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"Der Horizont reicht meist nur bis zum nächsten Wahltag." Ein Gespräch | Megatrends? | bpb.de

Megatrends? Editorial "Der Horizont reicht meist nur bis zum nächsten Wahltag." Ein Gespräch Industrie 4.0 und die Digitalisierung der Produktion – Hype oder Megatrend? Klimapolitik am Scheideweg Zukunft der Mobilität: An der Dekarbonisierung kommt niemand vorbei Das Schrumpfen akzeptieren: Europas Städte im demografischen Wandel Von den Schwierigkeiten des Regierens in Zeiten der Globalisierung Mode, Hype, Megatrend? Vom Nutzen wissenschaftlicher Zukunftsforschung

"Der Horizont reicht meist nur bis zum nächsten Wahltag." Ein Gespräch

John Naisbitt

/ 8 Minuten zu lesen

John Naisbitt machte 1982 das Konzept der "Megatrends" bekannt. Im Interview erläutert er, wie er darauf kam, was es aus seiner Sicht bis heute geleistet hat und wo er sich irrte.

Herr Naisbitt, Sie werden häufig als "Vater" des Megatrends-Konzeptes zitiert. Ihr Buch "Megatrends" von 1982 ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und machte das Konzept – genauso wie den Begriff "Globalisierung" – weltweit bekannt. Können Sie darlegen, welche Entwicklungen Sie damals dazu veranlassten, von "Megatrends" zu sprechen, statt einfach von "Trends"? Und gab es eventuell eine bestimmte Begebenheit, die wie eine Initialzündung wirkte?

Der Begriff "Trend" war und ist vor allem ein Teil unserer täglichen, deskriptiven Sprache. Aber die Entwicklungen, über die ich schrieb, waren nicht nur einfache Trends. Es handelte sich um ganz neue Richtungen, die unser Leben verändern würden, im Gegensatz zu vielen neuen Trends, die diese großen Entwicklungen unterstützten. Es gab also den Bedarf für ein überspannendes Konzept – was zu dem führte, was ich "Megatrends" nannte.

Es gab tatsächlich so etwas wie einen auslösenden Funken, der mich dazu inspirierte, das Buch "Megatrends" zu schreiben. Ich kaufte gerade eine Ausgabe der "Seattle Times" an einem etwas abgelegenen Kiosk in Chicago. Als ich da so stand und auf mein Wechselgeld wartete, wanderte mein Blick über die verschiedenen Schlagzeilen der vielen lokalen Blätter aus ganz Amerika, die dort verkauft wurden. Beim Anblick der diversen Artikel wurde mir plötzlich bewusst, dass man ganz neue Entwicklungsmuster des Landes erkennen könnte, wenn man all diese lokalen Zeitungen jeden Tag gleichzeitig lesen würde. Man könnte wirklich verstehen, was in den Vereinigten Staaten los ist. Das war der Schlüssel.

Was war der damalige Megatrend in den USA, den Sie in den vielen Schlagzeilen erkannten?

Die zwei wichtigsten Megatrends, die sich offenbarten, waren im Grunde: der Wandel von einer Industriegesellschaft zu einer Informations- beziehungsweise Wissensgesellschaft sowie von einer nationalen zu einer globalen Ökonomie. Heute, dreißig Jahre später, halten diese Veränderungen noch immer an.

Haben Sie damit gerechnet, dass das Konzept so einflussreich werden würde? Oder haben Sie – angesichts seiner raschen Bekanntheit – erwartet, dass es noch größeren Einfluss entfalten könnte im Sinne konkreter politischer Maßnahmen? Immerhin waren Sie Berater mehrerer US-Präsidenten.

Nein, nicht im Entferntesten habe ich daran gedacht. Megatrends schienen mir einfach ein nützliches Konzept zu sein, um das, worüber ich schrieb, zu erklären. Der Begriff ist meine Wortschöpfung, und ich habe mir keine Gedanken über seine mögliche Akzeptanz oder Bekanntheit gemacht. Er half mir schlicht, meine Gedanken zu ordnen und gewaltige, grundsätzliche Entwicklungen von gewöhnlichen Trends oder Modeerscheinungen zu unterscheiden.

Megatrends zeichnen ein Bild zukünftiger Entwicklungen. Also können sie als Wegweiser für langfristige strategische Planungen dienen. Aber im alltäglichen politischen Geschäft reicht der Horizont meist nur bis zum nächsten Wahltag. Denken Sie nur an das im Jahr 2000 von der Europäischen Union verkündete hehre Ziel, bis 2010 "zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt" zu werden, und wie sich dieses in Luft auflöste, als sich zeigte, dass die dafür notwendigen Reformen den nationalen parteipolitischen Erwägungen nicht entsprechen würden.

Dass Sie die Europäische Union nennen, ist sicher kein Zufall. Welche Regionen haben es bislang besser gemacht als Europa? Haben Ihrer Meinung nach also solche Länder einen Vorteil, auf Megatrends angemessen zu reagieren, in denen es keine Wahltage gibt?

Die europäischen Staatschefs müssen die Lücke zwischen nationalen Interessen und Interessen der EU überbrücken. Zudem denken und agieren politische Parteien mit Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Wählerschaft zu einem großen Teil in Wahlzyklen. Es mangelt an politischer Führung, um die grenzüberschreitenden Fragen tatsächlich anzugehen; dafür gibt es ein Übermaß an Egozentrik bei den Wählerinnen und Wählern. Aber wer seine Wahlentscheidungen mit Blick auf kurzfristige persönliche Vorteile trifft, riskiert langfristig Schäden. Wenn Sie sich dagegen Singapur und China anschauen: Dort lag das Rezept für wirtschaftlichen Fortschritt in strategischer Top-down-Planung. Zwar gab es Fehler und Rückschläge, aber die Richtung war festgelegt und wurde gehalten.

Wie ließe sich eine wirkungsvolle global governance etablieren, ohne auf demokratische Standards zu verzichten?

Bevor wir darüber reden können, wie demokratisch global governance sein kann und sein sollte, müssen wir darüber reden, wie sich Bürgerinnen und Bürger an der Debatte beteiligen lassen. Ohne die Unterstützung der Bevölkerung ist es sehr wahrscheinlich, dass Reformen scheitern. Wenn heute auf Konferenzen über globale Fragen verhandelt wird, sind fast zweihundert Länder involviert. Die Komplexität hat ebenso dramatisch zugenommen wie die internationale Vernetzung. Aber weder national noch global gibt es wirkliche Debatten über die Herausforderungen, denen die internationalen Institutionen gegenüberstehen.

Außerdem sind die Strukturen, in denen wir an Lösungen für die Zukunft arbeiten, veraltet. Das macht es unmöglich, Probleme effektiv und proaktiv anzupacken. Regierungen reagieren auf lokale Ereignisse und verlieren dabei häufig das große Ganze aus dem Blick. Wie lassen sich die Bevölkerungen mächtiger Industrieländer davon überzeugen, dass es im Interesse der Weltgemeinschaft notwendig ist, Schritte zu gehen, die als Schritte gegen die eigenen Interessen wahrgenommen werden?

Aber nicht alle Probleme erfordern bei der Suche nach einer Lösung die Beteiligung aller Länder. In manchen Fällen sind Länder, die ein Problem verursachen, von dem Problem selbst gar nicht am stärksten betroffen. Die globalen Institutionen müssen die vielen Interessen ausbalancieren, um eine gemeinsame Basis für einen Entscheidungsprozess zu legen, der allen zugutekommt. Ohne die politische Bildung von Bürgerinnen und Bürgern werden nationale, parteipolitische und persönliche Eigeninteressen bestimmend bleiben.

Wo, glauben Sie, hat das Konzept der Megatrends am meisten genützt, wo war es möglicherweise weniger hilfreich?

Die westliche Welt begann damals, sich von einer industriellen zu einer Informationsgesellschaft zu wandeln. Die Identifizierung dieses Megatrends war sehr hilfreich, um den damit verbundenen Konsequenzen und dramatischen Veränderungen zu begegnen, insbesondere in Europa und den USA. Es half den Menschen auch, Karriere- und Geschäftsentscheidungen zu treffen. Je näher eine Entwicklung dem eigenen Leben und der eigenen Zukunft ist, desto mehr Aufmerksamkeit wird ihr zuteil. Das liegt im Auge des Betrachters.

Lagen Sie denn niemals daneben?

Teilweise, etwa in "Megatrends for Women", habe ich erwartet, dass bestimmte Entwicklungen in Richtung gesellschaftlicher Gleichberechtigung der Geschlechter rascher vonstattengehen würden als es dann tatsächlich der Fall war. Der prognostizierte zeitliche Rahmen war einfach zu eng. 1997, während der Finanzkrise in Asien, schrieben einige Kommentatoren, dass ich mit dem Aufstieg Asiens falsch gelegen habe. Aber letztlich war die Krise nur ein kleines Schlagloch auf dem Weg nach oben und änderte nichts am Megatrend insgesamt.

Der Begriff "Megatrend" gehört inzwischen zur Alltagssprache und wird genutzt, um alle möglichen Entwicklungen als wichtig und bedeutend zu labeln. Helfen Sie uns, einen klaren Blick zu bewahren: Was macht aus einem Trend einen Megatrend – und welche aktuellen "Megatrends" halten Sie für überschätzt?

Trends werden nicht zu Megatrends, so wie aus Babys Erwachsene werden. Megatrends sind gewaltige Verschiebungen, die unsere Gesellschaften wirklich verändern. Natürlich bemerke ich die inflationäre Verwendung des Begriffs. Seit der Buchveröffentlichung 1982 war die Standardfrage in jedem Interview, was der nächste Megatrend sein würde. Aber die meisten Dinge, die heute "Megatrend" genannt werden, sind nur Modeerscheinungen, die kommen und wieder gehen.

Was regelmäßig überschätzt wird, sind Details technischer Entwicklungen. Ob ich meinen Kühlschrank oder meine Heizung über mein Telefon oder von meinem Auto aus regeln kann, ist doch nicht wirklich wichtig. Anders sieht es jedoch aus, wenn ganze Produktionsprozesse auf cyber-physischen Systemen basieren, Stichwort "Industrie 4.0". Die Entwicklung in diese Richtung hat das Potenzial, unsere Wirtschaft so grundlegend zu verändern wie die erste industrielle Revolution.

Viele Menschen beobachten die Entwicklung und rasche Verbreitung dieser smarten digitalen Technologien durchaus auch skeptisch und sorgen sich vor dem Verlust von Autonomie und Selbstbestimmung. Wo würden Sie sich einordnen beziehungsweise an was denken Sie mehr im Zusammenhang mit der umfassenden Digitalisierung: an die Gefahren oder an die Chancen?

Die Sorge ist nicht neu. Ich habe sie im zweiten Kapitel von "Megatrends" thematisiert, als ich über die Notwendigkeit schrieb, high-tech und high-touch – unsere Menschlichkeit im Verhältnis zur Technologie – auszubalancieren. Sowohl im großen als auch im kleinen Maßstab bleibt die Frage nach wie vor bestehen: Steuern wir die Technologie oder steuert die Technologie uns?

Das Internet hat große Auswirkungen auf Arbeit und Wachstum in aufstrebenden Wirtschaftsräumen. Die Digitalisierung ist auf vielen Gebieten zu einem Treiber des Fortschritts geworden: im Handel, im Banken- und Finanzwesen, im Dienstleistungsbereich und auch in der Bildung. Zugleich haben die Internettechnologien Märkte verändert und Geschäftsmodelle zerstört. Der Zugang und Gebrauch des Internets wirken sich direkt auf die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung eines Landes aus. Aber die Erfahrung der Vergangenheit lehrt, dass Technologie so zerstörerisch wie kreativ sein kann. Die Entscheidung liegt bei uns.

Auch wenn es die Standardfrage ist: Welche drei Megatrends halten Sie für die wichtigsten in der näheren Zukunft? Und was würden Sie vorschlagen, wie ihnen zu begegnen ist?

Wir, also meine Frau und Ko-Autorin Doris und ich, haben gerade ein Buch abgeschlossen, das die Antwort darauf gibt. In Deutschland wird es im Januar 2016 erscheinen. Es geht darin um den wichtigsten aller gegenwärtigen Megatrends: den Wandel von einer westlich zentrierten zu einer multizentrischen Welt, was die Gründe dafür sind und was die Auswirkungen sein werden.

Führen Sie doch bitte für unsere Leserinnen und Leser schon vorab kurz aus, inwiefern dieser Megatrend die anderen Megatrends an Bedeutung überragt. Und ganz knapp: Sind wir auf diesen Wandel vorbereitet?

In den zurückliegenden Jahrzehnten haben die USA in den internationalen Beziehungen die dominante Rolle gespielt – und die Effizienz und Entschlossenheit Chinas, langfristige Ziele zu erreichen, unterschätzt. Seine wirtschaftliche Durchschlagskraft hat China gerade erst wieder durch drei mindestens 190 Milliarden US-Dollar schwere Maßnahmen unter Beweis gestellt: die Gründung der multilateralen Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), die Bereitstellung der Mittel zur Wiederbelebung alter Handelswege ("neue Seidenstraße") sowie die Beteiligung an der neuen Entwicklungsbank der BRICS-Staaten.

Diese neuen Bausteine und die wahrscheinliche Integration des Renminbi in die Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds, oder einfacher ausgedrückt in den Korb der Leitwährungen, sowie seine Allianzen mit afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern sind alles Teile einer Entwicklung hin zu einer von China angeführten Weltwirtschaftsarchitektur.

Sind wir vorbereitet? Ja und nein. Deutschland ist eines der Gründungsmitglieder der AIIB, und deutsche Unternehmen haben sich gut positioniert. Aber das allgemeine Bewusstsein für einen global game change – für sich wandelnde und neue Handelswege, für die neue Gestalt von Konsumgüterindustrien, für die Bedürfnisse entstehender Märkte sowie für die Risiken und Möglichkeiten – ist nach wie vor gering. Denken Sie nur daran: Es gibt Schätzungen, die davon ausgehen, dass Tianjin – die Stadt, von der aus wir einen Großteil unserer Forschungen über China angestellt haben – bis 2025 die gleiche Wirtschaftskraft wie Schweden haben wird. Der Anteil der aufstrebenden Länder an der globalen Wirtschaftsleistung wird bis dahin fünfzig Prozent erreicht haben.

Alles in allem ist der Wandel von einer westlich zentrierten zu einer multizentrischen Welt die Gelegenheit, auf einer höheren Ebene neu zusammenzufinden und in der Weltgemeinschaft zu einer neuen Balance zu kommen.

Geb. 1929; Politikwissenschaftler und Zukunftsforscher; Vorsitzender des Naisbitt China Institute, Tianjin/China; u.a. Autor von "Megatrends" (1982); lebt in Wien. E-Mail Link: john@naisbitt.com