ist zwischen andauernder Neutralität und Neutralität in einer bestimmten Situation. Die Schweiz beispielsweise ist ein andauernd neutraler Staat. Andere Staaten sind nur in manchen Situationen neutral, in anderen Situationen ergreifen sie Partei für eine Seite. So waren die USA zu Beginn der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts neutral. Später unterstützten sie die Westmächte Großbritannien und Frankreich im Krieg, hatten dann ihre Neutralität aufgegeben.Quelle: Gerd Schneider / Christiane Toyka-Seid: Das junge Politik-Lexikon von www.hanisauland.de, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018.
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"Haager Abkommen"
"I. Kapitel:
Rechte und Pflichten der neutralen Mächte
Art. 1Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich.
Art. 2
Es ist den Kriegführenden untersagt, Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet einer neutralen Macht hindurchzuführen.
Art. 3
Es ist den Kriegführenden gleichermassen untersagt:
a) auf dem Gebiete einer neutralen Macht eine funkentelegrafische Station einzurichten oder sonst irgendeine Anlage, die bestimmt ist, einen Verkehr mit den kriegführenden Land- oder Seestreitmächten zu vermitteln;
b) irgendeine Einrichtung dieser Art zu benutzen, die von ihnen vor dem Kriege auf dem Gebiete der neutralen Macht zu einem ausschliesslich militärischen Zwecke hergestellt und nicht für den öffentlichen Nachrichtendienst freigegeben worden ist.
Art. 4
Auf dem Gebiet einer neutralen Macht dürfen zugunsten der Kriegführenden weder Korps von Kombattanten gebildet noch Werbestellen eröffnet werden.
Art. 5
Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiete keine der in den Artikeln 2–4 bezeichneten Handlungen dulden. Sie ist nur dann verpflichtet, Handlungen, die der Neutralität zuwiderlaufen, zu bestrafen, wenn diese Handlungen auf ihrem eigenen Gebiete begangen worden sind.
Art. 6
Eine neutrale Macht ist nicht dafür verantwortlich, dass Leute einzeln die Grenze überschreiten, um in den Dienst eines Kriegführenden zu treten.
Art. 7
Eine neutrale Macht ist nicht verpflichtet, die für Rechnung des einen oder des anderen Kriegführenden erfolgende Ausfuhr oder Durchfuhr von Waffen, Munition und überhaupt von allem, was für ein Heer oder eine Flotte nützlich sein kann, zu verhindern.
Art. 8
Eine neutrale Macht ist nicht verpflichtet, für Kriegführende die Benutzung von Telegrafen- oder Fernsprechleitungen sowie von Anlagen für drahtlose Telegrafie, gleichviel, ob sie ihr selbst oder Gesellschaften oder Privatpersonen gehören, zu untersagen oder zu beschränken.
Art. 9
Alle Beschränkungen oder Verbote, die von einer neutralen Macht in Ansehung der in den Artikeln 7 und 8 erwähnten Gegenstände angeordnet werden, sind von ihr auf die Kriegführenden gleichmässig anzuwenden. Die neutrale Macht hat darüber zu wachen, dass die gleiche Verpflichtung von den Gesellschaften oder Privatpersonen eingehalten wird, in deren Eigentum sich Telegrafen- oder Fernsprechleitungen oder Anlagen für drahtlose Telegrafie befinden.
Art. 10
Die Tatsache, dass eine neutrale Macht eine Verletzung ihrer Neutralität selbst mit Gewalt zurückweist, kann nicht als eine feindliche Handlung angesehen werden."
zitiert nach: Bundesrat – Das Portal der Schweizer Regierung https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19070029/191007110000/0.515.21.pdf
Neutralität und Außenpolitik
Für die Schweiz ist die Neutralität ein außenpolitisches Werkzeug, das sie an die jeweilige weltpolitische Lage anzupassen versucht. In der jüngeren Geschichte der schweizerischen Außenpolitik wurde stets diskutiert, welches außenpolitische Handeln, etwa auf den Gebieten der internationalen Sicherheitspolitik, noch mit dem schweizerischen Neutralitätsrecht vereinbar sei. Die Grenzen benennt das schweizerische Department für Verteidigung in einer seiner Publikationen in allgemeiner Hinsicht recht klar: So würden die Grenzen der eigenen Neutralität dann überschritten, "wenn der Neutrale durch sein Engagement eine Beistandsverpflichtung für den Kriegsfall eingeht."[1] Aus diesem Grund ist für die Schweiz eine NATO-Mitgliedschaft nicht möglich.Beispiele neutraler Außenpolitik
Die Schweiz legt ihre außenpolitische Rolle als neutraler Staat durchaus praktisch aus. Immer wieder leistet sie sogenannte "Gute Dienste", fungiert also als Schlichter oder als Mediator und interveniert diplomatisch oder humanitär, so etwa während des Koreakrieges zu Beginn der 1950er Jahre. Schweizerische Beobachter waren 1953 mit Zustimmung aller Kriegsparteien an die Waffenstillstandsgrenze in Korea gesandt worden.Während der Zeit des Kalten Krieges behielt die Schweiz ihren Kurs der integralen Neutralität bei: Sie trug keine internationalen Wirtschaftssanktionen mit und knüpfte Handelsbeziehungen über alle Blöcke hinweg.
Das änderte sich zu Beginn des Ersten Golfkriegs am Anfang der 1990er Jahre. Der schweizerische Bundesrat erklärte damals, es sei mit der Neutralität der Schweiz vereinbar, wenn diese die UN-Wirtschaftssanktionen gegenüber dem Irak unterstütze. Anders sah es bei der Bitte der Vereinten Nationen (UN) aus, den schweizerischen Luftraum auch zum Überflug zu militärischen Zwecken freizugeben. Dieses Überflugrecht verweigerte die Schweiz mit Hinweis auf ihre Neutralität. Die Entscheidung stieß international auf Kritik. Erst während des Bosnienkrieges im Jahr 1995 öffnete die Schweiz zum ersten Mal ihren Luftraum für militärische Überflüge einer UN-Friedensoperation. Seitdem ist dies der Normalfall.
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Neutrale und bündnisfreie Staaten in Europa
- Schweden (EU-Mitglied): seit 1855 neutral, versteht sich dabei als bündnisfreier Staat, keine NATO-Mitgliedschaft
- Finnland (EU-Mitglied): seit 1955 neutral, versteht sich ebenfalls als bündnisfrei, keine NATO-Mitgliedschaft
- Österreich (EU-Mitglied): seit 1955 neutral (nach dem Vorbild der Schweiz), versteht sich seit 2001 als bündnisfrei, NATO-Mitgliedschaft denkbar
- Irland (EU-Mitglied): seit 1938 neutral, keine NATO-Mitgliedschaft
- Schweiz (kein EU-Mitglied): seit 1815 neutral, keine NATO-Mitgliedschaft
- "Neutralität" in: Das junge Politik-Lexikon
- Arne Ruth: Mythen der Neutralität