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Demokratiestärkung durch Demokratiegeschichte? | 1848/49 | bpb.de

1848/49 Editorial 1848/49 und der Ort des Revolutionären in der deutschen Geschichte 1848/49. Ursachen, Entwicklung und Erbe einer europäischen Revolution Fragen an 1848/49. Ein Forschungsüberblick Frauen und die Revolution. 1848 als Frauenaufbruch Deutsche "Forty-Eighters" in den USA Demokratiestärkung durch Demokratiegeschichte? Beispiel 1848/49

Demokratiestärkung durch Demokratiegeschichte? Beispiel 1848/49

Michael Parak

/ 14 Minuten zu lesen

Die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte als Teil der historisch-politischen Bildung kann einen Beitrag dazu leisten, Handlungsspielräume zu erkennen und damit die Demokratie zu stärken. Dies zeigen auch Beispiele aus dem Kontext der Revolution von 1848/49.

Der Deutsche Bundestag hat am 9. Juni 2021 ein Gesetz zur Errichtung einer "Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte" beschlossen. Der Hauptauftrag ist natürlich die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte. Diese hat einen Eigenwert: Ereignisse, Orte und Personen, die für die Entwicklung der Demokratie wichtig waren, gehören in den "Erinnerungsspeicher" der Bundesrepublik. Das gilt etwa für das Revolutionsgeschehen von 1848/49, das sich 2023 zum 175. Mal jährt. Darüber hinaus ist es auch ein Stück gesellschaftlicher Teilhabe, über bestimmte Aspekte der Geschichte Bescheid zu wissen. Nur wer hier über ein gewisses Grundwissen verfügt, wird gesellschaftliche Debatten verstehen und sich in sie einbringen können.

Im Rahmenkonzept der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die Stiftung wird noch ein weiterer Gegenwartsbezug deutlich: die Stärkung der Demokratie durch die Auseinandersetzung mit Demokratiegeschichte. "[Es] stärkt (…) die Kräfte der Zivilgesellschaft und damit auch die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie, wenn wir die Chance nutzen, nicht nur am Ringen mit der Vergangenheit zu reifen, sondern auch im Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen zu wachsen und dies verstärkt öffentlich darzustellen. Die Erinnerung an demokratische Sternstunden und Hoffnungsträger, an Momente, in denen demokratische Werte den Sieg davontrugen, und an Menschen, deren Mut, Zuversicht und Weitsicht diesen Siegen den Weg ebneten, erlaubt uns, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden."

Im Folgenden soll vor dem Hintergrund des Jahrestages der Revolution von 1848/49 skizziert werden, an welchen Stellen historisch-politische Bildung mit dem Lerngegenstand Demokratiegeschichte das Geschichtsbewusstsein festigen und damit auch zur Stärkung der Demokratie in Deutschland beitragen kann. Denn Jubiläen sind ein guter Anlass, ein scheinbar bekanntes Thema neu zu befragen

Vorneweg sei bemerkt: Die oftmals in politischen Reden geäußerte Hoffnung, dass ein direkter Weg von geschichtlichem Wissen zu aktivem Handeln in der und für die Demokratie führen würde, kann in dieser Absolutheit nicht geteilt werden. Wohl aber erfüllt historisch-politische Bildung eine wichtige Funktion, die die Kultusministerkonferenz zusammenfasst: "Indem der Geschichtsunterricht vergangene Ereignisse und Strukturen aufzeigt und sie auf die Bedingungen ihres Werdens und Wirkens zurückführt, macht er modellhaft Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Handelns deutlich und verweist auch auf in der Vergangenheit nicht realisierte Handlungsalternativen. (…) Das Fach vermittelt so als anthropologisches Erfahrungsfeld Einsicht in die Bedingtheit menschlicher Existenz und fördert die Selbsterkenntnis der Schülerinnen und Schüler. Es stärkt die Fähigkeit zur Empathie, bietet die Möglichkeit zur Identifikation mit vorbildhaften Personen, vermittelt ebenso aber auch die Fähigkeit zur kritischen Distanz."

Demokratievorstellungen im Wandel

Der Historiker Paul Nolte beschreibt Demokratie als Rahmen für die Regelung der Herrschaft des Volkes und arbeitet dabei einen "Kernbestand" heraus, macht zugleich aber auch deutlich, dass sich die Vorstellungen von Demokratie in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten jeweils gewandelt haben: "Die Ideen und Grundprinzipien gleicher Freiheit, freier Regierung und freier Lebensführung haben sich als erstaunlich dauerhaft erwiesen, über allen gesellschaftlichen Wandel hinweg, und in sehr unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Trotzdem muss man sich hüten, darin so etwas wie anthropologische Universalien, also Grundbedingungen der menschlichen Existenz überhaupt, zu sehen."

Der diachrone Blick in die Demokratiegeschichte sowie der synchrone Vergleich unterschiedlicher aktueller Demokratievorstellungen in verschiedenen Ländern zeigen, dass es "die Demokratie" nicht gibt, sondern ein breites Spektrum legitimer Lesarten von Demokratie.

Es kann durchaus produktiv sein, sich die Veränderbarkeit von Demokratievorstellungen stärker ins Bewusstsein zu rufen. Ging es 1848/49 um das erste deutsche Parlament auf nationaler Ebene, hat sich heute das Verständnis hin zu einer "vielfältigen Demokratie" weiterentwickelt. Dazu werden nicht nur Entscheidungen im politischen System, sondern auch unterschiedliche demokratische Beteiligungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen gezählt: Formen der repräsentativen Demokratie und ihrer Institutionen; direktdemokratische Formen; dialogorientierte, deliberative Beteiligungsformen; Proteste, Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen; bürgerschaftliches Engagement. Aktuell werden darüber hinaus Fragen von Repräsentativität diskutiert, insbesondere die Forderung, "marginalisierte Gruppen durch Proporz oder Quoten an gesellschaftlichen und politischen Machtpositionen zu beteiligen und in die demokratische Interessensartikulation und Entscheidungsfindung einzubeziehen".

Demokratiegeschichte hilft zu verstehen, dass sich Vorstellungen von Demokratie in den jeweiligen zeitlichen Kontexten immer wieder verändert haben. Das Wissen um das Vorhandensein eines Grundstocks an freiheitlich-demokratischen Gemeinsamkeiten kann eine klare Abgrenzung zu jenen erleichtern, die dagegen ankämpfen, dass Menschen- und Bürgerrechte für alle gelten. So gibt es Rechtspopulisten und -extremisten, die die "Herrschaft des Volkes" in ihrem Denken und Handeln an einen ethnisch definierten Volksbegriff binden.

Zugleich kann das Bewusstsein, dass es in der Vergangenheit unterschiedliche, zeitgebundene Verständnisse von Demokratie gab, dabei helfen, mit unterschiedlichen Auffassungen von Demokratie in der Gegenwart umzugehen. Der Verfassungsrahmen der Bundesrepublik ermöglicht, dass die unterschiedlichsten Ideen um gesellschaftliche Akzeptanz werben können, sofern sie Minimalbedingungen des demokratischen Verfassungsstaats akzeptieren. Hierzu gehören etwa Gewaltenteilung und Individualität, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Volkssouveränität.

Die Auseinandersetzung mit Demokratiegeschichte setzt Fragezeichen hinter Absolutheitsansprüche einzelner Demokratievorstellungen. Sie macht deutlich, dass Demokratie immer in Entwicklung begriffen ist. Zwar können Kernelemente in einer Verfassung, die Ergebnis eines demokratischen Prozesses ist, fixiert werden. Die Auslegung und Weiterentwicklung in der Praxis sind aber veränderbar. Demokratie zu leben, bedeutet stets, dass um politische Vorstellungen und Konzepte gerungen wird. Dieses Ringen können diejenigen konstruktiver angehen, die ihr demokratisches Selbstverständnis und dessen historische Wurzeln reflektiert haben – auch in der Auseinandersetzung mit anderen politischen Auffassungen.

Kontextbewusstsein

Bei den vielen gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen rückt schnell in den Hintergrund, dass das Eintreten für demokratische Werte weltweit unter anderen Rahmenbedingungen erfolgt. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob Demokratinnen und Demokraten sich in einem System für ihre Werte engagieren, das Grundrechte und politische Partizipation garantiert, oder in einer Gesellschaftsordnung, die auf diejenigen, die für demokratische Werte eintreten, mit Zwangsmaßnahmen antwortet. Demokratiegeschichte besteht zu großen Teilen aus dem Kampf von Demokratinnen und Demokraten gegen äußere Widerstände. Zugleich erzählt sie aber auch davon, wie Demokratie etabliert, in einem Rechtsstaat gelebt und weiterentwickelt werden kann. Die Auseinandersetzung mit Demokratiegeschichte kann entsprechend dabei helfen, sich unterschiedlicher Phasen der Demokratieentwicklung bewusst zu werden.

Demokratie erkämpfen

Demokratie ist nicht einfach da. Sie muss(te) erkämpft und etabliert werden. Die Idee der Volksherrschaft motiviert Menschen, sich für gleiche politische Rechte einzusetzen. Der Kampf für Demokratie in einer Autokratie oder Diktatur birgt viele Gefahren, weil er ein Kampf gegen Systeme ist, die nicht nur Freiheiten nicht garantieren, sondern auch diejenigen als Feinde markieren, die für Freiheiten eintreten. Der historische Prozess des Erkämpfens unserer Demokratie ist keineswegs eine lineare Erfolgsgeschichte. Vielmehr gibt es viele historische Momente, die von Rückschlägen und Scheitern geprägt sind – die aber ebenso Teil unserer Demokratiegeschichte sind.

Demokratie etablieren

Nach dem Überwinden eines autoritären Systems oder einer Diktatur geht es darum, eine Demokratie aufzubauen. Der Kampf gegen Unrechtsstaaten ist das Eine – der Aufbau von etwas Neuem, der Demokratie, das Andere. Eine demokratische Verfassung oder freie Wahlen schaffen die institutionellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer im Kleinen die unterschiedlichsten Dinge neu geregelt werden müssen. Eine Demokratie aufzubauen, ist nichts Einfaches, zumal Menschen den Übergang gestalten müssen, denen die praktische Erfahrung fehlt: Sie sind teils selbst in Autokratien oder Diktaturen aufgewachsen – oder sie kommen aus dem Exil oder einem anderen Land.

Demokratie gestalten, leben und weiterentwickeln

Die Rahmenbedingungen in einer Demokratie unterscheiden sich fundamental von denen in einem autoritären Regime oder in einer Diktatur. In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gibt es elementare Prinzipien und Mechanismen, die das Zusammenleben regeln. Die Verfassungsnorm bedeutet aber nicht, dass all diese Prinzipien in Reinform verwirklicht werden. "Demokratie weiterentwickeln" bedeutet deshalb, sich nicht auf dem Ist-Zustand auszuruhen, sondern das freiheitlich-demokratische System an veränderte Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Ansprüche anzupassen.

Demokratie verteidigen (und verlieren)

Dass die Staatsform Demokratie auf ewig Bestand hat und fortgeführt wird, ist kein Naturgesetz. Demokratie kann auch verloren gehen. Der demokratiegeschichtliche Blick auf Abwehrkampf und Verlust hält unterschiedliche Szenarien bereit: Der Kampf kann gelingen – Demokratien können aber auch untergehen.

Legt man diese verschiedenen Phasen der Demokratieentwicklung zugrunde, wird klar, dass eine einfache Übertragung des früheren Kampfes gegen Autokratien oder Diktaturen auf die heutigen Verhältnisse wohl kaum als direkter Beitrag zur Demokratiestärkung taugt. Umgangssprachlich reden wir auch heute oft vom "Kampf für die Demokratie". Doch dieses – wenn auch anstrengende – Engagement findet in Deutschland und anderen freiheitlichen Ländern in einem demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat statt, also unter fundamental anderen Rahmenbedingungen und mit weniger dramatischen persönlichen Konsequenzen als in einer Diktatur.

Überspitzt gesagt, lernen wir aus der Auseinandersetzung mit 1848/49 nicht, wie wir uns in der heutigen Demokratie verhalten können und sollen, denn dafür sind die Zeitkontexte zu unterschiedlich. In der Bundesrepublik erfolgt demokratisches Engagement in all seiner Unterschiedlichkeit im Rahmen eines Staates, der Grundrechte garantiert und schützt.

Die deutsche Revolution von 1848/49 ist hingegen in der Phase "Demokratie erkämpfen" der Demokratieentwicklung zu verorten. Die Beschäftigung mit dieser Zeit kann das Bewusstsein fördern, dass eine demokratische Verfassung und demokratische Teilhabe erst erkämpft werden müssen und dass dabei die Gefahr von Rückschlägen und Scheitern besteht. Denn der "Völkerfrühling" von 1848/49 erreichte seine demokratischen Ziele nicht in Gänze. So steht diese Revolution auch für die Phase "Demokratie etablieren" – in ihrem Scheitern.

Auch aus der jüngeren Zeit gibt es hierfür Beispiele. So gelang es beim "Arabischen Frühling" 2011 letztlich nur in den wenigsten Fällen, Demokratien zu etablieren. In anderen Ländern verschlechterte sich die Lage für die Bürgerinnen und Bürger hingegen sogar weiter, bis hin zu einem Bürgerkrieg in Syrien mit bislang Hunderttausenden Toten. Deutlich wird dadurch nicht nur, wie schwer es ist, eine Revolution durchzuführen, sondern auch, wie schwierig es ist, eine Demokratie aufzubauen. Auch hier hilft Demokratiegeschichte beim Verständnis internationaler Entwicklungen in der Gegenwart.

Ferner kann die Beschäftigung mit der Geschichte von 1848/49 einen Beitrag zum Zusammenleben in der heutigen Migrationsgesellschaft leisten: Über die Erinnerung an Menschen, die für Demokratie eingetreten sind, ergeben sich Anknüpfungspunkte an Länder, die in der Vergangenheit oder Gegenwart nicht demokratisch verfasst waren, beziehungsweise es auch heute nicht sind, und damit auch an die Migrationsgeschichten von Menschen, die aus diesen Ländern kommen. Die Erinnerung an 1848/49 kann den Respekt vor dem Verhalten anderer Menschen in schwierigen Kontexten fördern. Sie sorgt möglicherweise für mehr Offenheit gegenüber den Lebensgeschichten von Menschen, die oder deren Familien aus autoritären Regimen oder Diktaturen nach Deutschland gelangt sind. Und vielleicht führt sie auch zu einer gewissen Zufriedenheit und/oder Demut angesichts der politischen Rahmenbedingungen, die heute in Deutschland im Vergleich zur Vergangenheit oder zu anderen Ländern vorherrschen.

Ausweitung politischer Teilhabe

Demokratie bedeutet "Herrschaft des Volkes", die wesentlich in Form regelmäßig stattfindender Wahlen ausgeübt wird. Der Blick auf die Geschichte und Entwicklung von Demokratie zeigt, dass sich die Vorstellung darüber wandelt, wer eigentlich unter dem Begriff des "Volkes" subsumiert wird. Demokratiegeschichte ist auch die Geschichte von Versuchen und Kämpfen, das Wahlrecht für breitere Bevölkerungsgruppen zu erlangen.

Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 war für die damalige Zeit etwas Außergewöhnliches, beruhte sie doch auf dem freien und gleichen Wahlrecht (fast) aller Männer. Sie ist damit ein früher Meilenstein der deutschen Demokratiegeschichte. Zugleich blieb auch in der Folgezeit der Anteil der Wahlberechtigten an der Gesamtbevölkerung in Deutschland gering. Erst die Etablierung der Weimarer Republik brachte einen entscheidenden Durchbruch: Die Einführung des Frauenwahlrechts 1919 machte das Wahlrecht "allgemein". Nunmehr konnten sich 58,5 Prozent der deutschen Bevölkerung an den Reichstagswahlen beteiligen, statt 21,5 Prozent (1912). Zwar sind heute immer mehr Menschen im Besitz des Wahlrechts: Bei den Bundestagswahlen 2021 konnten 61,2 Millionen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgeben. Trotzdem dürfen nicht alle in Deutschland lebenden Menschen auf nationaler Ebene wählen. Wahlberechtigt sind in der Bundesrepublik aktuell Menschen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, das entspricht aktuell 73,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Doch die Zusammensetzung der Bevölkerung ändert sich, und immer mehr Menschen sind vom Wahlrecht ausgeschlossen, da sie keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen: 1925 waren nur 1,5 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen davon betroffen, 1998 jedoch 8,6 und 2021 13,1 Prozent.

Die Auseinandersetzung mit Demokratiegeschichte akzentuiert die Perspektive der Wahlrechtsausweitung, die erkämpft und weiterentwickelt wurde. Zugleich zeigt sie auch die Langwierigkeit von Veränderungsprozessen: Vom Wahlrecht 1848/49 hin zu den heutigen Regelungen war es ein weiter Weg. Sich wichtiger Etappen bewusst zu werden, heißt, nicht zu verdrängen, dass noch nicht alle Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt wahlberechtigt waren, aber anzuerkennen, dass es sich um bedeutende (Zwischen-)Schritte handelte.

Demokratiegeschichte macht greifbar, dass die Ausgestaltung des "allgemeinen Wahlrechts" kein Naturgesetz ist, sondern Gegenstand von Aushandlungsprozessen, durch die es gelingen kann, mehr Menschen politische Rechte zu ermöglichen als in der Vergangenheit. Sie vermittelt ein Bewusstsein dafür, dass Regelungen in demokratischen Prozessen verändert werden können und gesellschaftliche Veränderungen dabei neue Anforderungen an das politische System stellen und Weiterentwicklungen erforderlich machen.

Handlungsoptionen und Veränderungsmöglichkeiten

Die Auseinandersetzung mit Geschichte zeigt: Veränderung ist möglich, sowohl im Guten wie im Schlechten. Hierbei kann das konkrete Handeln von Individuen den entscheidenden Unterschied machen. Demokratiegeschichte veranschaulicht einen großen Fundus von Handlungen für die Demokratie, die in der Vergangenheit zum Einsatz kamen.

Lohnenswert ist, sich stärker der Frage zu widmen, welche Verhaltensweisen in einer Demokratie überhaupt als wünschenswert oder gar als vorbildlich angesehen werden. Dies geschieht oftmals nicht, weil es eine gewisse Scheu gibt, dass dies zu einer normativen Verengung und Reglementierung führen könnte. Gleichzeitig wird historisch-politische Bildung nicht an dieser Frage vorbeikommen. Natürlich kann aus der Demokratiegeschichte kein abschließender Kriterienkatalog für wünschenswertes Verhalten in einer und für die Demokratie abgeleitet werden. Wohl aber kann sie anregen, darüber nachzudenken, welche unterschiedlichen und vielfältigen Verhaltensweisen in der Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform förderlich sein können.

Ein entsprechender Versuch wird in der Publikation "Vorbilder der Demokratiegeschichte" unternommen. Hier werden für die Phase "Demokratie erkämpfen" unter anderem zwei beispielhafte Handlungen des Demokraten und Publizisten Robert Blum (1807–1848) während der Revolution von 1848/49 vorgestellt.

Zum einen wird der 18. September 1848 beschrieben, als es in Frankfurt am Main nach der Billigung des Waffenstillstands im preußisch-dänischen Krieg durch die Mehrheit der Paulskirchenabgeordneten zu einem Aufstand gegen das Parlament kam und beide Seiten bereit waren, der Gewalt freien Lauf zu lassen. Robert Blum blieb in dieser Situation dem Parlamentarismus und der friedlichen Debatte treu und warf sein politisches Gewicht als Abgeordneter in die Waagschale, um aufgebrachte Bürger zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass Gewalt nicht der richtige Weg sei. Hier stand Blum wie auch bei anderen Gelegenheiten im Laufe seiner politischen Karriere für die Suche nach einem Kompromiss. Sein damaliges Verhalten kann auch eine Orientierung für die Gegenwart geben: "Einen Ausgleich zwischen verschiedenen politischen Meinungen zu finden, ist in einer Demokratie die Regel, da sich in den seltensten Fällen eine absolute Mehrheit hinter einer ganz bestimmten Meinung versammelt. Derartige Kompromisse zu finden, ist aber häufig langwierig und kräftezehrend (…) Sich im Gespräch die Argumente der Gegenseite anzuhören und mit Worten für die eigene Meinung zu werben, ist anstrengend."

Zum anderen wird dargestellt, wie Robert Blum Ende Oktober 1848 in den Straßen Wiens selbst militärisch Widerstand gegen Angriffe habsburgischer Soldaten leistete. Er hatte realisieren müssen, dass die Gegner der Revolution nicht daran interessiert waren, sich mit den Revolutionären und ihren Forderungen auseinanderzusetzen. Die Gegenrevolution setzte auf die umfassende Niederschlagung der Bewegung durch das Militär. Auch hierzu gibt es Gegenwartsbezüge. Es ist schwierig bis unmöglich, mit jemandem zu verhandeln und nach einer Lösung zu suchen, der nicht bereit ist, auch nur die kleinste Menge an Macht abzugeben: "Überzeugte Feinde der Demokratie aber werden die ihnen entgegengestreckte Hand immer und immer wieder wegschlagen. Für sie gilt einzig und allein das Prinzip 'Alles oder nichts'."

Schon anhand dieser beiden Beispiele wird deutlich, dass die Handlungsoptionen vielfältig sind – und durchaus auch gegensätzlich. So gibt es auf der einen Seite Beispiele von Kompromissbereitschaft, auf der anderen Seite aber auch Fälle, in denen die eigene Überzeugung mit Rigidität gegen äußere Widerstände durchgesetzt wurde. Besonderes Verhalten in einer und für die Demokratie ist eben immer auch situations-, zeit- und kontextabhängig. Es gibt nicht "die" Verhaltensweise als Patentrezept, das immer und in allen Fällen greifen kann. Vielmehr gibt es ein sehr vielfältiges, breites und teils widersprüchliches Spektrum an Aktionsmöglichkeiten, die in unterschiedlichen Kontexten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.

Auf die Frage, welche Herangehensweise die Demokratie heute am besten stärken würde, kann Demokratiegeschichte leider keine Antwort geben. Denn die Eins-zu-eins-Übernahme von Vorangegangenem scheint kaum geeignet, eine Lösung für Gegenwärtiges zu bieten. Demokratiegeschichte kann aber beim Abwägen und Bedenken helfen.

Demokratie ist anstrengend. Auf die Frage, woher wir Kraft und Ansporn dafür erhalten, uns zu engagieren, kann eine Antwort lauten: aus dem Wissen, dass Einzelne etwas bewegen können. Viele Beispiele aus der Demokratiegeschichte zeigen das breite Spektrum von Handlungsoptionen und Veränderungsmöglichkeiten in einer Demokratie auf. Und natürlich können und müssen auch weitere, neue Aktionsformen hinzukommen, die es in der Vergangenheit noch nicht gab.

Die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte als Teil der historisch-politischen Bildung kann einen Beitrag dazu leisten, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden. Sie kann dabei helfen, dass Bürgerinnen und Bürger sich für eine Stärkung der Demokratie in Deutschland einbringen – im Bewusstsein, dass demokratische Werte in der Vergangenheit erkämpft werden mussten und auch heute keine Selbstverständlichkeit sind; mit der Zuversicht, dass demokratische Entwicklung gelingen kann; und als Ansporn, Demokratie zu leben, weiterzuentwickeln und, wenn notwendig, auch zu verteidigen.

In diesem Sinne agiert auch die Arbeitsgemeinschaft "Orte der Demokratiegeschichte", in der sich mittlerweile mehr als 94 Orte und Einrichtungen, die sich um das Thema Demokratiegeschichte bemühen, mit dem Ziel zusammengeschlossen haben, "Demokratie zu stärken durch die Auseinandersetzung mit der Demokratie- und Freiheitsgeschichte. Dies soll lokal, regional, auf Ebene der Länder, wie auch bundesweit, europäisch und international geschehen. Die Erinnerungsarbeit zu den vielfältigen demokratischen Traditionen ermöglicht jeder und jedem, unabhängig von der Herkunft, eine bessere Orientierung in unserer Gesellschaft."

ist promovierter Historiker und Geschäftsführer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.
E-Mail Link: info@gegen-vergessen.de