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Mittelosteuropa Editorial Ein Samtener Vorhang vor der Osterweiterung? Zur Zukunft der EU angesichts der bevorstehenden Erweiterung Systemtransformation in Ostmitteleuropa:Eine erste Erfolgsbilanz Die Ökonomie Mittelosteuropas in der Transformation Kultur als Brücke zwischen Deutschland und seinen Nachbarn in Mittel- und Osteuropa

Systemtransformation in Ostmitteleuropa:Eine erste Erfolgsbilanz

Kai-Olaf Lang

/ 22 Minuten zu lesen

Mehr als eine Dekade nach dem Systemwechsel im früheren sowjetischen Herrschaftsbereich repräsentieren die Länder Ostmitteleuropas die Avantgarde der Systemtransformation. In allen Bereichen wurden beachtliche Fortschritte erzielt.

Erfolgsmodell Ostmitteleuropa

Die Gesamtschau des Transformationsgeschehens in Ostmitteleuropa muss jeden Beobachter in Erstaunen versetzen. Ein gutes Jahrzehnt nach dem annus mirabilis 1989 befinden sich die unmittelbaren Nachbarn der EU, also die Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) und Slowenien, in überraschend guter Verfassung: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und freier Wettbewerb scheinen in der Region einen beeindruckenden Siegeszug angetreten zu haben.

Ein kurzer Blick auf die vorrangigen "Rekonstruktionsaufgaben" , die bei der Umformung der ehemals monozentristisch-staatssozialistisch verfassten Gesellschaftsordnungen zu bewerkstelligen sind, gibt einen Eindruck vom Zustand, in dem sich die postkommunistischen ,Baustellen' mehr als eine Dekade nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft befinden. Mit Frances Millard können fünf fundamentale Aufgaben und somit Dimensionen der Transformation unterschieden werden, die zur Etablierung einer nicht nur "prozeduralen", sondern auch "substantiellen" Etablierung von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft erforderlich sind :

1. In allen Ländern der Region wurden Institutionen geschaffen, die eine formelle Basis für Pluralismus, für einen demokratischen Rechtsstaat sowie für Minderheitenschutz liefern. Neue Verfassungen, Wahl- und Parteiengesetze brachten überall gewaltenteilig organisierte politische Systeme und kompetitive Parteiensysteme hervor, machten freie Wahlen möglich. Allein in der Slowakei kam es zu Stockungen im Prozess der Demokratisierung. Mit Vladimír Meciar betrat eine charismatische Führungsfigur die politische Arena, die mit einer Kombination aus Konfrontation und Brachialgewalt ein semiautoritäres Regime mit ausgeprägten klientelistischen Zügen - einen slowakischen "Gulaschnationalismus" - ansteuerte. Durch die vereinten Anstrengungen der Anti-Meciar-Opposition kam es allerdings 1998 zu einem (wenn auch noch nicht ganz irreversiblen) demokratischen Wechsel.

2. Ein in unterschiedlicher Konsequenz realisiertes Bündel von Stabilisierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen induzierte die Freisetzung von Marktkräften. Nach Preisschocks und drastischen Produktionseinbrüchen kam es in Ostmitteleuropa insgesamt bald zu einer Revitalisierung des Wirtschaftsgeschehens, zu einer Umstellung der Außenhandelsstrukturen und zu einer Stabilisierung wichtiger makroökonomischer Indikatoren: Es stellte sich wirtschaftliches Wachstum ein (vgl. Tab. 1), die Inflationsraten konnten deutlich gesenkt werden. Zur Generierung der wirtschaftlichen Dynamik trug nicht zuletzt der beachtliche Zufluss von ausländischem Kapital in die Länder der Region bei (vgl. Tab. 2).

3. Infolge des wirtschaftlichen Umbaus und der Neuformierung der sozialen Sicherung haben tief greifende Prozesse der gesellschaftlichen Rekonstituierung eingesetzt. Der Strukturwandel in der Wirtschaft transponiert sich in die Gesellschaftsstruktur, wobei drei Tendenzen im Vordergrund stehen: Deagrarisierung, Deindustrialisierung und Tertiarisierung . Die Umgestaltung der Sozialstruktur verläuft naturgemäß wesentlich langsamer als die Prozesse des politischen und wirtschaftlichen Umbaus. Überdies weichen die Ausgangsbedingungen von Land zu Land stark ab. So stellt in der Tschechischen Republik, in der Slowakei und in Slowenien die Reduktion überdimensionierter Industriesektoren eine besondere Herausforderung dar; in Polen muss die Landwirtschaft stark reduziert werden. Parallel zum sektoralen Wandel vollzieht sich der Umbau der institutionellen Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion. Die maroden und kostenträchtigen Strukturen der sozialen Sicherung müssen durch neue Konstruktionen ersetzt werden. Der Fall Polen, wo Rentensystem und Gesundheitswesen (und darüber hinaus noch Verwaltung und das öffentliche Bildungssystem) neugestaltet wurden, belegt, dass die schwierige Implementation gesellschaftlicher Strukturreformen ein Stolperstein für deren Anstoßgeber und Realisatoren sein kann: Zwar hat das Kabinett Buzek den wohl größten reformpolitischen Sprung nach vorne unter allen Ländern der Region gemacht, doch droht ihr in Anbetracht der Unzufriedenheit der Bürger mit der Umsetzung der Reformen das Schicksal einer "erfolgreich scheiternden" Regierung.

4. Die gemeinhin als langwierigste Aufgabe eingeschätzte Transformationsaufgabe besteht im Wandel von Denk- und Verhaltensweisen. Ob der Weg vom homo sovieticus und kommunistischen Untertanen mit "Kundenmentalität" zum homo economicus und selbstständigen Staatsbürger mindestens eine Generation beansprucht, sei dahingestellt. Allzu großer Optimismus ist eingedenk der Probleme, die bei der Änderung von eingeübten Verhaltensmustern in den etablierten Demokratien anzutreffen sind, keineswegs angebracht. Allerdings ist zu unterstreichen, dass in Ostmitteleuropa im Gegensatz zu den anderen Regionen des früheren Sowjetimperiums die "weiche" Transformation von Mentalitäten insofern bessere Erfolgsaussichten besitzt, als hier die soziokulturellen Parameter weniger stark auf paternalistischen und klientelistischen Traditionen basieren.

5. Große Fortschritte erzielten die Länder Ostmitteleuropas bei der An- und Einpassung in ein gewandeltes internationales Umfeld. Die außenpolitische Neuorientierung nach dem Ende des Kalten Kriegs sowie die Öffnungs- und Integrationsimperative der Globalisierung wurden hier durch die Annäherung an und die Einordnung in die Strukturen vor allem von Europäischer Union und Nordatlantikpakt bewerkstelligt. Alle drei 1999 in die NATO aufgenommenen Neumitglieder kommen aus Ostmitteleuropa, die Länder der Region gehören zu den front runners im Prozess der EU-Osterweiterung; selbst die Slowakei, die aufgrund des Faktors "Meciar" zunächst außen vor geblieben war, hat seit dem Gipfel von Helsinki zu ihren Nachbarn aufschließen können.

Determinanten eines gelungenen Umbaus

Die Erfolge in Ostmitteleuropa müssen eingedenk der Wirren und Fehlentwicklungen in anderen Teilen der ehemals sozialistischen Welt, in vielen Ländern Südosteuropas oder in der GUS besonders hoch veranschlagt werden. Spezielle Beachtung verdient der Umstand, dass die Gesellschaften den Kurs der sozial-ökonomischen Umgestaltung mittrugen: Trotz der schmerzhaften wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Therapiemaßnahmen hielten die "Patienten" hier weitgehend still. Die Medikamenturen politischer Quacksalber wurden gewöhnlich zurückgewiesen; mehrheitlich wurden die bitteren, aber wirksamen Pillen der reformpolitischen Schulmedizin geschluckt. Dass sich die "Patienten" so zügig auf den Weg der Gesundung begeben konnten, ist dem Zusammenspiel mehrerer Determinanten zu verdanken, die in der Form in anderen Ländern des nach-realsozialistischen Transformationsraums nicht vorhanden waren bzw. sind.

1. Absenz von Ethno-Nationalismus

Bei Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn und Slowenien handelt es sich um die einzigen ethnisch weitgehend homogenen Staaten östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs . Im Gegensatz zu den multiethnisch strukturierten Staaten Südosteuropas und der Ex-Sowjetunion fehlte der Nomenklatura in Warschau, Prag, Budapest und Ljubljana das Instrument des legitimitätsstiftenden Rekurses auf einen Nationalismus, der sich auf ethnische Minderheiten richtete. Ein auf ethno-nationalistischer Mobilisierung beruhender Autoritarismus hat somit in diesen Ländern denkbar schlechte Startbedingungen . Gleichwohl ist es unzutreffend, die ethnische Zusammensetzung als "entscheidenden Faktor" zu verabsolutieren, der über Wohl und Wehe der Bildung einer pluralistischen, individualistischen und marktorientierten Gesellschaft entscheidet . Nationalistische Reflexe können auch mit Stoßrichtung auf kleine und kleinste, ja geradezu virtuelle Minoritäten aktuell werden (man denke an den in ganz Osteuropa mehr oder minder virulenten Antisemitismus). Trotz geographischer Begrenztheit können Nationalitätenkonflikte gesamtgesellschaftliche Reaktionen hervorrufen. Und schließlich kann nationalistische Mobilisierung auch aus der vermeint-lichen Gefahr durch äußere Feinde resultieren. Der Fall Slowakei zeigt, dass der Aufstieg Vladimír Meciars weniger durch die Polarisierung zwischen slowakischer Mehrheit und ungarischer Minderheit als auf einer Kombination aus charismatischem Plebejismus, skrupellosem Machtstreben und einem Emanzipationsstreben gegenüber der angeblichen tschechischen Präponderanz im gemeinsamen Staat fußte. "Weitgehende ethnische Homogenität" ist daher nicht als Garantie für demokratische und marktwirtschafts-zentrierte Entwicklung anzusehen, sondern eher als ein begünstigender Faktor im Bukett transformationsbegünstigender Komponenten.

2. Geographische Nähe zum Westen/zur EU

Neben der ethnischen Homogenität verfügen die Länder Ostmitteleuropas über einen zweiten Trumpf, der ihren Transformationschancen von Anfang an spürbar zuträglich war: die geographische Nähe zu Westeuropa. Dieser Standortvorteil liegt mit Blick auf die wirtschaftlichen Kontakte zu den etablierten Marktwirtschaften auf der Hand, wobei exemplarisch auf den Handelsaustausch verwiesen werden kann. Die geringe Distanz zu den Märkten in Westeuropa hat - im Verein mit den handelspolitischen Regelungen der Assoziierungsabkommen - in den Ländern, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU liegen, entscheidend zur Dynamisierung der Exporte und damit zur Stabilisierung gesamtwirtschaftlichen Wachstums beigetragen. Die kleinräumliche, grenzüberschreitende Kooperation zwischen Regionen aus den potenten EU-Mitgliedsländern und den benachbarten Transformationsstaaten ermöglichte nicht nur eine Verbesserung der lokalen und regionalen Infrastruktur sowie der raumplanerischen Koordination, sondern eröffnete auch ein weites Feld der Intensivierung gesellschaftlicher Kontakte.

Die im Vergleich zu Südost- und Osteuropa wesentlich engere Interaktionsdichte im Bereich des touristischen, kulturellen, wissenschaftlichen und kommerziellen Austauschs mit dem "Westen" kann in Ostmitteleuropa zumindest mittel- und langfristig zum Wandel von Mentalitäten und Verhaltensweisen beitragen. Schließlich darf der geopolitische Vorteil Ostmitteleuropas hinsichtlich der Annäherung und Eingliederung in die westlichen Integrationsstrukturen nicht unterschätzt werden. Insbesondere das vereinte Deutschland, das nach 1990 zu einem unbefangeneren und noch gewichtigeren Mitgestalter der institutionellen Architektur Europas als bislang avancierte, drängte und drängt auf eine Ausdehnung der Stabilität, Prosperität und Sicherheit verbürgenden Strukturen von NATO und EU in sein unmittelbares östliches Umfeld. Die Länder Ostmitteleuropas sind daher naturgemäß die vorrangigen Nutznießer der viel diskutierten Ideen von Stabilitätstransfer und Wohlstandsprojektion gen Osten.

3. Rolle der Exkommunisten

Mächtige Agenturen populistischer, autoritärer oder ethno-nationalistischer Mobilisierung sind, wie erwähnt, vielerorts die exkommunistischen Nachfolgegruppierungen. In den Ländern Südosteuropas und in der Ex-Sowjetunion (ohne Baltikum) mutierten diese Parteien oftmals zu Speerspitzen national-sozial-populistischer Sammlung. Mit Ausnahme der Tschechischen Republik konstituierten sich in den Ländern Ostmitteleuropas hingegen postkommunistische Parteien, die sich als konsequente Sachwalterinnen der Reformflügel in den ehemaligen Staatsparteien begriffen. Die je nach Land unterschiedlichen Gruppierungen von Reformkommunisten, Nomenklatura-Technokraten und demokratischen Sozialisten einigten sich rascher als erwartet auf einen gemeinsamen inhaltlichen Nenner, der in seiner allgemeinsten Form "Sozialdemokratisierung" hieß. Polens Sozialdemokratie (SdRP) bzw. die Demokratische Linksallianz (SLD), die ungarischen Sozialisten von der MSZP sowie die Demokratische Linkspartei der Slowakei (SDL) und die Vereinigte Liste der Sozialdemokratien (ZLSD) aus Slowenien konnten bereits Mitte der neunziger Jahre im sicheren Hafen der internationalen Sozialdemokratie anlegen.

Nach einer kurzen Phase der absoluten Defensive und der politischen Paralysiertheit waren die Abkömmlinge der kommunistischen Einheitsparteien unter dem Druck parteipolitischer Isolierung gezwungen, sich bei Strafe des Untergangs programmatisch und personell zu einigen und organisatorisch zu konsolidieren. Es entstanden so kohärente und disziplinierte politische Subjekte, die in Anbetracht wachsender gesellschaftlicher Unzufriedenheit zügig mit steigendem Zuspruch rechnen konnten. Der Grund: In Polen sowie in allen anderen Ländern Ostmitteleuropas war der Reaktivierung der historischen bzw. der Gründung neuer sozialdemokratischer Parteien zunächst kein Erfolg beschieden. Mit Ausnahme der Tschechischen Republik änderte sich daran auch bis heute nichts. Vereinfacht gesagt hatte es die ehemalige antikommunistische Opposition versäumt, schlagkräftige Linksparteien zu etablieren. Die natürliche Folge war, dass die postkommunistischen Gruppierungen in das Vakuum links von der Mitte vorstießen. Allein in der Tschechischen Republik, wo die Reformer in der Parteiführung auf den Widerstand der mächtigen und einzigen massenhaften Basis stießen, scheiterte der Versuch einer grundlegenden Umgestaltung der Partei: Mit der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSCM) existiert nach wie vor die einzige starke neokommunistische Gruppierung zwischen Frankreich und der Ukraine.

Auf den Prüfstand gelangten die sich sozialdemokratisierenden Nachfolgeparteien, als sie Regierungsverantwortung übernahmen. Befürchtungen, es könne zu einem Stillstand der Reformen und zu einer Abkehr von außenpolitischen Prioritäten kommen, erwiesen sich bald als falsch. Im Gegenteil, die gewandelten Jünger Lenins profilierten sich schnell als eifrige Verfechter von Marktwirtschaft, Demokratie und Anbindung an den Westen. Ungarns Sozialisten schnürten - im Verein mit den ehemals auf der anderen Seite der Barrikade stehenden Linksliberalen - gleich drei große Reformbündel: eines zur makroökonomischen Gesundung (Bokros-Paket), eines zum Vorantreiben der Privatisierung (Suchmann-Paket) und eines zur Regelung der Außenbeziehungen sowie zur Grundlegung der Orientierung auf NATO und EU (Kovács-Paket) . Und auch in Polen, wo die exkommunistische Linke 1993 einen beeindruckenden Wahlerfolg erzielte, war es nicht die SLD, sondern die Bauernpartei PSL, die sich als Reformbremserin und europaskeptischer Hemmschuh erwies. Aleksander Kwasniewski, die Leitfigur der polnischen Linken, avancierte zum Symbol eines modernen und weltoffenen Politikers im postsozialistischen Europa. SLD-Politiker wie der damalige Privatisierungsminister Wieslaw Kaczmarek oder der Finanzministers Marek Borowski waren ob ihrer geradezu liberal anmutenden wirtschaftspolitischen Vorstellungen ein Dorn im Auge sowohl der polnischen Agrarparteien als auch der nationalorientierten Rechten.

4. Kanalisierter Protest

Die protransformative Metamorphose der sozialdemokratisierten Nachfolgeparteien Osteuropas trug auch dazu bei, dass gesellschaftlicher Protest in Ostmitteleuropa nicht ausuferte, sondern systemkonform aufgenommen wurde. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass noch bei den polnischen Präsidentschaftswahlen vom Herbst 1990 der politische Abenteurer Stan Tyminski mehr als 23 Prozent der Stimmen auf sich vereinte und erst in der zweiten Runde von Lech Walesa abgefangen werden konnte. Wahlsoziologische Untersuchungen belegen, dass das unzufriedene Tyminski-Elektorat drei Jahre später mehrheitlich zur SLD überwechselte. Doch nicht nur die exkommunistischen Gruppierungen, auch andere Parteien und Gruppierungen trugen dazu bei, den politisch manifestierten Unmut zu kanalisieren. Demagogie in den "Grenzen des Gesetzes" - wie im Fall der tschechischen Sozialdemokratie unter Milos Zeman - sowie nationale und traditionalistische Appelle im Verein mit egalitaristischer Rhetorik bei der polnischen Wahlaktion Solidarnosc dokumentierten, dass auch andere Gruppierungen in der Lage sind, radikalen Strömungen das Wasser abzugraben.

In der Folge wurde das Potential von Anti-System-Parteien in Ostmitteleuropa substantiell limitiert. Lediglich die kommunistische KSCM in der Tschechischen Republik sowie die nationalistische MIÉP István Csurkás in Ungarn und die Slowenische Nationalpartei SNS fanden in den oben erwähnten Ländern der Region genügend Zuspruch, um parlamentarische Repräsentanz zu erlangen. Mit Blick auf die Dynamik national-populistischer und rechtsextremer Gruppierungen in Teilen Westeuropas ist für die Länder Ostmitteleuropas ein hypotropher Nationalismus und eine unterdurchschnittliche Resonanz systemtranszendierender Politikangebote zu konstatieren. Allein in der Slowakei konnte im Laufe der zurückliegenden Dekade eine Mixtur aus konfrontativem Politikstil, semiautoritären Methoden und einer Tendenz zur hemmungslosen Anwendung des Mehrheitsprinzips vorübergehend tonangebend werden. Die gesellschaftlichen Parameter (ungarische Minderheit, verspätete "sozialistische" Industrialisierung) bildeten und bilden hier ein fruchtbares Substrat für simplifizierte Diskurse und ruppigen Politikaustrag.

5. Politischer Konsens

Die Einreihung der exkommunistischen Nachfolgegruppierungen in das Lager der reformorientierten Kräfte sowie die Schwäche systemfeindlicher Kräfte ermöglichten die Herausbildung eines strukturell mehrheitsfähigen Politikbereichs mit grundlegend transformationsbejahender Ausrichtung. Von großer Bedeutung war hierbei ferner, dass die aus der ehemaligen antikommunistischen Opposition stammenden Eliten bald von diffusen oder retrospektiven Konzepten ließen und sich mehrheitlich für den Aufbau von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie einsetzten. Das Paradebeispiel hierfür ist wohl der Weg des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF), das sich unter der Führung von József Antall von den Positionen einer plebejisch-drittweglerischen Bewegung, die das Land zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus sowie zwischen Ost und West platzieren wollte, in Richtung einer konservativ-christdemokratischen Partei entwickelte. In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls der Zerfall des tschechischen Bürgerforums (OF), an dessen Stelle dank des Strebens von Václav Klaus politische Parteien mit zumindest verbal klar umrissenen inhaltlichen Aussagen traten. Ebenso kann auf das Auseinanderbrechen der polnischen Bürgerkomitees, also des politischen Arms der Solidarnosc, hingewiesen werden - wenn auch die darauf folgende Entwicklung in der Entstehung einer Vielzahl kleinerer Gruppierungen mündete und damit weniger erfolgreich war als im tschechischen Fall.

In der Herauskristallisierung eines "nachkommunistischen Verfassungsbogens", also eines Segments staatstragender Parteien mit weitgehend kongruenten Langfristprioritäten, manifestierte sich der Prozess der konstruktiven Annäherung von Übergangseliten: zunächst die Formierung eines Minimalkonsenses über den einzuschlagenden Weg, dann die graduelle Konvergenz von Fundamentalzielen . Nicht von ungefähr wurde bereits während der dunkelsten Phase der Meciar-Ära in der Slowakei gerade über das Fehlen konsensfähiger Eliten lamentiert und die "allmähliche Transformation der fragmentierten Eliten in eine nationale Elite" gefordert .

Alles in trockenen Tüchern?

Angesichts der Verwerfungen in anderen Teilen der ehemals staatskommunistischen Welt erscheinen die Fortschritte in Ostmitteleuropa in besonders hellem Licht. Weitab von nationalistischem Fieber und Ethno-Bellizismus, von wirtschaftlichem Niedergang und gesellschaftlicher Desintegration, von Lethargie und Orientierungslosigkeit scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Länder Ostmitteleuropas nicht nur das Stigma "postkommunistisch" definitiv abschütteln können, sondern auch die Betitelung als "neue" Demokratien und "entstehende" Märkte hinter sich lassen werden. Als Erste haben natürlich Politiker aus den betroffenen Ländern Erfolgsarien gesungen. Vollmundig behauptete Václav Klaus, der Demiurg der tschechischen Wirtschaftspolitik in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, schon Mitte des Jahrzehnts, sein Land habe die wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation bereits abgeschlossen. Die Tschechische Republik, so Klaus, befinde sich nach geglückter Operation bereits im Rehabilitationszentrum. Früh fanden sich auch in den Reihen der Transformationswissenschaft Stimmen, die den demokratischen Übergang abgeschlossen sahen und sich nur noch mit der Konsolidierung der neuen Zusammenhänge befassen wollten . Doch Vorsicht: Das Ende der postkommunistischen Geschichte ist auch in Ostmitteleuropa noch nicht erreicht. Das Beispiel von Václav Klaus muss zu denken geben: Kurze Zeit nach seiner positiven Lageeinschätzung musste er mit ansehen, wie das tschechische Reformwunder angesichts von Bankenpleiten, schleppender Privatisierung und unzureichenden rechtlichen Rahmenbedingungen wie eine Seifenblase zerplatzte und das Land vorübergehend vom reformpolitischen Musterschüler zum Prügelknaben wurde. Richten wir also unsere Aufmerksamkeit auf einige Mankos der nachkommunistischen Transformation im östlichen Mitteleuropa.

1. Demokratie zwischen stabilisierender Apathie und antipolitischer Remobilisierung

Es gehört zu den Gemeinplätzen des öffentlichen Diskurses in den und über die Transformationsländer, die schwache gesellschaftliche Fundamentierung des neu errichteten demokratischen Gerüstes zu kritisieren. Die Unterentwicklung der civitas socialis implizierte eine nur ansatzweise Ausdifferenzierung der demokratischer Mikro- und Mesoebene und führte zur Konzentration von Entscheidungsprozessen in Parlamenten, Parteien und Exekutiven . Dabei hatte sich Ende der achtziger Jahre gezeigt, dass die Gesellschaften sich sehr wohl politisch eingebracht haben, denn letztlich wurde die demokratische Initialzündung beinahe ausnahmslos von mächtigem gesellschaftlichem Engagement flankiert, wenn nicht sogar ausgelöst. Dieser wuchtige Impuls brach aber abrupt ab. Dort, wo die Massen "aus dem Schatten der Subalternität gegenüber den Eliten" herausgetreten waren, geschah dies "nur zwischen der Agonie eines autokratischen Regimes und der Insitutionalisierung der Demokratie" . Doch was liegt in den Ländern Ostmitteleuropas zwischen der rasanten postrevolutionären Demobilisierung und einer allfälligen "breiteren aktiven politischen Partizipation", die erst in einer "fortgeschrittenen Phase der demokratischen Konsolidierung" zu erwarten sein wird?

Zwei Reaktionsmuster zeichnen sich gegenwärtig ab: Die erste Variante stellt die von András Körösényi in Ungarn identifizierte "stabilisierende Apathie" dar. Trotz handfester Legitimationsprobleme infolge von Effizienzdefiziten im Regierungshandeln seien die Eliten in der Lage gewesen, durch eine Strategie der gesellschaftlichen Demobilisierung die Stabilität des politischen Systems zu erhöhen .

Die zweite Variante könnte "antipolitische Remobilisierung" genannt werden. Im Gegensatz zur stabilisierenden Apathie gelingt es den Eliten hierbei nicht, die Massen gleichsam ruhig zu stellen. Das anschaulichste Beispiel hierfür ist die tschechische Fernsehkrise um die Jahreswende 2000/2001. Bei der Auseinandersetzung um den Intendanten des Tschechischen Fernsehens entlud sich Frustration vieler Bürger über das Machtkartell der beiden großen Parteien CSSD und ODS, die sich in zunehmender Rücksichtslosigkeit bei der Realisierung ihrer Partialinteressen übten. Angeführt von den Spitzen der parlamentarischen Opposition, von Intellektuellen und Künstlern sowie mit der symbolischen Unterstützung von Präsident Václav Havel füllte sich der Wenzelsplatz mit Hunderttausenden. Es erklangen Forderungen nach einer Zurückdrängung egoistischer Parteiinteressen, nach mehr Einbeziehung der Bürger, nach einer an Moral und Gemeinwohl orientierten "unpolitischen Politik". Aus einer ähnlichen Quelle - aus der Unzufriedenheit mit Parteienherrschaft, Kungelei und der Ablehnung der etablierten parteipolitischen Kräfte - speist sich auch der rasante Aufschwung eines neuen politischen Subjekts in Polen, der Bürgerplattform, die mit flotten Sprüchen und liberaler Rhetorik den Unmut der polnischen Mittelklasse artikuliert.

Sowohl die stabilisierende Apathie als auch die antipolitische Remobilisierung eignen sich indes nur unzulänglich, um ein solides Fundament für eine partizipative Demokratie zu legen. Dies ist besonders im ersten Falle evident, da ja ein Rückzug der Gesellschaft aus der Politik bewusst gefördert wird. Doch auch im Falle antipolitischer Remobilisierung stehen die Chancen schlecht. In der Tschechischen Republik ist der antipolitische Reflex der Jahreswende so schnell abgeklungen, wie er entstand. Dies erinnert stark an das Schicksal der um das zehnjährige Jubiläum der "samtenen Revolution" entstandenen Initiativen, die von Studenten- und Intellektuellenkreisen getragen wurden und eine ähnliche Stoßrichtung aufwiesen, die aber verpufften, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Was nachdenklich stimmen muss, ist der Umstand, dass sowohl apathische Demobilisierung als auch antipolitische Remobilisierung unter bestimmten Voraussetzungen demokratischen Destabilisierungstendenzen förderlich sein können. Infolge von Manipulationsstrategien seitens demokratieskeptischer Eliten oder neuer populistischer Strömungen im einen Fall, infolge von demokratiegefährdenen Reorientierungen der antipolitischen Eruptionen im anderen Fall.

2. Steuerungsdefizite eines "weichen" Staats

Entscheidende transformationspolitische Stimuli müssen von der Politik ausgehen. Selbstverständlich lassen sich weder der politische Übergang noch der wirtschaftliche Umbau und erst recht nicht die gesellschaftliche Rekonstruktion mechanistisch umsetzen. Gleichwohl ist zur erfolgreichen Implementation von politisch-institutionellen und sozial-ökonomischen Reformen die Existenz eines effizienten Staats und eines funktionierenden Staatsapparats unabdingbar. Doch wie soll der Staat Gestaltungskapazität erlangen, wenn er unter den Bedingungen permanenter Ressourcenknappheit auch noch Gegenstand parteipolitischer Penetration wird? Die von polnischen Soziologen formulierte These, in Polen habe sich ob der Kolonisierung des Staats durch die Parteien eine Art "weicher Staat" herausgebildet, hat eine lebhafte Diskussion hervorgerufen, an der sich mehr visionär als pragmatisch auch der polnische Premierminister beteiligt hat .

Eine besonders bedenkliche Tendenz ergibt sich aus der zunehmenden Kommerzialisierung des Staates im Zuge der zweifelsohne notwendigen Verschlankung, Effektivierung und Reform des Staatsapparates. Es entsteht so ein intransparenter "öffentlicher Sektor", der aus einem Netzwerk von Institutionen besteht, in denen Einfluss, Kontrollmöglichkeiten und vor allem Posten zu verteilen sind (z. B. Räte von Krankenkassen, Aufsichtsräte von kommerzialisierten Staatsunternehmen, Privatisierungsagenturen u. ä.). So wird politischer und wirtschaftlicher Klientelismus ermöglicht, der die politischen Parteien auf Kosten des Staats stärkt . Sollte der postkommunistische Staat gar zu einem bloßen "Epiphänomen" parteipolitischer Interessen, zu einem bloßen "Ritual zur Kreierung der politischen Klasse" herabsinken , so wird auch seine Robustheit gegenüber Konsolidierungsrisiken als deutlich eingeschränkt zu qualifizieren sein.

3. Soziale Defizite jenseits des Wirtschaftswunders: Beschäftigung und gesellschaftliche Kohäsion

Der wirtschaftliche Wachstumspfad, den die Volkswirtschaften Ostmitteleuropas seit fünf bis sieben Jahren beschreiten, bildet die ökonomische Basis der politischen und gesellschaftlichen Stabilisierungsprozesse. Die Aussicht, durch kräftige Wachstumsraten zu den führenden Wirtschaftsnationen aufzuschließen, erhöht die Chancen, die in ihren Lebensverhältnissen in Mitleidenschaft gezogenen Gesellschaften reformpolitisch bei der Stange zu halten. Trotz der teils satten Wachstumsraten ist es indes bislang nur ansatzweise gelungen, Breiteneffekte der wirtschaftlichen Revitalisierung zu generieren. Eine tiefe Kluft zwischen Transformationsprofiteuren und -verlierern ist auch im Land mit dem stärksten Wachstum der letzten Jahre, in Polen, zu konstatieren. Ende der neunziger Jahre fühlten sich 30 Prozent der Polen arm, die Hälfte gab an, aufgrund materieller Unzulänglichkeiten in den Lebenschancen eingeschränkt zu sein .

Doch der als wichtigste Waffe zur Bekämpfung von Armut und sozialer Exklusion gewertete Abbau der Arbeitslosigkeit kommt bislang nicht voran. Die restrukturierungsbedingte Arbeitskräftefreisetzung konnte nur partiell durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze kompensiert werden. Die Redimensionierung der sozialistischen Industrien und der anachronistischen Agrarsektoren konnte bislang durch die Schaffung neuer Wachstumsindustrien oder dynamischer Dienstleistungsbranchen nicht aufgefangen werden. Die Folge ist eine teils dramatisch hohe Arbeitslosigkeit (vgl. Tab. 3). In der Slowakei überschritt die Arbeitslosenquote Anfang 2001 die Grenze von 20 Prozent, womit das Land die höchste Arbeitslosigkeit in ganz Europa aufweist. In Polen, wo nach einer Erholung auf den Arbeitsmärkten seit 1998 wieder ein negativer Trend zu verbuchen ist, kletterte die Arbeitslosenquote Anfang 2001 landesweit auf über 15 Prozent.

Gerade dort, wo die Erneuerung des Kapitalstocks (vor allem durch den starken Zustrom ausländischer Direktinvestitionen) am grundlegendsten verläuft, kommt es zu signifikanten Erhöhungen der Arbeitsproduktivität und damit zu dem, was oft technokratisch als Abstoß von redundanter Arbeitskraft bezeichnet wird. Ein aus Westeuropa seit längerem bekannter Sachverhalt wird somit auch in den Transformationsökonomien sichtbar:

Wirtschaftswachstum allein verbürgt keinen Rückgang von Arbeitslosenquoten (vgl. Tab. 4). Gleichzeitig ist aber ohne ein kräftiges wirtschaftliches Wachstum mit Sicherheit keine Reduktion von Arbeitslosigkeit möglich. Allein in Polen ist es gelungen, in der Phase zwischen 1993 und 1998 eine substantielle Ausweitung der Beschäftigung und damit einhergehend einen bedeutenden Rückgang der Arbeitslosenquote zu erreichen. Dies legt nahe, dass unter einem Wachstumsniveau von fünf bis sieben Prozent kaum mit einer erfolgreichen Bekämpfung der Arbeitslosenquote zu rechnen ist.

Was aber wird geschehen, wenn der Wachstumsmotor mit niedrigeren Drehzahlen fahren sollte? Die extrem exportabhängigen Volkswirtschaften Ostmitteleuropas könnten schon bei einer Konjunkturdelle in Euroland rasch in Richtung eines Null-Wachstums oder sogar in den "negativen Wachstumsbereich" abrutschen. Für eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die der dann rasch ansteigenden Arbeitslosenquote gegensteuern würde, stünden dann aufgrund wachsender fiskalischer Engpässe noch weniger Mittel als ohnehin zur Verfügung. Der Grad sozialer und regionaler Kohäsion würde bedeutend reduziert. Dass eine solche Entwicklung immense politische Implikationen mit sich bringt, muss nicht betont werden.

Nicht Restrisiken, sondern chronische Pathologien

Der in einer Dekade erreichte Fortschritt bei der Umgestaltung von Staat, Wirtschaft und letztlich auch Gesellschaft sowie die Einbindung der ostmitteleuropäischen Länder in überregionale ökonomische und politisch-strukturelle Kontexte macht eine Abkehr von der prinzipiellen Richtung des nach 1989 begonnenen Weges äußerst unwahrscheinlich. Elitendemokratie, mangelnde Steuerungsfähigkeit des Staats und dauerhaft ungelöste soziale Probleme sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als Pathologien des Transformationsprozesses mit einer Tendenz zur Verfestigung. Auch wenn diese teils in enger Wechselbeziehung zueinander stehenden Defizite sich gegenseitig verstärken können, so werden sie sich nicht zu einem explosiven Gemisch verdichten. Allein schon deswegen nicht, weil letztlich die Träger einer Totalrevision der Transformation fehlen.

Der ungarische Philosoph Tamás Gáspár Miklós hat darauf hingewiesen, dass selbst die Parteien der extremen ungarischen Rechten und Linken gezwungen sind, lediglich "reformistische" Forderungen zu stellen, da ein gegen die "kapitalistische Demokratie" als solche gerichteter Appell ohne Resonanz verhallen würde . Der ehemalige ungarische Staatspräsident Ärpäd Göncz behauptete, dass der Unmut der Menschen in Osteuropa darin begründet sei, dass sie sich die Einführung der Demokratie erhofft, aber den Kapitalismus bekommen hätten . Göncz irrt insofern, als die Menschen beides bekamen: Marktwirtschaft und Demokratie. Zentral ist dabei, dass die Enttäuschung, die nach den ersten Jahren der Systemtransformation zweifelsohne auftauchte, nicht in eine Ablehnung beider Ordnungen umschlug, sondern sich in deren konsequenter Affirmation manifestierte. Die ersten demokratischen Wahlen in Ostmitteleuropa führten zwar zur Abwahl der 1989 in Regierungsverantwortung gelangten Reformequipen; durch die Wahl vorwiegend sozialdemokratisch orientierter Gruppierungen (exkommunistischer oder exoppositioneller Ausprägung) wurde aber nicht die Zurückweisung marktwirtschaftlicher Reformen und demokratischer Mechanismen zum Ausdruck gebracht, sondern gerade der Wunsch nach deren sozialer respektive liberaler Korrektur.

Dass die sozialdemokratischen und sozialliberalen Strömungen in Ostmitteleuropa ebenso wenig dazu in der Lage waren, einen postkommunistischen New Deal zu formulieren, wie die christlich-konservativen Gruppierungen, den Entwurf eines sozialen Kapitalismus zu formulieren - dass also weder linke Forderungen nach mehr Partizipation noch bürgerlich-liberale oder "antipolitische" Vorstellungen von der Schaffung eines "kommunitären Geistes" wirkungsmächtig wurden, bedeutet zweierlei: Zum einen, dass in Anbetracht des engen gesellschaftlichen Gestaltungsspielraums ein entideologisierter Transformationspragmatismus an die Stelle von weltanschaulich eingefärbten Gesellschaftsprojekten tritt. Dieser postkommunistische Pragmatismus bietet Gewähr für eine gesteigerte Problemlösungskapazität und für die Wahrung des "Reformbesitzstands". Andererseits können dadurch aber kaum Anstöße zur Vertiefung demokratiekompatiblen Verhaltens und marktwirtschaftlicher Prozeduren gegeben werden. Und vor allem ist es nur schwer möglich, eine authentische staatsbürgerliche Identität zu bilden, die auch die Spezifität der ostmitteleuropäischen Realität in Betracht zieht, sich der Differenzen zwischen "Dort" (dem Westen) und "Hier" (dem eigenen Land) bewusst ist und so auch besser in der Lage sein kann, die noch anhaltende Unbill der Umgestaltungsphase zu akzeptieren.

In Ostmitteleuropa steht die Gefahr eines späten Scheiterns der Transformation nicht auf der Tagesordnung. Möglich ist aber eine Konsolidierung auf niedrigem Niveau, eine verzögerte Anpassung von Verhaltensweisen, ein durch chronische Pathologien erzeugter Vertrauensverlust gegenüber der Politik. Die Eigenheit der Umgestaltung in Ostmitteleuropa besteht darin, dass sich diese Geschehnisse auf der Basis beachtlicher Transformationsfortschritte und in der Situation eines dynamischen Aufholprozesses vollziehen. Die Gegebenheiten in den westlichen Nachbarländern und den EU-Beitritt vor Augen sind es daher in den Visegrád-Ländern und in Slowenien nicht die Erfahrung von Regression, Stagnation oder ethnischen Auseinandersetzungen, die für Erschütterungen des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Um-bau sorgen können, sondern es ist die Unzufriedenheit darüber, dass der Abstand zum "Zentrum" nicht schnell genug abnimmt. Die von Václav Klaus monierte wachsende Ungeduld seiner Landsleute scheint in der Tat den Kern des Problems zu treffen . Untersuchungen, die unlängst in Polen vorgenommen wurden, zeigen, dass sich in der polnischen Gesellschaft zwischen 1988 und 1998 vor allem drei Verhaltensweisen ausgeweitet haben: der Blick auf sich selbst (Reflexivität), der Vergleich mit dem Nachbarn und der Hang zur Ungeduld . Was wird passieren, wenn sich die Polen bewusst werden, dass sie bei der ganz und gar nicht sicheren Aufrechterhaltung des Wachstumstempos der letzten Jahre erst in 20 Jahren das wirtschaftliche Niveau von Griechenland und in 60 Jahren den EU-Durchschnitt erreichen werden? Wird den Polen, den Tschechen und Ungarn dann der Geduldsfaden reißen?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jon Elster/Claus Offe/Ulrich K. Preuss, Institutional Design in Post-communist Societies, Rebuilding the Ship at Sea, Cambridge 1998, S. 19.

  2. Vgl. Frances Millard, Polish Politics and Society, London-New York 1999, S. 3 ff.

  3. Vgl. Michael Landesmann, Structural Change in the Transition Economies, 1989 to 1999, WIIW Research Report, No. 269, September 2000, S. 3 ff.

  4. "Weitgehend" bedeutet nicht, dass die Existenz und das Gewicht einer Reihe nationaler Minderheiten in Abrede gestellt werden soll, sondern dass deren Position im Vergleich zu anderen Staaten relativiert wird.

  5. Vgl. Laslo Sekelj, National-States and the Success of Democratic Transformation in the Former European Communist States, in: Justyna Miklaszewska (Hrsg.), Democracy in Central Europe 1989-99, Comparative and Historical Perspectives, Kraków 1999, S. 247-269, hier: S. 252 ff.

  6. Vgl. ebd., S. 254.

  7. Vgl. László Lengyel, Pártházból palotába (Vom Parteibüro in den Palast), Budapest 1998.

  8. Die slowakische Politologin Darína Malová spricht von einer "Tendenz zur uneingeschränkten Anwendung der Mehrheitsregierung", Darína Malová, Nel'ahká institucionalizácia parlamentnej demokracie na Slovensku (Die schwierige Institutionalisierung der parlamentarischen Demokratie in der Slowakei), Obcanská spolecnost', Nr. 5, 1998.

  9. Vgl. Guillermo O'Donell/Philippe C. Schmitter, Transitions from Authoritarian Rule: Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, Baltimore 1986.

  10. Sona Szomoláyni, Transicná cesta Slovenska a vol'by '98, in: Martin Butora/Grigorij Mesezvnikow/Zora Bútorová (Hrsg.), Kto? Precvo? Ako? Slovenské vol'by '98. (Wer? Warum? Wie? Die slowakischen Wahlen von 1998), Bratislava 1999, S. 9-20, hier: S. 17.

  11. Ein kurzer Überblick über die Debatte Transitologie vs. Konsolidologie findet sich bei Klaus von Beyme, Osteuropaforschung nach dem Systemwechsel, in: Stefan Creuzberger/Ingo Mannteufel/Alexander Steininger/Jutta Unser (Hrsg.), Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion, Köln 2000, S. 225-244.

  12. Vgl. Attila Ágh, The Politics of Central Europe, London-Thousand Oaks-New Delhi 1998, S. 214.

  13. Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Opladen 1999, S. 117.

  14. Ebd.

  15. Vgl. András Körösényi, A magyar politikai rendszer (Das ungarische politische System), Budapest 1998, S. 374.

  16. Vgl. Jerzy Hausner/Miroslawa Marody, Miekki kraj (Weiches Land), in: Polityka, (2000) 50; Jerzy Buzek, Jak oswoicLewiatana (Wie man den Leviathan zähmt), in: ebd., (2000) 53; Janina Paradowska, Tuczarnia Lewiatana (Leviathans Mästerei), in: ebd., (2001) 1.

  17. Vgl. Jadwiga Staniszkis, Pan!nstwo postkomunistyczne - w poszukiwaniu paradygmatu (Der postkommunistische Staat - auf der Suche nach einem Paradigma), in: Studia Polityczne, (2000) 11, S. 7-29.

  18. Vgl. Jadwiga Staniszkis, Komercjalizacja panstwa (Die Kommerzialisierung des Staats), in: Rzeczpospolita vom 17. 7. 1999.

  19. Vgl. Stanislawa Golinowska, Nedza, ubóstwo, niedostatek (Elend, Armut, Mangel), in: Rzeczpospolita vom 9. 9. 1999.

  20. Vgl. Tamás Gáspár Miklós, Szélöség és radikalizmus (Extremität und Radikalismus), in: Mancs, (2000) 14.

  21. Árpád Göncz v Brne (Árpád Göncz in Brünn), Interview mit Á. Göncz, in: Amicus, (1996) 3, S. 5-9, hier: S. 6.

  22. Vgl. János Ladányi, Iván Szelényi, Egy posztkomunista "New Deal" esélyei (Aussichten eines postkommunistischen "New Deals"), in: Kritika, (1996) 2, S. 8-13.

  23. Vgl. zu diesem Begriff Kees van Kersbergen, Social Capitalism. A Study of Christian Democracy and the Welfare State, London 1995.

  24. Vgl. Anna Sosnowska, Tu, Tam - pomieszanie (Hier, Dort - Verwirrung), in: Studia Socjologiczne, (1997) 4, S. 61-84.

  25. Vgl. Václav Klaus, Poznámky k anal'yzám" transformace (Anmerkungen zu den "Analysen" der Transformation), in: Petr Fiala/Frantisek Miks (Hrsg.), Ceská konzervativní a liberální politika (Die tschechische konservative und liberale Politik), Brno 2000, S. 213-231, hier: S. 231.

  26. Vgl. Marek Ziólkowski, Mentalnosc Polaków w latach 1988-1998 (Die Mentalität der Polen in den Jahren 1988-1998), in: Studia Polityczne, (2000) 11, S. 75-96.

  27. Vgl. Powolny poscig za "15" (Langsame Verfolgungsjagd hinter den "15"), in: Rzeczpospolita vom 10./11. 3. 2001.

Dipl.-Verwaltungswissenschaftler, geb. 1967; wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Anschrift: Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin.
E-Mail: kai-olaf.lang@swp-berlin.org

Veröffentlichungen u.a.: Germany and Poland, in: Vladimír Handl/Otto Pick/Jan Hon u.a., Germany and East Central Europe since 1990, Praha 1999; Die neuen NATO-Mitglieder und die europäische Verteidigungsdimension. Teil I und II (Aktuelle Analysen des BIOst 62-63/2000).