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Gustav Stresemann Tatsachen und Legenden | APuZ 41/1959 | bpb.de

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APuZ 41/1959 Gustav Stresemann Tatsachen und Legenden

Gustav Stresemann Tatsachen und Legenden

HENRY BERNHARD

Der vor 30 Jahren, am 3. Oktober 1929 verstorbene deutsche Reichskanzler und Reichsaußenminister ist im Rahmen der deutschen Politik der letzten 40 Jahre eine historische Gestalt. Er hat das Schicksal und das Geschick des deutschen Volkes fast sieben Jahre lang beeinflußt und gestaltet, über sein staatsmännisches Wirken, seine Ziele und seine Erfolge gibt es heute in der Geschichtschreibung Auseinandersetzungen, die auch für die Bewertung der Politik des Weimarer Staates und die friedliche Gesinnung des deutschen Volkes in der Weimarer Zeit von Bedeutung sind. Der Mitarbeiter Stresemanns versucht in diesem Aufsatz einige der umstrittenen politischen Probleme um Stresemann zu klären. Dem Aufsatz sind als Dokumente der Wortlaut des vielfach angegriffenen sogenannten „Kronprinzenbriefes" Stresemanns vom 7. September 1925 und die Niederschriften Stresemanns über seine Unterredungen mit dem sowjetischen Außenminister Tschitscherin in den Nächten vom 30. 9. /1. 10 und 1. 10. /2. 10. 1925 sowie der Aufsatz „Sicherheitspakt, Völkerbund und Ostfragen" vom 5. August 1925 angefügt.

AIs Gustav Stresemann an jenem trüben und regnerischen Morgen des 3. Oktober 1929 um 5. 20 Uhr die Augen für immer schloß, war das Empfinden allgemein, daß hier ein unvollendetes Werk ins Grab gerissen wurde, daß aber das, was er mühsam kämpfend begonnen hatte, hineinwirken werde in die Zukunft unserer Nation. Die Nation ist einen anderen Weg gegangen als wir es damals ahnen konnten. Am Ende und in der Auswirkung eines unvorstellbaren Absturzes, dem ein ebenso unvorstellbarer Aufstieg des westdeutschen Teiles des deutschen Volkes gefolgt ist, hat uns die Stimme des Toten mehr zu sagen denn je.

Im Jahre 1932 erschienen unter dem Titel: GUSTAV STRESEMANN-VERMÄCHTNIS im Verlag Ullstein drei Bände mit dem politischen Nachlaß des Außenministers der Weimarer Republik. Stresemann war mehr: er war aus der geschichtlichen Schau heraus die zentrale Figur des Weimarer Staates. Es war der Außenpolitiker mit klarer Zielsetzung und beherrschte aus der These vom Primat der Außenpolitik auch die Innenpolitik. Die Veröffentlichung des Stresemann’schen Nachlasses, deren sich der Ullstein-Verlag ohne Rücksicht auf Kosten mit einem nicht hoch genug lobenden Eifer angenommen hatte, war nicht ohne Schwierigkeiten zustande gekommen.

Das Material war reichlich und greifbar. Der Herausgeber, Verfasser dieses Aufsatzes, Konsul a. D. Henry Bernhard, den Wolfgang Goetz und Paul Wiegler bei der Bearbeitung des Nachlasses unterstüzten, hatte das Lebenswerk Gustav Stresemanns seit 1911 aus nächster Nähe verfolgt und seit April 1923 bis zu seinem Tode Tag für Tag als sein engster Mitarbeiter in allen Einzelheiten begleitet. Gustav Stresemann hatte ihm seine Gedankenwelt erschlossen, in ihm den Vertrauten seiner Pläne gesehen. Der vorzeitige Abschluß seines Lebens und der Wunsch der Witwe Stresemann und ihrer Söhne Wolfgang und Joachim, eine Art Rechenschaftsbericht über sein Werden und Wirken als Staatsmann zu geben, gipfelte damals in der Voraussetzung, daß die Bearbeitung des Nachlasses durch einen vertrauten Mitarbeiter Stresemanns vorzunehmen und zu verwirklichen sei. Dies geschah.

Die Herausgeber der drei Bände: GUSTAV STRESEMANN-VERMÄCHTNIS waren sich darüber klar, daß bei einer solchen Veröffentlichung alles oder überhaupt nichts gesagt werden mußte, daß die Benutzung des Rotstiftes aus opportunistischen Erwägungen nicht in Frage käme. Was notwendig war, ist in der Einleitung des ersten Bandes im Vorwort, das die Verfasser dem Werk im Jahre 1932 voranstellten, so gekennzeichnet worden: „Mußten wir in der Auswahl der Schriftstücke äußerst kritisch sein, so stand uns das Recht, Kritik zu üben, nicht zu. Das ist die Sache künftiger Biographen und Geschichtsschreiber. Bei der politischen Erbitterung unserer Tage, in denen tuan den Andersgesinnten gern für einen Narren oder Bösewicht hält, ist es nicht ausgeschlossen und sogar sehr wahrscheinlich, daß man uns den Vorwurf macht, wir hätten Tatsachen, die uns nicht genehm waren, unter den Tisch fallen lassen. Wir haben nichts, was wesentlich wäre, übergangen. Wir erklären vielmehr: so gewiß zu den Herausgebern dieses Nachlasses nicht Gegner Stresemanns und seiner Politik bestellt waren, so entschieden wehren wir uns gegen den Vorwurf blinder Heroenverehrung.

Stresemann selbst, der das Wort Conrad Ferdinand Meyers: , Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widersprudt“ gern zitierte, hätte am wenigstens gewünscht, daß er ins Pantheon der Gesclvchte als eine jener um ihrer schönen Pose willen starren Gipsfiguren gestellt würde, an denen die Siegesallee deutsdter Geschichtsschreibung so reich ist.“

Nur aus diesen Gründen ist damals, vor mehr als 25 Jahren, einiges „Unter den Tisch“ gefallen, besser gesagt: für spätere Zeiten zurückgestellt worden, ist im ersten und zweiten Band des damaligen Memoiren-werkes, dem eingeholten und erbetenen Rat von Stresemanns Freunden folgend, manche Einzelheit des internationalen Geschehens der Veröffentlichung bis zu einer Zeit vorbehalten worden, in der der geschichtliche Abstand größer ist, als er damals sein konnte. Dabei ist wenig Grundsätzliches gewesen. Aber, bei der damaligen labilen internationa-len Lage ist eine gewisse Zurückhaltung geübt worden in der Veröffentlichung der Niederschriften und Aufzeichnungen Stresemanns über die Ostpolitik. Wer heute Gelegenheit hat, das, was jetzt bekannt ist, mit dem zu vergleichen, was das Memoirenwerk des Jahres 1932 enthält, der wird rasch die Gründe finden, die die Herausgeber zu dieser Haltung damals auf Grund freundschaftlicher Ratschläge bestimmten.

Beim dritten Band des Nachlasses hat schließlich die Vorzensur des Auswärtigen Amtes teils verständnisvoll, teils unter Berücksichtigung der deutsch-sowjetischen Beziehungen mancherlei Bedenken geäußert, denen dann zwangsweise Rechnung getragen werden mußte. So wird bei der vollständigen Veröffentlichung dieser damals unterdrückten Dokumente der Eindruck erweckt, als sei der Schwerpunkt des Stresemann-sehen Wirkens und Strebens überwiegend oder ausschließlich im Westen gelegen. Die Ostprobleme erschienen dagegen schon nach dem Umfang der Darstellung, die ihnen gewidmet werden konnte, als eine weniger Zeit und Mühe raubende Angelegenheit. Dieser so entstandene Eindruck widerspricht den Tatsachen.

Dagegen sind sämtliche Dokumente — das heute einmal deutlich auszusprechen, ist eine Notwendigkeit — die sich auf die deutsch-französische Politik beziehen, vor der Drucklegung des Stresemann-Nachlasses dem Vertrauensmann des französischen Staatsmannes und Außenministers Aristide Briand, Professor Hesnard, vorgelegt worden. Es ist ein Beweis für die Korrektheit der Stresemann’schen Niederschriften, daß Herr Briand zu diesen Texten keinerlei wesentliche Änderungswünsche vorzubringen hatte. Der Leser, auch der Historiker, kann also davon ausgehen, daß die auf Briand bezüglichen Dokumente des Stresemann-Nachlasses von Herrn Briand gebilligt worden sind. Das gilt auch — um es besonders zu unterstreichen — für das im Nachlaß Stresemanns (Band 111, S. 1 5 ff.) dargestellte historische Gespräch zwischen Stresemann und Briand in Thoiry am 17. September 1926.

Inzwischen ist durch ergänzte Veröffentlichungen über die Ostpolitik manches in der Stresemann’schen Politik klarer, manches Hindernis, manche Hemmung tritt deutlicher hervor. Lind nicht zuletzt wird der in Verfolg des zweiten Stresemann-Bandes im Jahre 1932 entbrannte Streit um den Begriff „finassieren" geklärt. Aus dem Zusammenhang der in den vergangenen Jahren freigelegten Dokumente ist unschwer zu erkennen, daß Stresemann auf dem Weg über den Kronprinzen beim Reichspräsidenten v. Hindenburg in diesem Brief versucht hat, der deutschnationalen Agitation in Regierung und Reichstag, in der Öffentlichkeit und bei der Reichswehr, das Wasser abzugraben. Es kann heute gesagt werden, daß die Feststellung Stresemanns in dem Kronprinzen-brief vom 7. September 1925 seine politische Definition enthält. Stresemann schrieb am Schluß dieses Briefes: ». . . Deshalb wird die deutsdre Politik, wie Metternich wohl nach 1809 sagte, in dieser Beziehung zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren und den großen Entscheidungen auszuweichen.“

Heute wissen wir, daß dieser Zwang, zu „finassieren“ die Notwendigkeit bedingte, „den großen Entscheidungen auszuweichen“, und daß beide Begriffe zusammengehörten. Wo steckte also die große Frage, deren Entscheidung Stresemann ausweichen, deretwegen er „finassieren“ wollte, oder richtiger gesagt: „finassieren“ mußte?

In dem außerordentlich verdienstvollen Werk des kürzlich verstorbenen Erlanger Professors Ludwig Zimmermann: „Deutsche Außenpolitik in der Weimarer Zeit“ lesen wir den Satz: „In der berechtigten Zurüdtweisung der Legende von Stresemann als dem 'Vorkämpfer der europäisdien Integration darf seine Einsicht in die Schicksalsverbundenheit der gleidtbereddtigten, nebeneinanderstehenden europäischen Nationen und Nationalitäten nicht verlorengehen.“

Um welche „Legende von Stresemann“ handelt es sich dabei? Wir lesen heute in anderen historischen, auch polemisch-historischen Betrachtungen über Stresemann und seine Außenpolitik Urteile, die soweit gehen, daß die Außenpolitik der Weimarer Republik, die als aufrichtiges Streben zur Verständigung und Zusammenarbeit mit Frankreich angesehen und anerkannt war, die deutsche Politik der Versöhnung im Rahmen des Völkerbundes, die selbstverständlichen deutschen Bemühungen um eine Revision des Versailler Vertrages abzuwerten versuchte, sie in den Bereich berechnender Rückkehr zur nationalen Macht-politik zu verweisen und damit abzuwerten, sie sogar zu diffaminieren.

Was ist die Legende von und um Stresemann? Wer hat sie erfunden, und wer vertritt sie?

Nehmen wir diejenigen Historiker, die viel schärfer als Zimmermann den deutschen Außenminister der Weimarer Republik angreifen und ihm seine Verdienste um den Frieden und die Völkerverständigung bestreiten. Da ist in den Vereinigten Staaten Herr Professor Dr. Gatzke, der eine Aufgabe darin sieht, „Stresemann zu entidealisieren". Gut, gestehen wir Herrn Professor Gatzke zu, daß er als einer der ersten amerikanischen Historiker Gelegenheit hatte, den gesamten Stresemann sehen Nachlaß im Original zu studieren. Es scheint, daß er verschiedene Phasen von Erkenntnissen durchgemacht hat. Denn er hat neben sehr heftigen Vorwürfen gegen den unverbesserlichen „Nationalisten“ Stresemann in den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“ auch mancherlei geschrieben, was das Bild Stresemanns zwar nicht idealisiert, aber doch in seiner Zielsetzung gerecht und historisch richtig sieht. Gatzke hat aber u. a. ein paar leicht zu entwirrende innenpolitische Vorgänge, die als Politikum in die Fänge eines provinziellen Amtsgerichts gerieten, die wirklich nichts mit Außenpolitik zu tun haben, die ihm (Gatzke) aber geeignet genug erschienen, zum Anlaß genommen, um Stresemann als Charakter abzuwerten. Dieses billige Vergnügen soll man Gatzke lassen und nicht verübeln. Trotzdem unterscheidet er sich in seinen manchmal scharfen Formulierungen gegen Stresemann durchaus von einer seiner deutschen Schülerinnen, die in einer, „Politische Biographie“ betitelten Schrift über Stresemann von vornherein versucht, Stresemann zu diffamieren, ihn als eine Art Vorläufer Hitlers anzuprangern. Sie macht das sehr einfach, indem sie schon in der Einleitung sagt: „Es war eine seiner (Stresemanns) ideellen Grundüberzeugungen, daß Männer — . Führer“ — die Geschichte madten."

Nun ist es richtig, daß Stresemann in manchen seiner Reden und Aufsätze das etwas banale Wort, daß Männer die Geschichte machen, gebraucht hat. Eine „ideelle Grundüberzeugung“ ist dieses Zitat bestimmt nicht. Wenn aber in diesen Satz bewußt und mit einer bestimmten Zielsetzung der Begriff „Führer“ eingeschmuggelt, Stresemann sozusagen als Wegbereiter des Nationalsozialismus hingestellt wird, dann macht das den Eindruck der bewußten Abwertung und damit scheidet das Urteil als ernsthafte historische Kritik der Stresemann’schen Politik sehr rasch, ja von vornherein aus. Es gibt übrigens in dieser „Politischen Biographie" noch andere Beweise dafür, daß hier nicht historisch, sondern anti-Stresemannisch um jeden Preis gewertet wird.

Wer also hat die Legende von Stresemann erfunden, und wer hält sie aufrecht, wer muß sie verteidigen?

Nun, Professor Zimmermann hat das vor dem oben zitierten Satz ausgeführt, und es muß ganz im Zusammenhang gelesen werden. Zimmermann sagt: „Es ist in der Betraditung der verschiedensten Seiten der Politik Stresemanns deutlidt geworden, daß er die Grenzen, die ihm gezogen waren, nidtt überschreiten wollte, daß er vor allem den Krieg als Mittel der Revision ausschloß. Deshalb ist abschließend festzustellen, daß er an die friedlidie Revision glaubte. Von diesem Endziel seiner Politik her wird audt das ihrer nationalen und übernationalen Motive bestimmt.

Das ist eine objektive Beurteilung, die auch dadurch nicht beeinträchtigt wird, daß Zimmermann Stresemann und seinen Mitarbeitern die „Wiederherstellung einer echten Großmachtstellung Deutschlands unterstellt. Durchaus mit Recht. Was heißt denn Großmachtstellung in diesem Zusammenhang? Und was heißt „Stresemann und seine Mitarbeiter“? In der Weimarer Zeit gab es keinen Staatsmann, auch keinen Stresemann, der in der Lage war, eine einsame Politik mit einigen unbekannten oder gar hintergründigen Mitarbeitern zu betreiben. Stresemanns Mitarbeiter war, abgesehen von den Männern im Auswärtigen Amt, vom ersten Tage seines Wirkens als Außenminister die breite, als „Große Koalition“ in einem historischen Begriff zusammengefaßte Parlamentsmehrheit, die vom 13. August 1923 bis zum 3. Oktober 1929 die Außenpolitik Stresemanns in den Parteien und Fraktionen der Sozialdemokratie, der Demokratischen Partei, des Zentrums und der Deutschen Volkspartei im wahrsten Sinne des Wortes trug. Diese „Große Koalition“ hat von 1924 bis 1928 drei Wahlkämpfe um die Außenpolitik bestanden und jedesmal eine sehr große Mehrheit des deutschen Volkes für diese Stresemann’sche Außenpolitik gewonnen. Es gab sogar einige kurze Epochen, in denen die Oppositon der Deutsch nationalen Volkspartei diese Politik akzeptieren mußte. Die Motive der Mitarbeit der Deutschnationalen an der Außenpolitik brauchen nicht näher untersucht werden. Mit Ausnahme der Kommunisten und der wenigen Nationalsozialisten im Reichstag der Weimarer Republik hat es Stresemann verstanden, sich eine ganz breite parlamentarische Plattform zu schaffen. Diese außenpolitische Mehrheit war vorhanden bis zum im Jahre 1925 erfolgten Austritt der Deutschnationalen aus der Regierung, weil sie das Ergebnis Locarno nicht akzeptieren wollten; sie gab es dann wieder vom Januar 1927 bis zum März 1928. Auch in dieser Zeit hat Stresemann nicht ein Jota von seiner außenpolitischen Zielsetzung preisgegeben. Es gibt auch für diese Zeit keine Idealisierung, keine Legende, sondern nur harten Kampf auf der notwendigen parlamentarischen Ebene. Wenn sich die Historiker, die heute Stresemann „ent-idealisieren" wollen und die eine „Legende zerstören“ zu müssen glauben, einmal die Parlamentskämpfe um Stresemanns Außenpolitik aufmerksam ansehen, sie studieren, dann bleibt die Frage im Raume stehen: Wer hat denn idealisiert, wer hat eine Legende um und für Stresemann erfunden?

Etwa die Biographen Stresemanns? Nun, von den acht bis zehn Biographien, die bisher vorliegen, sind die meisten nach seinem Tode erschienen. Sie sind fast alle sehr sachlich und sehr nüchtern, müssen aber auch auf Grund des Zeitabstandes betrachtet werden. Vielleicht ist die beste und bedeutendste von einem Linksdemokraten, dem Publizisten des Berliner Tageblattes, Rudolf Olden, verfaßt. Natürlich gibt es hier und da, nicht bei Olden, die eine oder andere enthusiastischere Note und Bewertung. Diese LIrteile bewegen sich aber im allgemeinen auf der menschlicheren Ebene und der auch von Stresemanns Gegnern anerkannten Tragik, von der die letzten Lebensjahre überschattet waren.

Der Stresemann, der 1932, kurz nach seinem Tode, in dem dreibändigen Werk: „Gustav Stresemann-Vermächtnis" anhand seiner eigenen Aufzeichnungen der Öffentlichkeit präsentiert worden ist, war keine zurechtgemachte Idealgestalt; er wurde sehr offen und ehrlich vor-und dargestellt. Diese Veröffentlichung des Stresemann'schen Nachlasses hat in der Zeitspanne vom Mai 193 2, als der erste Band erschien, bis zum dritten Band im Mai 1933 — schon während des Dritten Reiches — ein außerordentliches Echo gefunden. Nicht nur in Deutschland, wo allerdings sehr bald nach dem Erscheinen des dritten Bandes die objektive Diskussion über Stresemanns Politik verstummte oder nur einseitig in nationalsozialistischem Sinne, d. h. in der massivsten Verdammung Stresemanns geführt wurde. Dieses auch heute noch von der Geschichtsschreibung anerkannte Werk, der Stresemann-Nachlaß, war insofern etwas Besonderes, als es der kühne Versuch war, anstelle einer vielfach beschönigenden Autobiographie aus Dokumenten, Briefen, Aufzeichnungen, Artikeln und Reden, den Mann selbst sprechen zu lassen. „Der Nachlaß in drei Bänden“, übrigens heute eine bibliographische Rarität, behandelte nur die Rolle Stresemanns als Reichskanzler und Außenminister, des Staatsmannes von 1923 bis 1929.

Schon damals allerdings wurde anerkannt, daß dieses Memoirenwerk kein Versuch sein konnte und wollte, Stresemann zu heroisieren, etwa eine Legende um ihn zu spinnen, ihn zu idealisieren. Das, was die Herausgeber boten, waren Tatsachen, zeigten den Mann, der damals schon als Staatsmann gewürdigt wurde, der für seine außenpolitische Konzeption sein ganzes eminentes Können und Wissen, seine Zielsetzung für ein in die Völkerfamilie zurückkehrendes, allerdings gleichberechtigtes Deutschland, auch seine Überzeugungskraft sowie seine Beredtsamkeit und seine gewandte Feder einsetzte.

Wo hat es denn das in der Geschichtsschreibung je gegeben? Ein Mann, dem das Schicksal durch einen allzufrühen Tod verwehrte, seine Politik in einer Autobiographie darzulegen und zu verteidigen, wird anhand seiner für den Zweck der Autobiographie gesammelten Akten dem LIrteil der Öffentlichkeit schon wenige, in diesem Falle nicht ganz drei Jahre nach seinem Tode, überantwortet.

Aber: das kühne LInterfangen wurde von Erfolg gekrönt. Gewiß, es gab schon auf dem diplomatischen Parkett bei der Veröffentlichung des ersten Bandes einige Schwierigkeiten. Es hagelte Proteste, die man verstehen mußte, weil Aufzeichnungen über Gespräche mit noch lebenden, Staatsmännern, Diplomaten und Politikern publiziert wurden. Das Auswärtige Amt mußte einige Demarchen abwehren. Die Herausgeber des Nachlasses sahen sich mancher Kritik gegenüber, und der Hauptverantwortliche stand nach Erscheinen des ersten und zweiten Bandes als zur Disposition stehender Beamter des Auswärtigen Amtes kurz vor einem Disziplinarverfahren, wenn sich nicht die führenden Männer des Auswärtigen Amtes, Außenminister Konstantin von Neurath und sein Staatssekretär Bernhard von Bülow großzügig und schützend vor ihn gestellt hätten.

Aber die Geschichte des Nachlasses Gustav Stresemanns ist viel zu umfassend, sie bedarf einer sehr sorgfältigen, aktenmäßigen Untersuchung und verantwortlichen Darstellung und kann deshalb über Andeutungen hinaus im Rahmen eines Artikels nicht ausführlicher behandelt werden.

Hier soll der Versuch gemacht werden, die wesentlichen und gröbsten Angriffe gegen Stresemann darzustellen und zu entkräften. Die staatsmännische Leistung dieses Mannes, der im Jahre 1923 als Reichskanzler eines vor dem Zusammenbruch stehenden Deutschen Reiches und als Außenminister verantwortlich handeln mußte, hatte natürlich ein Ziel. Zimmermann nennt es leicht kritisch „die Wiederherstellung der Groß-machtstellung Deutschlands.“ Nennen wir das, was Stresemann meinte und wollte einmal etwas bescheidener: die Wiederherstellung der Position Deutschlands als gleichberechtigter Partner der europäischen Staaten.

Dabei kann sich jeder, der die geschichtlichen Zusammenhänge erkennen will, leicht an der Karte Europas darüber orientieren, daß damals die heute hinter dem eisernen Vorhang gelegenen kommunistischen Staaten großen Wert darauf legen, europäische, das will sagen mit dem Westen verbundene Länder zu sein. Sie waren es auch!

Mit dieser europäischen Zielsetzung Stresemanns war ganz selbstverständlich verbunden eine vernünftige Regelung der Reparationsfrage, die Räumung des deutschen besetzten Gebietes von fremden Truppen, die Lockerung aller Fesseln des Versailler Vertrages und noch vieles andere, was unter dem Begriff Gleichberechtigung selbstverständlich war. Dazu gehörte natürlich auch Deutschlands Eintritt in den Völkerbund als europäische Großmacht, d. h. unter Einräumung eines ständigen Sitzes im Völkerbundsrat. Alles das waren Nah-und Fernziele.

Deutschland hatte 1923 den Ruhrkampf, der eine Art „kalten Krieges zwischen Deutschland und Frankreich“ war, mit schweren Opfern verloren. Nehmen wir die Bilanz des Jahres aus dem Tagebuch des damaligen britischen Botschafters in Berlin, Lord d Abernon, der am 31. Dezember 1923 folgendes niederschrieb: „Nun geht das Krisenjahr zu Ende. Die inneren und äußeren Gefahren waren so groß, daß sie Deutschlands ganze Zukunft bedrohten. Eine bloße Aufzählung der Prüfungen, die das Land zu bestehen hatte, wird einen Begriff davon geben, wie schwer die Gefahr, wie ernst der Sturm war. Obwohl ich diesen ganzen Zeitraum miterlebte und mich an manchen Ereignissen aktiv beteiligte, habe ich nicht immer im Augenblick erfaßt, wie schicksalsschwer die Lage war. Wenn man zurückblickt, sieht man klarer, wie nah dieses Land am Abgrund stand. In den zwölf Monaten vom Januar bis beute hat Deutschland die folgenden Gefahren überstanden: die Ruhrinvasion;

den kommunistischen Aufstand in Sachsen und Thüringen; den Hitlerputsch in Bayern;

eine Wirtschaftskrise ohnegleichen;

die separatistische Bewegung im Rheinlande.

Jeder einzelne dieser Faktoren, falls er sich ausgewirkt hätte, würde eine grundlegende Veränderung entweder in der inneren Struktur des Landes oder in seinen Beziehungen nach außen herbeigeführt haben. Jeder dieser Gefahrenmomente, falls er nicht abgewendet worden wäre, hätte jede Hoffnung auf eine allgemeine Befriedung vernichtet. Politische Führer in Deutschland sind nicht gewohnt, daß ihnen die Öffentlidtkeit Lorbeeren spendet, und doch haben diejenigen, die das Land durch diese Gefahren hindurchgesteuert haben, mehr Anerkennung verdient, als ihnen zuteil werden wird."

Nun: wer will diese realpolitische Betrachtung der Niederschrift Lord d’Abernons, die eigentlich nur eine eindrucksvolle Skizze der Situation und der Schwierigkeiten, die gemeistert wurden, darstellt, eine Heroisierung nennen? Ist sie es wirklich? Der politische Kopf und verantwortliche Parlamentarier der nach der Weimarer Verfassung die Richtlinien der Politik bestimmte, war in dieser Zeit, in hundert Tagen seiner Kanzlerschaft — Gustav Stresemann. Er selbst, auch die Herausgeber seines Nachlasses haben niemals behauptet, daß alles sein Werk gewesen ist. Das ist in einem demokratischen Staat und in einem parlamentarischen Kabinett eine Unmöglichkeit. Aber die Aufgabe dieses Reichskanzlers Stresemann war es, die verschiedenen, zum Teil auseinanderstrebenden Kräfte zusammenzuhalten, die Männer und Parteien, die dieses Reichskabinett trugen, mit überzeugenden Argumenten und Leistungen anzuspornen und zu beflügeln, wie eben Stresemann, und anscheinend nur er, es gekonnt hat. Jeder Beurteiler, Kritiker und Bewunderer wird gerade bei dieser großen Leistung, der Erhaltung des Reiches, der Stabilisierung der Währung, der Entwicklung einer neuen Außenpolitik, des Reichspräsidenten Ebert, des noch lebenden damaligen Reichsfinanzministers Dr. Luther gedenken. Und vieler, vieler anderer, die in Stresemanns Kabinett und in der Beamtenschaft des Auswärtigen Amtes — hier mögen die Namen des Staatssekretärs Carl von Schubert und des Botschafters von Hoesch stellvertretend für alle anderen genannt sein — nicht zuletzt auch im Parlament oder wo es auch gewesen sei, im Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit und auch auf die Leistungsfähigkeit Stresemanns, das vollbrachten, was heute Bestandteil unserer Geschichte ist. Was ist daran zu heroisieren? Was ist denn die Legende?

Wir haben die seltsame Tatsache zu verzeichnen, daß in der „Biographie der großen Deutschen“ der Name Stresemann fehlt. Wir finden als bedeutende Politiker der Weimarer Republik, als hervorragendste Männer des politischen zwanzigsten Jahrhunderts Friedrich Naumann und Friedrich Ebert. Mit Recht. Aber die Frage: wo bleibt Stresemann? ist von zahlreichen Historikern, Journalisten und Politikern gestellt worden. Bisher ohne Antwort. Prof. Michael Freund hat es mit Geschick verstanden, Gustav Stresemann in seinem guten Aufsatz über Friedrich Ebert in diese „Biographie der großen Deutschen“ meisterhaft in 100 Zeilen einzuschmuggeln — wenh dieser Ausdruck in diesem Zusammenhang statthaft ist. Mindert die Unterlassung — um nicht zu sagen Unlassungssünde — die durch das Verweigern der Aufnahme in diese „Biographie der großen Deutschen“ begangen worden ist, verringert das die Bedeutung Stresemanns und seine Leistung als Reichskanzler der hundert Tage im Jahre 1923 und seine fruchtbare Arbeit als Reichsaußenminister bis 1929 als d e r zentralen Figur der Weimarer Republik? Wir haben es in der Geschichte erlebt, daß in den Zeiten der Monarchen und der Feudalherrschaften große und kleine Kaiser, Könige, Fürsten, Herzöge und was es alles gab, mit einem Beinamen geschmückt wurden oder von ihren Adelsgefolgschaften mit Kennzeichnungen versehen wurden, die auch heute noch in den Geschichtsbüchern ihre Gültigkeit haben, ohne daß jemand sich der Mühe unterzieht, diese Bezeichnung auf ihre Berechtigung zu untersuchen.

Das gilt nicht für die verschiedenen Fürsten und Herzöge mit „der gebissenen Wange“ oder sonstigen körperlichen Kennzeichnungen, wie für „Philipp der Schöne" oder andere. Nein: man denke an die vielen, allzuvielen „Großen“ und die „Gerechten" und die „Weisen", die an irgend einen Namen angeheftet wurden, zu Recht oder zu Unrecht. Bitte: Friedrich der Große soll nicht als „Großer" abgewertet werden. Viele andere auch nicht! Die Geschichtsschreibung spricht auch von Bismarck als dem „eisernen Kanzler".

Niemand wird für Stresemann ein derartiges schmückendes Beiwort verlangen. Denn seine Leistung spricht für ihn. Das deutsche Volk, das kaum in der Lage ist, 30 oder 40 Jahre seiner jüngsten Geschichte richtig zu erfassen, wird nur zu einem geringen Teile mit dem Namen Stresemann etwas von der Not der 20er Jahre verbinden und mit dem mühsam beschrittenen Weg zur Einführung Deutschlands in die Völker-familie des Genfer Völkerbundes und Europa.

Wer weiß denn heute noch, daß dieser deutsche Außenminister der Weimarer Republik der erste Deutsche war, dessen Name 1926 in die damals schon lange Liste der Männer eingetragen worden ist, die den Friedensnobelpreis erhielten? Wer weiß denn heute, daß gerade dieser Friedensnobelpreis an eine besondere Leistung für die Völkerverständigung geknüpft und für den Frieden unter den Menschen verliehen wird. Und wer bewertet es? Sind wir so hochmütig, daß wir diese internationale Anerkennung eines deutschen Staatsmannes heute einfach beiseite schieben?

In der Eingangshalle des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik in der Koblenzer Straße in Bonn ist seit dem 10. Mai 1958, dem Tage, an dem Stresemann das 80. Lebensjahr vollendet hätte, eine Plakette mit dem Relief Stresemanns, das die Inschrift: „Dem großen Europäer“ trägt, angebracht worden. Es ist ein Geschenk der großen Organisation „Europa-Union“ an die Bundesregierung. Der Außenminister von Brentano hat bei der Entgegennahme dieser Tafel eine beachtenswerte Rede gehalten, die der europäischen Zielsetzung Stresemanns gerecht wurde. Man kann der Meinung sein, daß die Resultate der europäischen Zielsetzung Stresemanns und seiner Politik überschätzt werden. Denn damals — in der Zeit seiner Außenministertätigkeit — gab es noch keine so weitgehenden europäschen Vorarbeiten auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet wie heute.

Was aber war denn das Europäische in Stresemanns politischem Wirken und dem, was er erreicht hat? Sein wichtigstes außenpolitisches Ziel als Reichskanzler und Außenminister im Jahre 1923 war und mußte sein, die Beziehungen zu Frankreich, als einer der ersten Voraussetzungen für die Befriedung Europas, herzustellen. Denn bei seinem Amtsantritt als Kanzler war noch kalter Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, Krieg um Rhein und Ruhr. An der Spitze des französischen Staates stand Poincare, der unversöhnliche Deutschenhasser, dessen politisches Ziel es war, die französische Grenze am Rhein aufzurichten und sichern. Poincare, und nicht nur er wollten das Wort Wahrheit werden lassen, das Clemenceau, immer, obwohl er erst nach Stresemann gestorben ist, als sein heißestes Sehnen und als sein Testament bezeichnet hat, jenes Wort, das er an jedem Jahrestag seines Todes von dem dann herrschenden Ministerpräsidenten hören wollte: Clemenceau, du kannst ruhig schlafen, wir stehen am Rhein und wir bleiben am Rhein. Unerbittlich verharrte der Poincare des Jahres 1923 darauf, die von ihm geforderten Reparationspfänder zu erhalten und sie zu behalten, hart und unnachgiebig bestand er darauf, daß die besetzten Gebiete, das Ruhrgebiet als Pfand bleiben, bis die letzte Tonne Reparationskohle geliefert ist. Mit aller Härte und Entschlossenheit erklärte er 192 3 und noch später — auch seine linksgerichteten und verständigungsbereiteren Nachfolger erklärten das noch 1925: die Räumungsfristen des Versailler Vertrages haben noch nicht zu laufen begonnen. Es war also nicht nur eine deutsche Aufgabe und ein deutsches Ziel, im Interesse einer europäischen Zusammenarbeit die deutsch-französi-sche Verständigung um jeden Preis herbeizuführen. Dieser Aufgabe sah sich der Kanzler Stresemann gegenüber. Er hatte vom ersten Tag an versucht, mit Poincare ins Gespräch zu kommen und hat dabei manche Demütigung in Kauf nehmen müssen. Jede Sonntagsrede Poincares war hart und entmutigend. Viel Unterstützung fand der deutsche Kanzler bei aller grundsätzlichen Bereitschaft auch in England nicht. Erst nach und nach, erst als der passive Widerstand an der Ruhr durch Stresemann bedingungslos abgebrochen war, als es durch schwerste Belastungen unserer Wirtschaft gelang, die drückenden Reparationslieferungen wieder in Gang zu bringen, gab es zwar kein Entgegenkommen Pioncares, aber doch einen Weg zur Beendigung des kalten Krieges. • Natürlich auch der Staatsmann muß Glück haben. Deshalb wurden die unentwegten Bemühungen Stresemanns, mit Frankreich ins Gespräch und zu Verhandlungen zu kommen, belohnt. Einmal durch eine, von den Vereinigten Staaten angeregte, ja sogar geforderte Sachverständigenkommission zur Nachprüfung der deutschen Leistungsfähigkeit in der Reparationsfrage und dann durch das Ergebnis der französischen und britischen Wahlen im Jahr 1924, bei der neue verständigungsbereite Elemente ans Ruder kamen. In Frankreich Edouard Herriot und in Großbritannien der Labourführer MacDonald. Jetzt erst gelang es Stresemann, eine neue, großzügige Initiative zu ergreifen.

In der Reparationsfrage wurde 1924 durch das Dawesabkommen eine vorläufige Regelung erreicht, die zwar teuer genug war, aber doch zunächst eine Entlastung durch eine große Anleihe aus Amerika von 800 Millionen Mark brachte. Stresemann hatte bei der Reparationsregelung in erster Linie im Auge, die Befreiung deutschen Bodens von fremden Truppen zu erreichen. Das schien ihm für eine Politik der Gleichberechtigung wesentlich zu sein. Er hatte früher einmal davon gesprochen, daß „es auf eine Milliarde mehr oder weniger nicht ankommen dürfe“, wichtig sei für die deutsche Politik die Befreiung von fremden Truppen. Stresemann war sich klar darüber, daß die Verschuldung Frankreichs, Englands und der anderen Kriegteilnehmer an die Vereinigten Staaten mit 4 Milliarden mit den deutschen Reparationsverpflichtungen — im Dawesplan auf 2, 5 Milliarden berechnet — im Zusammenhang standen. Er hat das bereits 1925 in seinem viel angegriffenen Brief an den Kronprinzen Wilhelm sehr offen ausgesprochen. Er hat aber gleichzeitig auch gesagt und das Nahziel gekennzeichnet: „Wir müssen den Würger erst vom Hals haben“.

Dieser Kronprinzenbrief, auf den später noch zurückzukommen ist, gehört zu dem Arsenal derjenigen, die in Stresemann den unverbesserlichen Nationalisten sehen wollen, denen seine Verständigungspolitik mit Frankreich nur als eine Finte gilt, als Mittel zur „Weltmachtstellung.“ Deutschlands, zu neuen nationalen oder nationalistischen Entwicklungen.

Dieser Behauptung steht Stresemanns politische Initiative im Sicherheitsmemorandum vom 9. Februar 1925 gegenüber. Es war kein Genie-streich, auch keine neue Idee. Um diese Anregung ins politische Gespräch zu bringen und zum Ziele zu führen, hat es keiner Beeinflussung durch den britischen Botschafter in Berlin, Lord d’Abernon, bedurft, wie es heute fast leichtfertig und unkundig von Historikern behauptet wird. Es war nur eines notwendig: daß sich der deutsche Außenminister von vornherein darüber klar war, daß dieser Sicherheitspakt, wenn er abgeschlossen wurde, den endgültigen Verzicht des Reiches auf Elsaß-Lothringen erforderte, und hier gab es für ihn nur eine, die wichtigste Frage: wie sage ich es meinem Volke? Nun, Stresemann hat seine ganze Beredtsamkeit angewendet und seine ganze Überzeugungskraft eingesetzt, um die widerstrebenden Kräfte des nationalen Deutschlands dahin zu bringen, daß sie ihm glaubten: es ist nur ein Verzicht auf eine gewaltsame Wiedererwerbung Elsaß-Lothringens. So war es auch wirklich: Zur gewaltsamen Wiedererwerbung Elsaß-Lothringens hätte es einer Armee und eines Krieges bedurft und an Krieg und Gewalt dachte der Stresemann der 20er Jahre schon deshalb nicht mehr, weil er seine Erfahrungen aus der Zeit des ersten Weltkrieges gesammelt, seiner eigenen Annexionspolitik gedachte und zum Realpolitiker geworden war.

Der Pakt von Locarno war Stresemanns ureigenstes Werk und er wird auch heute noch in der Geschichte als solches gewertet. Wenn heute in der Welt irgendwo der Versuch gemacht wird, eine schwierige Situation zu meistern, Gegner zu versöhnen und ihren Besitzstand zu garantieren, dann spricht man automatisch von Locarno, dem Geist von Locarno.

Und dieses Locarno von 1925 war die Einleitung und Fortsetzung des Versuches der deutsch-französischen Verständigung um jeden Preis. Es ging alles sehr langsam, es gab Rückschläge und Enttäuschungen. Stresemanns Partner in Paris, Aristide Briand, der seine Nationalisten nur immer wieder mit der Versicherung an seine Politik heranreißen konnte, daß der Versailler Vertrag durch die Abmachungen von Locarno unberührt bleibe, der sogar soweit gehen mußte, im Parlament zu erklären, daß Locarno sozusagen die Bestätigung von Versailles sei, dieser Aristide Briand blieb, solange er konnte, der gemeinsamen Politik mit Stresemann treu.

Es kam dann 1926 Deutschlands triumphaler Einzug in den Völkerbund, es kam, wie schon erwähnt, der Friedensnobelpreis für Stresemann und Briand. Aber es kamen auch böse Rückschläge. Die Räumungsfrage ging nur schleppend vor sich. Die versprochenen Verminderungen der Truppen wurden verschoben, Briand mußte teils als Ministerpräsident, teils als Außenminister in einer Regierung Poincare, Zugeständnis um Zugeständnis an die nationalen Kreise Frankreichs mähen. Es kam von dem von Poincare veranlaßten oder wenigstens von ihm begünstigten Gespräch von Thoiry im September 1926 zwischen Briand und Stresemann zu einer Flaute in den deutsch-französischen Beziehungen. Der neugebackene Träger des Friedensnobelpreises Briand wurde im Dezember 1926 am Gare de Lyon in Paris bei seiner Rückkehr aus Genf mit Pfiffen empfangen.

Auf dieser Grundlage, die für beide Staatsmänner zu einem mühsamen Sihvorwärtstasten der politischen Konzeption, der Auseinandersetzungen mit ihren Parlamenten und Parteien, mit ihren Anhängern und Oppositionen, mit ihrer öffentlichen Meinung wurde, entwickelte sich das, was Voraussetzung für jede europäische Zusammenarbeit sein mußte, nämlich eine deutsch-französische Annäherung, ein Abgehen von dem lastenden Druck der Unsicherheit, dem jahrhundertealten Gesetz der Erbfeindshaft zwishen beiden Völkern.

Deshalb wurde die Stresemann’sche Initiative des Sicherheitsmemorandums vom 9. Februar 1925 und der daraus entstehende Locarno-Pakt vom 16. Oktober 192 5 die Nahtstelle der deutsch-französischen Zusammenarbeit und deshalb wurde die Garantie Englands und Italiens für die am Rhein und seinen Grenzen bestehenden Shwierigkeiten ein erstes Bekenntnis zum geeinten Europa.

Aber damit waren bei weitem niht alle Probleme gelöst. Shon in Locarno und bei den Vorverhandlungen hat es sih gezeigt, daß der Siherheitspakt die Bündnissysteme Frankreichs beeinträchtigte, ja gefährden mußte. Frankreih hatte Bündnisse mit Polen und der Tshehoslowakei. Beide Staaten sahen der deutsch-französischen Entspannung mit berehtigter Sorge entgegen. Allerdings fühlte sih die Tschehoslowakei weniger gefährdet als Polen. Für den tschechoslowakisehen Politiker und führenden Staatsmann Eduard Benesh handelte es sih mehr um eine Prestigefrage. Für Polen stand allein die deutshe Minderheitenpolitik, erst reht die deutshe Forderung auf eine Grenzrevision, die Rückkehr Danzigs, des Korridors und einzelner Teile Obershlesiens so stark im Vordergrund, daß es Frankreih in Locarno als den Verbündeten sehr massiv daran erinnerte, wie stark sein Bedürfnis zur Garantie seiner eigenen Grenzen gegenüber Deutshland sein mußte.

Aber in Locarno gab Deutshland dem polnishen Vertreter, der ein ehtes Verlangen seiner Regierung vorzutragen hatte, eine deutlihe Absage. In dem deutsh-französishen Gespräh, shon in den Vorverhandlungen, wurde ganz deutlich, daß Deutschland nur bereit war, im Rahmen eines Shiedsvertrages den Polen zu versihern, daß an eine gewaltsame Lösung dieser Probleme von deutsher Seite niht gedaht werde. Die Lösung der ganzen Frage wurde zunähst nur hinausge-schoben, zumal schon vor Beginn und während der Verhandlungen über den Locarnopakt auf den deutschen Außenminister ein altes Problem mit neuen Schwierigkeiten zukam. Das war das Bedürfnis der Sowjetregierung und ihr dringender Wunsch, eine einseitige Orientierung Deutschlands nach dem Westen zu verhindern.

Damit stehen wir wieder vor dem Brief Stresemanns an den Kronprinzen, den wir zitierten und in dem gesagt wird, daß es für die deutsche Politik gelte „zu finassieren und den großen Entscheidungen auszuweichen“. Damit sind wir in der historischen Bewertung und Betrachtung der Dinge wieder bei Stresemanns Grundkonzeption, seinen außenpolitischen Nah-und Fernzielen angelangt. Schon des Reichskanzlers Stresemann Ziele im Jahre 1923 richteten sich auf die folgenden 3 Punkte: l. ’Verständigung mit Frankreich, um jeden Preis einer Befriedigung der berechtigten Wiedergutmachungs-und Sicherheitsansprüche. 2. Rückführung Deutschlands in die Reihe der Großmächte am Genfer Ratstisch. 3. Abbau der unerträglichen Belastungen des Versailler Vertrags, vor allem der Rheinlandbesetzung und des Saarregimes. Über seine Fernziele hat Stresemann ebenso wenig Zweifel gelassen. Sie waren in erster Linie auf eine friedliche Revision der Ostgrenze gerichtet. Daß wir nicht willens waren, die Ostgrenze als gegeben hinzunehmen, ergibt sich eben aus den Locarno-Verhandlungen. Diese Haltung Deutschlands fand auf britischer Seite volles Verständnis; aber auch Aristide Briand hat sich dieser Einsicht nicht verschließen können. Stresemann hat 1925 vor dem außenpolitischen Ausschuß des Reichs-rates erklärt: „Briand sagte wir auch, die Polen seien sehr uninteressant, wenn Deutschland und Frankreich sich verständigten“.

Diese friedliche Bereinigung der Ostfrage, zu der bereits sehr hoffnungsvolle Ansätze in Besprechungen mit Polen im Jahre 1927 geschaffen worden sind, betrachtete Stresemann als eine Voraussetzung für die große europäische Aufgabe, die er vom-Wirtschaftlichen her lösen wollte und für die er nach der Regelung der Reparationsfrage im Youngplan kurz vor seinem Tode in seiner letzten Rede vor dem Völkerbund seine Richtlinie verkündete.

Die hier gekennzeichneten Ziele hat Stresemann aus eigener Über-zeugung vertreten. In einem parlamentarisch regierten Lande, wie die Weimarer Republik eines war, zumindest in der Zeit, in der Stresemann wirkte, wurden ihm natürlich noch andere Ziele aufgepackt, die er auf sich nehmen mußte, wie ein Lasttier, die er aber innerlich nicht billigte. Dazu gehört die sogenannte „vaterländische“ Frage des Anschlusses von Österreich an Deutschland, die sich 19 3 8 unter Billigung Frankreichs, Englands und Italiens von selber löste. Dazu hat Stresemann gelegentlich eine scherzhafte Äußerung des sehr witzigen, aber auch sehr real denkenden und erfolgreichen Berliner Bankiers Fürstenberg zitiert. Fürstenberg hatte die Anschlußfrage gelegentlich in den Satz — die Variation eines französischen Wortes — „Immer davon reden, nie daran denken“ gefaßt.

Das Ziel, das sich Stresemann selbst gesetzt hatte und dessen Kernstüdc eine deutsch-französische Verständigung war, wurde sowohl in Deutschland als auch in Frankreich zu einer Parteifrage gemacht. Die Durchführung dieser Politik wurde in beiden Ländern durch machtsüchtige Oppositionspolitiker gehemmt und sabotiert, für die nur der Gesichtspunkt galt: „geh weg, laß mich ran“. Daß auch Hugenberg mit den Franzosen paktieren konnte, wurde durch erstaunliche Enthüllungen im Jahre 1929 erwiesen, daß Schleicher dasselbe tat, war auch bekannt. Die ungehemmte Durchführung der Stresemann'schen Linie hätte allerdings der nationalen Opposition die Rückkehr zur Macht für alle Zeiten verbaut. Darum mußte sie, unter Berufung auf die soge-nannten vaterländischen Imponderabilien, mit allen denkbaren und undenkbaren Mitteln verleumdet werden, die aber einen Politiker der Weimarer Republik beunruhigen mußten.

Diese innenpolitische Seite der deutsch-französischen Bemühungen wurde einmal von Aristide Briand in einer für Deutschland sehr schonenden Weise wie folgt gekennzeichnet: „Ich kenne das deutsche Volk; der größte Teil des deutschen Volkes will unbedingt den Frieden. Ich zweifle nicht daran. Ein anderer Teil wird sich Mit Recht dagegen verwahren, daß Deutschland den Krieg will. Aber sie haben in ihrer Politik etwas, was idh die Politik der deutschen Mystik nennen Möchte. Das sind die Menschen bei ihnen, die in der Gegenwart keinen solchen Friedenstrakt haben Möchten, weil sie an irgend etwas Wunderbares glauben, was sich einwal ereignen Mödtte. Wenn Sie sie fragen, was dieses Wunder ist, so werden sie Ihnen keine Antwort geben können. Aber die Idee, daß ein Wunder geschehen Müsse, bringt sie dazu, in eine nebelhafte Zukunft hineinzuschauen und sie als Grundlage zu nehmen und dafür die hellen Augen für die Gegenwart überhaupt nicht mehr zu gebrauchen“.

Er fügte hinzu: „Sie dürfen sich aber nicht einbilden, daß Sie ein Monopol für solche Phantasten haben, die gibt es überall, und während Ihre Leute in die Zukunft sehen und an das Wunder glauben, gibt es bei mir Leute, die in die Vergangenheit sehen und Frankreich daran erinnern, daß wir einst in der Pfalz standen, daß Mainz einst französisch war, daß die Rheinpolitik die historische Politik Frankreichs wäre; und ich muß genau so gegen diese Leute in Frankreich kämpfen, wie Sie in Deutschland gegen diese Stimmung kämpfen müssen“.

Der Vorwurf der „Unaufrichtigkeit", der wiederholt in Deutschland gegen Stresemann erhoben wurde unter Hinweis auf die Veröffentlichung seines Nachlasses und die Resonanz in Frankreich, stammte damals zunächst in voller Lautstärke aus diesen reaktionären französischen Kreisen. Er ist Artikeln der äußersten französischen Rechtspresse entnommen, also Blättern, die hinsichtlich der deutsch-französischen Verständigung dieselbe negative Haltung einnahmen, wie etwa die damalige rechtsradikale „Deutsche Zeitung“ in Berlin oder der nationalsozialistische „Völkische Beobachter“, nämlich die Haltung der partei-. politisch bedingten Sabotage.

Diese Angriffe auf Stresemanns Politik erschienen zuerst in der „Action Francaise" und im damals keineswegs verständigungsfreundlichen „Figaro“. Sie stützten sich insbesondere auf jenen Brief, den Stresemann am 7. September 1925 dem ehemaligen Kronprinzen Wilhelm schrieb und aus dessen Zusammenhang die französischen Reaktionäre den nachstehenden Satz herauspickten.

Wir blenden deshalb zurück zum Kronprinzenbrief und wiederholen den entscheidenden von Stresemanns Gegner so gern zitierten Satz: „Deshalb wird die deutsche Politik, wie Metternich von Österreich wohl nach 1809 sagte, in dieser Hinsicht zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren und den großen Entscheidungen auszuweichen.“ „Finassieren“ ist ein ungebräuchlicher Ausdruck des barocken 17. Jahrhunderts, er ist von Metternich gleichgesetzt mit „den großen Entscheidungen auszuweichen“, und in diesem Sinne hat Stresemann das Wort „finassieren“ ebenfalls verstanden. Er hatte also im September 192 5 das Gefühl, daß er großen Entscheidungen ausweichen müsse.

Welches waren nun diese großen Entscheidungen? Das ist die Frage. Zu diesen großen Entscheidungen gehörten nicht die Probleme, die Stresemann im Eingang seines Briefes an den Kronprinzen aufzählt.

Diesen Fragen, die ich in Nah-und Fernziele der Stresemann-Politik eingruppierte, ist er nicht ausgewichen, hier hat er nicht „finassiert“. Im Gegenteil, er hat die Entscheidung über diese Fragen mit aller Entschlossenheit gesucht, er hatte auch die Frage der friedlichen Revision der Ostgrenze noch zu seinen Lebzeiten angeschnitten. Den Vorbehalt, den er zu der österreichischen Frage immer machte, habe ich schon angemerkt; er ist in dem Kronprinzenbrief ziemlich deutlich festgestellt. In diesen Fragen gab es also nichts zu finassieren. Sie lagen offen, waren nicht bloß den alliierten Staatsmännern, mit denen er es zu tun hatte, als Verhandlungsthemen angemeldet, sondern-auch urbi et orbi bekannt. Auch hinsichtlich des Locarno-Paktes, das heißt der Garantie der deutschen Westgrenze gegen kriegerische Revisionsversuche, gab es nichts zu finassieren, das heißt hier war keiner Entscheidung auszuweichen. Stresemann selbst ist der Erfinder dieser Politik, sie war sein liebstes Kind. Als er den Brief an den Kronprinzen schrieb, waren die letzten Schwierigkeiten auf dem Wege des Westpaktes eben durch eine Juristenkonferenz in London ausgeräumt worden, die Einladungen zur Locarno-Konferenz waren ergangen, die Koffer wurden bereits gepackt, die Hotelzimmer in Locarno waren bereits bestellt. Hier war keiner Entscheidung mehr auszuweichen.

Wo stecken also die großen Fragen, deren Entscheidung Stresemann ausweichen wollte, deretwegen er „finassieren“ wollte oder richtiger gesagt „finassieren“ mußte. Wer die so aufregenden Tage und Wochen erlebt hat, der weiß die Antwort; ich weiß sie aus eigener Anschauung. Man kann die Antwort aber auch in dem Brief selbst finden, wenn man genauer hinhört.

Es ist das ewige Problem, das uns in Deutschland erdrückt, in Kriegs-und Friedenszeiten, mit dem wir nie fertig werden und das heute noch viel bedrohlicher vor uns steht und vor dem wir uns heute nicht drücken können, selbst wenn wir wollten. Es ist die Frage der Option zwischen Ost und West. Man muß sich erinnern, wie über diese Fragestel-Stellung im Reichstag jener Tage gerungen wurde, oder die wenigsten werden sich daran erinnern, die den Beratungen des Auswärtigen Ausschusses des Reichstages zu jener Zeit beiwohnten, in denen sich die äußerste Rechte ebenso verzweifelt wie die äußerste Linke dem in den Weg warf, was man unter den Begriff „Ost-Locarno“ zusammenpackte.

Hier steckte die große Frage, der Stresemann ausweicht, in der er „finassiert". Denn das kann das deutsche Volk überhaupt erst nach dem zweiten Weltkrieg erfahren haben. Kaum 4 8 Stunden vor dem Tage, an dem der Sonderzug nach Locarno auf dem Anhalter-Bahnhof bereit gestellt wurde, erschien der russische Volkskommissar des Äußeren, Tschitscherin in‘Berlin, um von Stresemann die Antwort auf ein Angebot zu erheischen, das der Botschafter Graf Brockdorff-Rantzau auf eigene Rechnung und Gefahr, ohne Wissen seines Ministers und seines Staatssekretärs von den Sowjets entgegengenommen hatte: Dieses Angebot lautete wörtlich: „Polen auf seine ethnographischen Grenzen zurückdrängen“.

Der genaue Wortlaut dieser Gespräche zwischen Tschitscherin und Stresemann, die in den Nächten vom 30. September zum 1. Oktober und vom 1. zum 2. Oktober des Jahres 1925 stattgefunden haben, ist tatsächlich nur wenigen bekannt. Den Herausgebern des Stresemann-Nachlasses ist seinerzeit ein wesentlicher Teil des Inhalts vom Auswärtigen Amt gestrichen worden. Das mußte wohl so sein. Denn in Moskau war nach dem Erscheinen des ersten Bandes schon Besorgnis geäußert worden, wahrscheinlich wegen des unverhüllten Angebotes einer Teilung Polens zwischen Deutschland und Rußland. Die Bedeutung dieser Gespräche zwischen Tschitscherin und Stresemann ist gerade heute so evident und so kennzeichnend für die sowjetische Verhandlungstaktik, daß hier vielleicht der Ort ist, sie einmal Wort für Wort zu veröffentlichen, nachdem bisher nur vor Jahren in einer wissenschaftlichen Zeitschrift dieser Text erschienen ist. Man kann daraus ersehen, daß Stresemann eine solche Verabredung am Vorabend des Locarno-Vertrages hätte treffen können, diesem Ziel zuliebe hatte der Botschafter Graf Brockdorff-Rantzau in Berlin bei dem Reichspräsidenten von Hindenburg alle Minen springen lassen, das war das wahre Thema, das hinter den Erörterungen um Ost-Locarno und um den Artikel 16 der Völkerbundssatzung stand: „Eine deutsch-russische Vereinbarung, Polen auf seine ethnographischen Grenzen zurückzudrängen".. Der unzüchtige Russen-pakt von 1939 ist nicht ganz ausschließlich in Adolf Hitler’s Gärtchen gewachsen.

Die große Entscheidung, der Stresemann ausgewichen ist, war die Option zwischen Ost und West. Ob das richtig oder falsch war, ist eine andere Frage. Stresemann mußte ihr im Jahre 1925 ausweichen, weil er keine Ahnung haben konnte, ob seine Westpolitik die Früchte tragen würde, die er erhoffte.

Stresemann hat den Locarno-Vertrag mit einem deutsch-nationalen Kabinett machen müssen. Sein Nachlaß beweist schlüssig, wie widerstrebend er in eine Regierung mit den Deutsch-Nationalen hineingegangen ist und daß es sich für dieses sacrificum intellectus erst nachträglich eine Vernunftsbasis zurechtlegte. Er hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß ihm das Arbeiten mit der Sozialdemokratie hundertmal lieber war als mit den Deutsch-Nationalen. Leider ist der Reichskanzler Stresemann durch ein Mißtrauensvotum der SPD am 23. November 1923 gestürzt worden, eine der kurzsichtigsten Taten des kurzsichtigen deutschen Parlamentarismus, für die Friedrich Ebert, der Reichspräsident, das Urteil fällt: „Was Euch veranlaßt hat, den Kanzler zu stürzen, ist in zehn Wochen vergessen, aber die Folgen Eurer Dummheit werdet Ihr noch in zehn Jahren spüren.“

So geschah es. Den Locarno-Pakt hat Stresemann in einer wahren Sysiphusarbeit ganz allein mit der Hilfe eines getreuen Auswärtigen Amtes schaffen müssen. Selbst der Reichskanzler Luther mußte an das Hindernis aus innenpolitischen Motiven herangetrieben werden.

Der deutschnationale Minister Schiele erschien dem Reichskanzler Luther wichtiger als Briand. In dieser verzweifelten Situation suchte Stresemann sich bei dem Kronprinzen einen Bundesgenossen, um die Einflüsse zu konterkarrieren, die um den Reichspräsidenten von Hindenburg schwirrten, Einflüsse, die letzten Endes ihr gefährlichstes Argument bei dem Grafen Brockdorff-Rantzau suchten und bei dem „streng geheimen“ sowjetischen Angebot: „Polen auf seine ethnographischen Grenzen zurückzudrängen“.

Diesen innenpolitischen Machtfaktoren gegenüber konnte Stresemann nur den Weg des Kompromisses gehen, der in dem „Berliner Vertrag" lag und damit in einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West, die der deutsch-nationale Professor Hoetzsch einmal als einen neuen Rückversicherungsvertrag im Geiste Bismarcks pries. Ob Stresemann diesen Weg der Halbheiten gegangen wäre, wenn ihm von französischer Seite mehr geboten worden wäre, als ewiges Zaudern und Zögern, das ist füglich zu bezweifeln.

Auf einen Punkt muß aber mit Nachdruck hingewiesen werden: Die Frage der Abrüstung, lies Aufrüstung bei Nichteinlösung der Abrüstungsverpflichtungen des Versailler Vertrages, steht wohlgemerkt nicht einmal auf der Programmliste, die Stresemann dem Kronprinzen schrieb, damit dieser sie indiskreterweise dem Alten Herrn zeigen möge.

Deshalb war auch nie Friede zwischen Stresemann und dem damaligen Oberstleutnant von Schleicher.

Das russische Programm, die Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen, hätte sich allerdings nie ins Auge fassen lassen, ohne die Ausgleichung des Rüstungsunterschiedes gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages. Diese Frage hat Stresemann nie beschäftigt. Es war Heinrich Brüning vorbehalten, sie zum Kernstück seiner Außenpolitik zu machen, womit er dem Teufel den kleinen Finger reichte.

Selbstverständlich ist Stresemann nicht als ein frankophiler Pazifist geboren worden. Emil Ludwig schrieb 1929 ihm einen Epilog an seiner Bahre: „In der Geschichte aber wird seine Gestalt ein Symbol der Wandlung bedeuten. Ein reiner Imperialist, der an den Primat der Wirtschaft nur allzusehr glaubte, ein wilder Annexionist, der 1915 alle französischen Erze haben wollte, hielt er sich im November 1918 besser als gewisse Zeitgenossen. Denn er ist von heute auf morgen in fünf Minuten nicht rot geworden. Statt dessen wurde er in fünf Jahren sdiwarzrot-gold. Er sah, daß nicht die alte Revandiefrage derer, aus deren Kreisen er hervorging, Deutschland emporführen könnte, sondern nur der Gedanke des Völkerbundes. Als idi ihn während der fatalen Warte-pause in Genf im März 1926 spradt, wo man Deutsdtland vor dem Eintritt antichambrieren ließ, wie ein nidit für fair geltendes neues Klub-mitglied, fragte er mich auf meine verdrossene Miene hin: „Nun, was würden Sie tun?“ „Abreisen" sagte ich. „Das gäbe freilich einen billigen Triumph in Berlin“ sagte er, „aber er lod^t wich nicht“; in solchen Augenblid^en zeigt sidt eben der Staatsmann.“ Vielleicht wäre es ein billiger Triumph in Berlin bis in die Reihen der SPD hinein gewesen, wenn Stresemann in der großen Entscheidung nicht „finassiert“ hätte, die ihm von Moskau angetragen wurde, und mit der er vielleicht sogar die Franzosen hätte vergewaltigen können.

Wenn er hier „fassiniert“ hat, wenn er hier der großen Entscheidung ausgewichen ist, so hat er sich auch hier als großer Staatsmann erwiesen.

In der gleichen Nummer der „Vossischen Zeitung“ in der Emil Ludwig die obigen Sätze schrieb, setzte einer der wenigen getreuen Journalisten, die Stresemann auf seinem Weg begleiteten, Max Reiner, die Überschrift über einen Nachruf auf den am 3. Oktober verschiedenen Staatsmann: „Ein großer Deutscher. Mehr als ein Verlust — ein Unglück“.

Das war es. Nach seinem Tode begann eine außenpolitische Fassaden-kletterei, die in der österreichischen Zollunion und in der Hervorkehrung der Abrüstungsfrage durch Brüning ihren Ausdruck und in der Tragödie des Laval-Briand-Besuches in Berlin ihr Ende fand. Der Einzige, mit dem Briand in diesen Tagen des Jahres 1931 über Glück und Ende der deutsch-französischen Verständigung gesprochen haben dürfte, war der Tote auf dem Luisenstädtischen Friedhof, vor dessen Grabstein der Franzose lange schweigend verharrte.

Die Urteile, die in der Gegenwart aus der Zeit vor 25 bis 30 Jahren aus durchsichtigen Quellen über einen Mann gefällt werden, dessen Tod mehr als ein Verlust, sondern eben ein Unglück war, werden seiner Persönlichkeit nicht gerecht. Alle neuerlichen Angriffe gegen Stresemanns Politik, seine Außenpolitik als „unaufrichtig“ zu deklamieren, in teilweise böswilligen Anschuldigungen gegen ihn, um auch die Weimarer Republik mit ihrer großen, parlamentarischen Mehrheit für Stresemann, zu diffamieren, sind zwar leicht zu widerlegen, aber deshalb besonders gefährlich, weil der Friedenswille des deutschen Volkes der Weimarer Zeit angezweifelt wird.

In der internationalen Literatur, die sich gegen Stresemanns Europapolitik wendet, findet sich eine besondere Art der Darstellung der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, insbesondere in der Amtsperiode Stresemanns. Diese Leute glauben nachweisen zu können, daß Deutschlands Außenpolitik in der Weimarer Republik „auf zwei Schultern Wasser trug“.

So hat ein englischer Historiker, Professor E. H. Carr, in einem 1952 erschienenen Werk „German-Soviet Relations — between the World Wars 1919— 1939“ insbesondere die Stresemannsche Außenpolitik dargestellt, als ob dieser eine Politik betrieben hätte, die — so drückt es Carr auch aus — „doppelzüngig" gewesen sein.

Stresemann habe zu Gunsten Deutschlands den Westen gegen den Osten ausgespielt. Carr und andere Betrachter der geschichtlichen Entwicklung können zu einem solchen Fehlurteil nur deshalb kommen, weil sie entscheidende Dokumente des Stresemann’schen Nachlasses überhaupt nicht oder nur oberflächlich kannten. Vielleicht hat Carr es selbst empfunden, da seine Aufzeichnungen über Tschitscherin, Litwinow, den russischen Botschafter, und über andere russische Diplomaten nicht vollständig sein konnten. Das Gleiche empfindet ein anderer Betrachter der diplomatischen Beziehungen Deutschlands zur Sowjetunion, der die Entwicklung vom sowjetischen Standpunkt aus sieht. Er spricht offen aus, daß er alles, was bisher veröffentlicht worden ist, als lückenhaft ansieht.

Es ist nicht die Aufgabe einer Betrachtung über Stresemann und seine Politik im einzelnen die Beziehungen aufzuzeigen, die sich aus der so-genannten Privat-Politik der Reichswehr, also des Generals von Seeckt und seines Mitarbeiters Kurt von Schleicher, ergeben. Auch die Beziehungen zwischen Reichswehr und Roter Armee werden erst langsam aufgehellt, ohne daß bisher die finanziellen Größenordnungen dieser Beziehungen bekannt geworden sind. Da auch in der bisher erschienenen Memoirenliteratur diese militärtechnischen und auf Rüstungsaufgaben beschränkten Beziehungen zwischen der Reichswehr und der Roten Armee mit geheimnisvollen Aspekten auf politische Kombinationen angefüllt sind, wird noch mancherlei Unklares bestehen bleiben.

Die schon 1940 erschienenen Seeckt-Memoiren, auch andere Veröffentlichungen, insbesondere aus der Zeit nach 1945, sind zum Teil schon recht aufschlußreich. Sie sind aber nur insofern beweiskräftig, als sie sehr eindeutig zeigen, daß die deutsche Außenpolitik in ihrer entscheidenden Epoche, nämlich der Stresemann’schen, eine Politik europäischer Gestaltung und europäischer Willensbildung gewesen ist. Hier sind die Versuche, das deutsche Schicksal zwischen Ost und West in eine Richtung zu lenken, die der abendländischen Kultur — um diesen Ausdruck zum besseren Verständnis zu gebrauchen — wieder einen festen Boden zu sichern, um das damalige Europa, dessen Grenzen viel weiter östlich lagen als in der Gegenwart, zu gestalten. Das Deutschland zwischen Ost und West, das damals in Einheit und Freiheit existierte, gibt es heute nicht mehr.

Die Sowjetunion und Deutschland — die beiden Deutschland der Gegenwart — sind Größenordnungen, die in ganz anderer Form in das Weltgeschehen eingebaut sind. Gerade deshalb ist es entscheidend, die historische Entwicklung kennenzulernen, die Fundamente, auf denen Stresemann die ausgleichende Wirkungsfähigkeit Deutschlands aufbaute, zu studieren und sich daraus ein LIrteil zu bilden. Jeder Versuch, Stresemann der Doppelzüngigkeit auf Grund des „Berliner Vertrages" und der militärtechnischen Vereinbarung zwischen Roter Armee und Reichswehr zu zeihen, muß scheitern angesichts der Tatsache, daß den Vertragspartnern von Locarno und den Westmächten alle Einzelheiten der Verträge, auch der Abmachungen militärtechnischer Art, bekannt waren. Die Westmächte haben sich damals nicht geniert — das war ihr gutes Recht — in einer kritischen Situation im Jahre 1927 an den deutschen Außenminister Stresemann zu appellieren, er möge die guten Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion nutzen, um die aus den Gegensätzen zwischen West und Ost drohenden Gefahren für den Frieden zu bannen.

Ich möchte auch hier auf „Stresemanns Vermächtnis" verweisen, deutsche Ausgabe, Band 3, Seite 152 f. Dort wird ein nie angezweifeltes Gespräch veröffentlicht, das zwischen Vertretern der großen Mächte in Genf am 15. Juni 1927 stattgefunden hat. Damals war ein Konflikt zunächst zwischen Polen und Rußland entstanden, der sich zu einer internationalen Sorge für die Bedrohung des Friedens ausweitete.

Stresemanns unwidersprochenes Protokoll sagt aus: „Nach längeren Ausführungen Einzelner erklärte Herr Chamberlain: Ich wende n-iidt an Dr. Stresemann und bitte ihn, bei den Beziehungen Deutschlands zu Rußland seinerseits die Initiative zu ergreifen, um auf Rußland einzuwirken. Herr Stresemann scheint mir dazu der Geeignete zu sein. Sie (zu Vandervelde gewandt) gelten den Kommunisten als Verräter, ich gelte als offener Feind, Herr Scialoja ist nicht beliebt, und ob Herr Briand diese Mission mit Glüd^ erfüllen könnte, steht dahin. Aber Rußland hat in Deutschland eine Macht an seiner Seite, die ihm freundlich gegenübersteht und mit Rußland in guten Beziehungen lebt. Vereinigen Sie sich mit mir in dem dringenden Appell an Deutsdiland, seine Beziehungen zu Rußland, und in dem Appell an Herrn Stresemann, seine Beziehungen zu Tschitscherin auszunutzen, um Rußland und die Welt davor zu bewahren, daß wir wegen dieses Zwisdnenfalls den Frieden Europas gefährdet sehen.

Stresemann: Ich glaube, daß eine Einwirkung auf Tschitsdierin wohl möglidi wäre. Aber ich kann ihn in dieser Wodte nicht mehr persönlich spredien. Wenn ich nadt Berlin zurückkomme, ist er in Moskau. Ich glaube nicht, daß Tsdiitscherin das Vorgehen in Moskau billigt, denn er hat im ersten Augenblid^, als er von den Vorgängen in Warschau hörte, sie nicht als politisdt, sondern als persönlidt aufgefaßt. Idt werde mich mit dem Grafen Brockdorff-Rantzau in Verbindung setzen und sehen, ob er mit Tschitsdierin spredten kann. Sonst werde ich mit ihm durch das Auswärtige Amt sprechen.“

Stresemanns Politik zwischen West und Ost gewinnt durch die historische Forschung an Klarheit. Sie war eine Konzeption des Ausgleichs, allerdings aus der Überzeugung, daß der Westen zusammenstehen muß über alle historischen Auseinandersetzungen hinweg, um dem Wollen und den Zielen des revolutionären Ostens Widerstand zu leisten. Weder Hitler noch Churchill, Roosevelt oder Truman haben zu rechter Zeit erkannt oder erkennen wollen, daß es bei den Verbündeten, Partner oder Gegner stets um alles ging, was die westliche Welt an Kultur-werten sowie an wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften zu bieten hatte. Die Motive der jeweiligen Politik der Mächte der Welt zum Paktieren mit dem Bolschewismus waren verschieden. Es war immer wieder eine Politik der Zweigleisigkeit, des Egoismus, der Kurzsichtigkeit. Demgegenüber liegt das Wollen im Wirken Stresemanns in geradezu idealer Klarheit fest. Es war die Erkenntnis über die Gefahren der weltrevolutionären Macht des Ostens und das Wollen, ihr zur rechten Zeit durch die Zusammenfassung eines geeinten Europas einen Faktor gegenüberzustellen, der den Frieden sichert.

Deshalb sind seine Ausführungen in dem so stark angegriffenen Brief an den Kronprinzen über das Problem des Optierens zwischen Ost und West, sowie seine Sorgen, was geschehen könnte, wenn die Russen die Rote Fahne in Berlin hissen, fast als Äußerungen eines Sehers zu bewerten.

Stresemann starb vor dreißig Jahren. Der 3. Oktober 1959 wird auf lange Sicht der letzte Gedenktag sein, der sozusagen offiziellen Charakter hat. Stresemanns historischer Standort steht fest. Sein Charakterbild schwankt nicht in der deutschen und europäischen Geschichte, auch wenn hie und da einer daran rüttelt oder versucht, dies zu tun. Selbst Oldens Feststellung, daß Stresemanns Figur „umstritten bleibt“, daß er „bewundert und geliebt, gescholten und gehaßt“ wurde — alles im Jahre 1929, wenige Wochen nach Stresemanns Tod ausgesagt —, versinkt im geschichtlichen Raum. Bestehen bleibt dagegen Oldens Feststellung, daß Stresemann in diesen Jahren von 1923 bis 1929, die Olden „die Wende der Zeit“ nennt, Deutschland war. Nun, er war es.

Niemand kann ergründen und ermessen, was ein gesunder Stresemann geschafft und erreicht hätte, als nach der Haager Youngplan-Konferenz des Jahres 1929 und nach der europäischen Aussprache in Genf, bei der Briand und Stresemann die Wortführer waren, an tatsächlichen politischen und wirtschaftspolitischen Konzeptionen möglich gewesen wäre. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die im Sommer spürbar wurden, mußten die Schritte für eine europäische Kooperation beschleunigen. Das kam 1930 in dem viel verkannten Briand’schen Europa-Memorandum zum Ausdruck.

Damals, im Mai 1930, war Stresemann schon tot. Es waren aber schon alle Teufel des Nationalismus in Deutschland und Frankreich losgelassen. Stresemann hat die Schwierigkeiten für die konsequente Fortsetzung seiner Politik der deutsch-französischen Zusammenarbeit so wie sie im September 1959 durch Briand und Stresemann von der Tribüne des Völkerbundes als europäische Zukunftshoffnungverkündet wurde, nicht unterschätzt. Er war noch kurz vor seinem Tode nicht bereit, den nationalistischen Tendenzen Raum zu geben, sondern er wollte versuchen, sich dem deutschen Nationalismus entgegenzuwerfen. Im Hintergrund waren die Kräfte gegen die Verständigung mit Frankreich schon lange deutlich erkennbar. Darüber gibt ein Gespräch Auskunft, das Stresemann am 22. Mai 1929, wenige Monate vor seinem Tode, mitten im Ringen um den Young-Plan hatte. Dieses Gespräch wurde zwischen dem Reichs-präsidenten von Hindenburg, dem Sozraldemokraten Hermann Müller, dem Kanzler der großen Koalition, und dem Außenminister Stresemann geführt: „Der Reichspräsident hatte heute den Reichskanzler und den Reichsau^enminister eingeladen, um eine Aussprache über die außenpolitische Lage herbeizuführen.

Der Reichspräsident eröffnete die Besprechung, indem er folgende Gedanken darlegte: , Da demnächst die Verhandlungen in Paris zu Ende gehen werden, ergibt sich für Deutschland die Frage, nach welcher Richtung die Politik in Zukunft sich wenden soll. Deutschland muß wieder Alliierte bekommen, vor allen Dingen um die Möglichkeit zi haben, den Korridor wiederzuerhalten.

An eine Allianz mit Frankreich glaube ich nicht, solange Briand und Poincare am Ruder sind. Dagegen scheint es mir notwendig zu sein, gelegentlidi mit den Engländern ein Wort zu spredten und ihnen zu sagen, daß sie doch töricht daran getan haben, Frankreich derartig mächtig in Europa werden zu lassen. Man sollte versuchen, mit England in nähere Beziehungen zu kommen.

Italien schätze ich persönlich sehr gering ein, aber wenn es mitkommt, kann es nicht scltaden, denn zwei Alliierte sind besser als einer.

Idt möchte gern die Ansidtt der Herren darüber hören!

Sowohl der Reichskanzler wie der Reichsaußenminister entgegneten dem Reidtspräsidenten, daß sie mit seinem Wunsch, die unmöglidten Verhältnisse des polnisdten Korridors zu ändern, vollkommen übereinstimmten. Eine solche Entwiddung, wie er sie kennzeidme, brauche aber sehr lange Zeit. Zunächst komme es darauf an, die Räumungsfrage und die Saarfrage in Ordnung zu bringen und die sogenannte Generalliquidation des Krieges herbeizuführen. Dann könne man erst die weitere Politik in Aussidit nehmen. England werde allein kaum in der Lage sein, ein Abkommen mit Deutschland zu treffen.

Der Reidtsaußenminister betonte, daß die Locarno-Politik gerade deshalb begründet worden sei, um nach dem Osten friedliche Lösungen herbeizuführen und Polen nicht den unentbehrlidien Bundesgenossen Frankreichs werden zu lassen. Sobald diese Generalliquidation des Krieges beendet sei, werde man audt mit Frankreich und England darüber sprechen können, daß die Situation Deutschlands nicht dauernd so bleiben könne, wie sie nach der erfolgten Abrüstung sich für Deutsdiland gegenwärtig darstelle.“

Es wäre an der Zeit, daß die Historiker, auch diejenigen, die dauernd an Stresemann herummäkeln und ihn als Nationalisten hinzustellen versuchen, an Hand gerade dieser Aufzeichnung Stresemanns seine große europäische Zielsetzung erkennen und würdigen.

Wer auch immer aus der deutschen und europäischen Geschichte heraus versucht, Stresemann zu bewerten, der sollte alles studieren, was bisher nicht zur Verschönerung, sondern zur Erkenntnis der Wahrheit -bekannt ist.

Stresemann, ein deutscher Staatsmann europäischer Prägung, braucht keine landläufige Kennzeichnung als „großer Deutscher“, die ihm verwehrt wurde. Jeder, der Geschichte beurteilen kann, wird dankbar anerkennen, daß das Auswärtige Amt in Bonn dem Eintretenden jene Plakette mit Stresemanns Kopf und der Inschrift: „Dem großen Europäer“ als Verbeugung und Wertung darbietet.

Gustav Stresemann, Deutschlands bedeutendster Außenminister und Kanzler der Weimarer Zeit starb am 3. Oktober 1929. Er war 51 Jahre und knapp fünf Monate alt.

Anhang

I. Der „Kronprinzenbrief”

Stresemann an den Kronprinzen Wilhelm von Preußen, 7. September 1925:

(Die kursiv gesetzten Zeilen dieses Briefes sind in der 1932 veröffentlichten Fassung des Stresemann’schen Nachlasses, Band II, Seite 55 3 ff, weggelassen worden).

Eurer Kaiserlichen Hoheit bitte ich verbindlichsten Dank aussprechen zu dürfen, für die Darlegungen Ihres Briefes vom 28. August. Ich freue mich, daß das kleine Büchlein, über das ich mit Eurer Kaiserlichen Hoheit gesprochen habe, Ihr Interesse gefunden hat. Gestatten Sie mir, Ihnen gleichzeitig von Berlin aus eine Zeitschrift übersenden zu dürfen, in der Dr. Hans Schumann Darlegungen über den Sicherheitspakt veröffentlicht hat, die zum großen Teil den Fragenkomplex berühren, der in Ihrem Schreiben aufgeworfen ist, Darlegungen, die auf Grund eingehender Besprechungen mit mir herrühren und insoweit meine eigenen Ansichten *w). iedergeben

Zu der Frage des Eintritts in den Völkerbund möchte ich folgendes bemerken: die deutsche Außenpolitik hat nach meiner Auffassung für die nächste, absehbare Zeit drei große Aufgaben:

Einmal die Lösung der Reparationsfrage in einem für Deutschland erträglichen Sinne und die Sicherung des Friedens, die die Voraussetzung für eine Wiedererstarkung Deutschlands ist.

Zweitens rechne ich dazu den Schutz der Ausländsdeutschen, jener zehn bis zwölf Millionen Stammesgenossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben.

Die dritte große Aufgabe ist die Korrektur der Ostgrenzen: die Wieder-gewinnung von Danzig, vom polnischen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien.

Im Hintergrund steht der Anschluß von Deutsch-Österreich, obwohl ich mir sehr klar darüber bin, daß dieser Anschluß nicht nur Vorteile für Deutschland bringt, sondern das Problem des Deutschen Reiches sehr kompliziert (Verstärkung des katholischen Einflusses, Bayern plus Österreich gegen Preußen, Vorherrschen der klerikalen und sozialistischen Parteien in Deutsch-Österreich).

Wollen wir diese Ziele erreichen, so müssen wir uns aber auch auf diese Aufgaben konzentrieren. Daher der Sicherheitspakt, der uns einmal den Frieden garantieren und England, sowie, wenn Mussolini mitmacht, Italien als Garanten der deutschen Westgrenze festlegen soll. Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Frankreich wegen der Rückgewinnung Elsaß-Lothringens, ein deutscher Verzicht, der aber insoweit nur theoretischen Charakter hat, als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht. Die Reparationslasten, die uns der Dawesplan auferlegt, werden voraussichtlich schon 1927 untragbar sein. Wir müssen dann eine neue Konferenz verlangen zur Neufeststellung der deutschen Leistungsfähigkeit, ein Recht, das uns nach dem Versailler Vertrag je-derzeit zusteht. Bei Vergleichung der 2, 5 Milliarden, die wir als Maximalsumme zu zahlen haben (m. E. können wir nicht mehr als 1, 75 Milliarden bezahlen), mit den durchschnittlich über vier Milliarden an Verzinsung ihrer Kriegsschuld, die die Gegenseite zu zahlen hat, müssen wir bedenken, daß die Gegner steuerlich mindestens ebenso belastet sind wie wir.

Die Sorge für die Ausländsdeutschen spricht für den Eintritt in den Völkerbund. Ich darf auf die Ausführungen von Krammarsch hinweisen, die in der oben erwähnten Zeitschrift wiedergegeben sind. Auch das Saarland, selbst die am weitesten rechts stehenden Politiker sind für diesen Eintritt. Wir werden in Genf der Wortführer der ganzen deutschen Kulturgemeinschaft sein, weil das gesamte Deutschland in uns seinen Hort und Schild sehen wird. Die Bedenken, daß wir im Völkerbund überstimmt werden, gehen von der falschen Voraussetzung aus, daß es in diesem Völkerbundsrat, der die Entscheidung hat, eine Überstimmung gibt. Die Beschlüsse des Völkerbundsrats müssen einstimmig gefaßt werden. Deutschlands ewiger Sitz *) im Völkerbundsrat ist ihm zugesichert. Wenn wir jetzt im Völkerbundsrat wären, würde Polen und Danzig in der Frage der Post nicht durchkommen, weil der Einspruch des deutschen Vertreters genügen würde, um diesen Anspruch zurückzuweisen. Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien, die sämtlich durch internationale Verträge gebunden sind, für ihre Minderheiten, d. h. speziell für die deutschen Minderheiten, zu sorgen, werden sich nicht so sträflich über ihre Verpflichtungen hinwegsetzen können, wenn sie wissen, daß Deutschland alle diese Verfehlungen vor den Völkerbund bringen kann. Zudem sind alle die Fragen, die dem deutschen Volk auf dem Herzen brennen, z. B. Fragen der Kriegsschuld, allgemeine Abrüstung, Danzig, Saargebiet usw. Angelegenheiten des Völkerbunds die durch einen geschickten Redner im Plenum des Völkerbunds zu ebenso vielen Unannehmlichkeiten für die Entente werden können. Frankreich ist **) bei dem Gedanken des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund durchaus nicht entzückt, während England ihn herbeiwünscht, um Frankreichs bisher überragenden Einfluß in dem Völkerbund entgegentreten zu können.

Die Frage des Optierens zwischen Osten und Westen erfolgt durch unseren Eintritt in den Völkerbund nicht. Optieren kann man ja übrigens nur, wenn man eine militärische Macht hinter sich hat. Das fehlt uns leider. Wir können weder zum Kontinentaldegen für England werden, wie einige glauben, noch können wir uns auf ein deutsch-russisches Bündnis einlassen. Idi warne Vor einer Utopie, mit dem Bolschewismus zu kokettieren. Wenn die Russen in Berlin sind, weht zunächst die rote Fahne vom Schloß, und man wird in Rußland, wo man die Weltrevolution wünscht, sehr zufrieden sein, Europa bis zur Elbe bolschewisiert zu haben, und wird das übrige Deutschland den Franzosen zum Fraß geben. Daß wir im übrigen durchaus bereit sind, mit dem russischen Staat, an dessen evolutionäre Entwicklung ich glaube, uns auf anderer Basis zu verständigen, und uns durch unseren Eintritt in den Völkerbund durchaus nicht nach dem Westen verkaufen, ist eine Tatsache, über die ich E. K. H. gern gelegentlich mündlich Näheres sagen würde.

Die große Bewegung, die jetzt durch die Naturvölker geht, die sich gegen die koloniale Beherrschung großer Völker wendet, wird, glaube ich, durch unseren Eintritt in den Völkerbund in keiner Weise zum Schaden dieser Völker beeinflußt. Das Wichtigste ist für die unter berührte Frage der deutschen Politik das Freiwerden deutschen Landes von fremder Besatzung. Wir müssen den Würger erst vom Halse haben. Deshalb wird die deutsche Politik, wie Metternich von Österreich wohl nach 1809 sagte, in dieser Beziehung zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren und den großen Entscheidungen auszuweichen.

Ich bitte E. K. H., mich auf diese kurzen Andeutungen beschränken zu dürfen, und darf im übrigen wohl bitten, diesen Brief selbst — den ich absichtlich nicht unterzeichne, damit er nicht, audt nur aus Versehen, in fremde Hände fällt — freundlichst unter dem Gesichtspunkt würdigen zu wollen, daß ich mir natürlich in allen meinen Äußerungen eine große Zurückhaltung auferlegen muß. Wollen E. K. H. mir Gelegenheit geben, über diese Fragen, die demnächst ja zur Entscheidung drängen, in einer ruhigen Stunde sprechen zu können, so stehe ich gern zur Verfügung.

Ein kleine Schrift, „Die Sendung des Prinzen Wilhelm“, darf ich gleichfalls von Berlin nach Oels abgehen lassen. Ich bitte, sie freundlichst unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, welcher Mittel sich einst Stein und Hardenberg bedienen mußten, um den preußischen Staat am Leben erhalten zu können.

Die freundlichen Grüße E. K. H. bitte ich ehrerbietigst erwidern zu dürfen.

II. Die Gespräche mit Tschitscherin *)

Die Unterredung mit Tschitscherin, die einhalb elf abends begann, betraf zunächst die Frage der Handelsverträge. Ich legte ihm dar, daß wir bereit seien, um das Zustandekommen des Vertrages zu erleichtern, auf die Einsichtnahme in die Bücher der Handelsvertretung zu verzichten. Dann sei es aber nötig, daß die Frage des Pauschal-Steuerbetrags auch großzügig von der andern Seite geregelt würde. Das deutsche Finanzministerium habe einen Betrag von 3 Millionen als angemessen erachtet. Rußland solle 500 000 R. an Steuern bewilligen. Vielleicht könne man sich auf der Basis von 11/2 Millionen einigen. Krestinski unterbrach und sagte, das Finanzministerium habe ihm bereits die Summe von 11/2 Millionen genannt, was mir bedauerlicherweise nicht mitgeteilt worden ist. Ich stellte die Frage der Höhe der Summe als eine sekundäre Frage gegenüber dem Gesamtproblem dar und betonte dagegen, daß es uns darauf ankomme, eine klare Auskunft zu erhalten, ob der Art. 40 des Vertrags, der von den deutschen Konzessionären spreche, so zu verstehen sei, daß er auch die steuerliche Meistbegünstigung in sich schlösse. Ich schilderte Tschitscherin die harten Kämpfe, die es bei uns im Kabinett gegeben habe wegen der Frage der Exterritorialität der Handelsvertretung. Herr v. Koerner habe in einem früheren Stadium wohl zum Ausdruck gebracht, daß er mit dieser Frage bei der Regierung durchzukommen gedenke, habe aber die Schwierigkeiten doch unterschätzt, die in mehr als vier Kabinettsitzungen behandelt worden seien und nur durch das energische Eintreten des Reichskanzlers und des Außenministers zu einem derartigen Beschluß geführt hätten, der die Exterritorialität sicherstelle. Herr Tschitscherin müsse die Widerstände verstehen, die sich bei uns gegen eine solche Exterritorialität geltend gemacht hätten. Ich wies auf die Erfahrungen hin, die ich selbst als Reichskanzler gemacht hätte, als Herr Sinowjew sich im November 1923 zynisch darüber beklagt hätte, daß die von ihm beabsichtigte kommunistische Revolution, die von Sachsen und Thüringen ausgehen sollte, durch das Einrücken der Reichswehr in beide Länder unmöglich gemacht worden sei. Auch die jetzt in der „Roten Fahne“

veröffentlichte Rede von Sinowjew zeigt, in welcher Weise man von russischer Seite versucht, in deutsche Verhältnisse einzugreifen. Man sei davon ausgegangen, daß man die Gewerkschaften innerlich aushöhlen und zerstören solle, und scheue sich in keiner Weise, diese Agitation öffentlich in deutschen Zeitungen zu kennzeichnen, die Führer der deutschen Partei zu wechseln und so die Fortdauer des Kampfes der Weltrevolution zu proklamieren.

Ich begrüßte es unter diesen Umständen, daß die Forderung wegen der Exterritorialität des Hamburger Archivs von Rußland zurückgezogen worden sei. Eine solche sei nicht durchzusetzen gewesen, und ich bedauerte außerordentlich, daß unser Bestreben, mit dem russischen Staat in guten und freundschaftlichen Verhältnissen zu leben, durch diese ewigen Übergriffe der kommunistischen Internationale auf das stärkste gestört würden.

Herr Tschitscherin nahm im Anfang der Unterhaltung eine sehr kühle, beinahe ablehnende Haltung ein.

Zunächst erklärte er, daß er jetzt auf Urlaub ginge und infolgedessen als Außenminister nicht in der Lage sei, irgendwelche Erklärung über die Haltung der Moskauer Regierung abzugeben. Die Geschäfte führe jetzt Herr Litwinow, und er könne lediglich meine Anregungen in der Frage der Steuersumme nach Moskau weitergeben. Einer Einsichtnahme in die Bücher könne die Sowjetregierung aus politischen Gründen niemals zustimmen. Es sei richtig, daß sie die Frage wegen dei Exterritorialität des Archivs fallen gelassen habe. Sie habe infolgedessen auch die für Hamburg geplante Stelle nach Rotterdam verlegt. In Italien mache man Rußland in dieser Beziehung weniger Schwierigkeiten, obwohl gerade der Rapallo-Vertrag ein besonders enges Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland hätte herstellen sollen. In Rotterdam werde man auch mehr Sicherheit für das Archiv haben als in Hamburg. Den Schaden würde der Hamburger Handel haben.

Bezüglich der steuerlichen Meistbegünstigung erklärte Tschitscherin, daß nach seiner Auffassung, der sich auch Krestinski anschloß, Rußland selbstverständlich Deutschland in Art. 40 auch steuerlich Meistbebegünstigung gewähren wolle. Je nach dem Wert der erteilten Konzession seien auch die Abgaben an den russischen Staat verschieden. Wenn wir aber in einem Gebiet, für das bestimmte Abgaben vorgesehen seien, die einer anderen ausländischen Macht gewährt würden, unsererseits Konzessionen erwürben, sollten wir selbstverständlich nicht mehr mit Steuern belastet werden als diese Macht selbst.

Bezüglich der Agitation des Herrn Sinowjew versuchte'Tschitscherin die Sache so darzustellen, als wenn es sich dabei nicht um eine russische Agitition, sondern um eine Agitation der dritten Internationale handelt, der eine ganze Reihe von Kommunisten verschiedener Länder angehörten. Wenn die dritte Internationale ihren Sitz in London habe, so würde ich meine Angriffe gegen England richten müssen.

Ich erwiderte ihm, es sei doch wohl nicht Zufall, daß der Sitz der dritten Internationale in Moskau sei. Im übrigen sei Herr Sinowjew keine Privatperson, sondern, soviel ich wisse, Bürgermeister von Leningrad. Herr Tschitscherin könne überzeugt sein, daß, wenn der Lord-Major von London eine derartige Rede über seine Versuche, in Deutschland die Revolution zu entfesseln, hielte, ich mich dagegen mit derselben Entschiedenheit wenden würde, wie in diesem Falle. Ich wisse sehr wohl, daß der russische Volkskommissar die Agitation nicht in der Hand habe und, wie ich hoffe, auch nicht billige. Wir könnten aber nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß diese beiden Bewegungen sich fortwährend kreuzten. Lind wenn der Herr Volkskommissar an den Geist von Rapallo erinnere, so müßte ich darauf hinweisen, daß es mit diesem Geiste von Rapallo nicht vereinbar sei, in Deutschland revolutionäre Bewegungen hervorzurufen. Ich brauchte wohl nur an das Gegenteil zu erinnern: was man in Rußland wohl dazu sagen würde, wenn der Ober-bürgermeister von München oder Berlin öffentlich erklären würde, daß er in Rußland eine antirevolutionäre Bewegung mit Geldmitteln unter-stütze, und bekunden würde, daß man die russische Regierung mit allen Mitteln zu stürzen versuchen würde, um ein anderes System in Ruß-land herbeizuführen.

Wir sprachen dann über den etwaigen Abschluß des Handelsvertrages. Idi sagte ihm, er könne aus den Verhandlungen des Kabinetts sehen, wie falsch die russischen Behauptungen seien, daß wir die Frage hätten dilatorisch behandeln wollen oder daß wir die Verhandlungen hätten sabotieren wollen, weil wir uns jetzt nach Westen zu orientieren gedächten. Kein Wort davon sei wahr. Es läge mir daran, den Handelsvertrag zustande zu bringen um dem Gerede über die westliche Orientierung entgegenzutreten.

Tschitscherin erkundigte sich interessiert, ob wir unseren Unterhändler anweisen würden, den Vertrag zu unterzeichnen. Ich sagte ihm, daß im wesentlichen nur die Frage der Handelsvertretung ausstände, wenn ich seine Erklärung über die Meistbegünstigung in bezug auf die steuerliche Belastung der Konzessionäre als amtliche Erklärung ansehen könne. Ich hätte auch die Absicht, eine entsprechende Notiz in die Presse zu bringen, und würde mich freuen, wenn wir vor seiner und unserer Abreise diese Frage in Ordnung bringen könnten.

Tschitscherin nahm diese Erklärung mit großer Befriedigung auf und das Gespräch nahm nach den vorangegangenen Schärfen allmählich einen ruhigeren und normalen Verlauf.

Ich sagte Herrn Tschitscherin, daß ich den Wunsch hätte, mich mit ihm auch über die schwebenden politischen Fragen zu unterhalten. Ich begegnete fortwährend dem Gedanken, als wenn wir sozusagen ein englisch-deutsches Bündnis gegen Rußland beschlossen hätten. Weder sei das der Fall, noch sei von englischer Seite eine Anregung an uns zu irgendeinem Vorgehen gegen Rußland in militärischer oder wirtschaftlicher Beziehung gekommen. Unser ganzer Kampf wegen des Art. 16 werde doch eigentlich nur geführt, um klarzustellen, daß wir uns nicht in eine aggressive Haltung gegen Rußland hineindrängen lassen wollten. Ich wäre ihm deshalb dankbar, wenn er mir einmal darlegen wollte, worauf denn die ganze russische Anschauung basiere.

Tschitscherin machte hierauf ausführliche Darlegungen. Er ging aus von dem Rapallo-Vertrag. Dieser Rapallo-Vertrag sei gewiß zunächst ein wirtschaftlicher Vertrag gewesen. Darüber hinaus aber beständen doch große ideelle Zusammenhänge, die man als den Geist von Rapallo bezeichnet habe, und das dritte Stadium dieses Vertrages sei doch die Auswirkung dieses Geistes in einer gemeinschaftlichen Politik. Er habe unsere Sicherheitspolitik nicht verstanden. Im Dezember vorigen Jahres sei Graf Brockdorff-Rantzau bei ihm erschienen und habe ihm ein Zusammenwirken zwischen Rußland und Deutschland gegen Polen vorgeschlagen. Er habe als Ziel dieses russisch-deutschen Zusammenwirkens hingestellt, Polen auf seine ethnographischen Grenzen zurückzudrängen. Das Wort „zurückdrängen“ sei doch gar nicht anders zu verstehen gewesen als ein militärisches Zusammenwirken gegenüber Polen, um das heutige Polen zu zertrümmern. Er habe diese Anregung der deutschen Regierung für so wichtig gehalten, daß er sofort einen russischen Kabinettsrat einberufen habe. Als Ergebnis dieses Kabinettsrats seien dann im Dezember Vorschläge erfolgt, die darauf hinausgingen, zu nächst einmal das Verhältnis Rußland-Deutschland zu präzisieren, und darüber übereinzukommen, daß man gegenseitige Neutralität beobachten wolle, wenn einer von beiden Staaten angegriffen würde, also auf jeden feindseligen Akt gegeneinander verzichte. Trotzdem die deutsche Anregung wegen Polen in den Dezembertagen erfolgt sei, habe Deutschland dann im Februar die Westmächte eingeladen, einen Sicherheitspakt zu schließen. Die Antwort Deutschlands auf die russischen Anregungen hätten in einer Formel bestanden, die vielleicht für einen Trinkspruch geeignet sei, aber nicht für einen Staatsvertrag. Man könne sie mit Goethe „Bekenntnisse einer schönen Seele“ nennen.

Gleichzeitig habe Herr v. Dirksen in Moskau erklärt, daß Deutschland unter Umständen bedingungslos in den Völkerbund eintreten würde und erst nach seinem Eintritt eine einseitige Erklärung bezüglich des Art. 16 abgeben würde.

Ich war über diese Mitteilung des Herm Tschitscherin derartig erstaunt, da ich von diesem deutschen Schritt wegen des Bündnisses mit Rußland zur Aufteilung Polens keine Kenntnis hatte, daß ich ihn während seiner Darlegungen zweimal ersuchte, mir Gelegenheit zu geben, mich über das, was er vorbrachte, näher zu informieren. Ich rief darauf — es war schon Mitternacht — Herm Staatssekretär v. Schubert telefonisch an und fragte, ob ihm über eine derartige Erklärung Deutschlands etwas bekannt sei, was er entschieden verneinte, wogegen er mir aber mitteilte, daß Herr Kopp den Grafen Brockdorff-Rantzau gebeten hätte, doch einmal mitzuteilen, wie Deutschland die polnische Frage ansehe und ob man nicht in einen Gedankenaustausch über Polen eintreten könne. Es sei möglich, daß Brockdorff-Rantzau in einer Unterredung davon gesprochen hätte, daß Polen nur innerhalb seiner territorialen Grenzen existerzberechtigt sei, aber ein deutsches Bündnisangebot in dieser Richtung sei niemals erfolgt. Ich rief ferner Herrn Ministerialdirektor Gaus an und fragte, ob er es für möglich halte, daß Herr v. Dirksen in Moskau eine derartige Erklärung abgegeben habe, die dem bisherigen deutschen Standpunkt in bezug auf Art. 16 nicht entspreche. Herr Ministerialdirektor Gaus erklärte mir, daß es dies für völlig ausgeschlossen halte. Herr v. Dirksen stände bezüglich des Art. 16 auf einem sehr scharfen Standpunkt und erinnere ihn täglich daran, daß Deutschland in dieser Beziehung sich die selbständige Entscheidung wahren müsse.

Nachdem ich mich bei beiden Herren informiert hatte, ging ich auf die Ausführungen Tschitscherins ein und sagte ihm, daß ich geradezu bestürzt und befremdet sei über seine Mitteilungen wegen dieses Schrittes. Als deutscher Außenminister müßte ich doch etwas davon wissen, daß ein derartiger Schritt gegenüber Rußland erfolgt sei. Ich hätte zwar die Akten nicht bei der Hand, könnte aber nach der Unterredung mit Herrn Staatssekretär v. Schubert erklären, daß weder der Staatssekretär noch ich von diesem Schritt etwas wüßten, daß die Dinge aber anders lägen insofern, als Kopp an uns herangetreten sei mit der Bitte, doch mit uns in einen Gedankenaustausch über die polnische Frage einzutreten.

Herr Tschitscherin erklärte darauf sehr scharf, Herr Kopp habe keinen Auftrag gehabt, und er verstände nicht, wie man Äußerungen des Herrn Kopp bei uns eine derartige Bedeutung beilegen könnte.

Ich erwiderte ihm meinerseits, daß Herr Kopp doch zum Außenkommissariat gehöre und daß gar kein Zweifel darüber bestände, daß wir uns über die polnische Frage nur auf Grund dieser Anregung unterhalten hätten. Es sei mir auch nicht bekannt, daß gegen Herrn Kopp wegen irgendeiner Eigenmächtigkeit eingeschritten worden sei. Gleichzeitig sagte ich ihm, ich müßte Herrn v. Dirksen in Schutz nehmen, da es ganz ausgeschlossen sei, daß Herr v. Dirksen solche Äußerungen getan hätte. Wir hätten nie daran gedacht, bedingungslos in den Völkerbund einzutreten und erst nachher eine derartige Erklärung im Völkerbund abzugeben. Denn es sei mehr als acht Monate verhandelt worden wegen des Art. 16. Ich wies auf meine Besprechung mit Sir Eric Drummund, dem Generalsekretär des Völkerbunds, hin und betonte, daß Sir Eric Drummund in einem Briefe an Lord d’Abernon sich beklagt hätte, daß ich in bezug auf Art. 16 vollkommen stur gewesen sei und mich auch geweigert habe, in der Frage des wirtschaftlichen Boykotts irgendwie nachzugeben. Ich habe auf unsere Note hingewiesen und gleichzeitig erklärt, daß der anwesende Botschafter genau darüber informiert sein müßte, daß nie eine andere Erklärung bezüglich des Art. 16 abgegeben worden sei als die, daß wir in den Völkerbund nur eintreten würden und könnten, wenn wir sicher wären, daß wir selbst darüber bestimmen, ob und wieweit wir uns an irgendeiner Völkerbund-exekution beteiligen.

Krestinski bestätigte, daß ich ihm und Brodowski dieselbe Erklärung gegeben hätte. Um so mehr sei man über die Erklärung des Herrn v. Dirksen erstaunt gewesen.

Ich sagte ihm, daß wir diese Frage in einer zweiten Unterredung klarstellen wollten, da ich jetzt in der Nacht Herm v. Dirksen nicht er-reichen könnte, und die amtlichen Akten unbedingt einsehen müßte, um zu wissen, was in dieser Zeit in Moskau vorgegangen sei.

Ich legte dann ausführlich unsere Stellung zu den bevorstehenden Verhandlungen in Locarno dar, wies Tschitscherin darauf hin, daß an Stelle der restlosen Schiedsverträge das Gaus’sche System getreten sei, daß also auch irgendeine mittelbare Garantie der polnischen Grenzen nicht in Betracht komme, daß wir natürlich den Bestand des heutigen Polen nicht als berechtigt anerkennen und niemals die polnischen Grenzen freiwillig anerkennen würden. Tschitscherin begann mehr und mehr einzulenken, sagte, er hätte mit Genugtuung konstatiert, daß wir diese Erklärung abgegeben hätten. Er kenne auch meine Erklärung im Auswärtigen Ausschuß nach der Richtung hin, die ihn sehr befriedigt habe. Um so mehr sei er bestürzt gewesen über das, was ihm Herr v. Dirksen in Moskau gesagt hätte.

Er wies dabei darauf hin, daß wir doch nach dieser Richtung unsere alten Beziehungen aufrechterhalten hätten, und unterstrich die Vertretung der Reichswehr bei den russischen Mannövern, ebenso die Vertretung der Russen bei unseren Manövern. Deutschland sei die einzige Macht, die an den russischen Manövern teilgenommen hätte. Idi erwiderte darauf, daß nach meiner Kenntnis auch die russische Regierung die einzige zuschauende Macht bei deutschen Manövern gewesen wäre. Er sehe daraus am besten, wie töricht all das sei, was man über Westorientierung sage.

Ich ersuchte ihn dringend, mir auf meine Frage zu antworten, worin nach seiner Meinung die Gefahr eines englisch-deutschen Zusammenarbeitens gegen Rußland läge. England sei doch nicht allein im Völkerbund maßgebend. Vielmehr werde stets behauptet, daß Frankreich im Völkerbund die erste Rolle spiele. Auch er, Tschitscherin, habe wiederholt gesagt, daß Rußland die Absicht habe, sich an Frankreich näher zu attachieren. Herr Briand habe gesagt, daß er auch die Absicht habe, mit Rußland in nähere Fühlung zu kommen. Man könnte doch nicht zu gleicher Zeit von russischer Seite aus sich in Frankreich nähern und in dem angeblich unter französischer Herrschaft stehenden Völkerbund die Gefahr der Weltallianz gegen Rußland erblicken. Wir hätten durchaus nicht die Absicht, im Völkerbund eine passive Rolle zu spielen, sondern wenn wir im Völkerbund wären, was noch gar nicht feststehe, dann würde Deutschlands Aufgabe darin bestehen, einmal für seine eigenen Interessen einzutreten, andererseits aber auch darüber zu wachen, daß der Völkerbund sich nicht zu einem Instrument auswachse, das den Krieg gegen Rußland auf seine Fahne schriebe. Deutschland dächte gar nicht daran, sich dafür gebrauchen zu lassen. Im übrigen glaubte ich auch selbst nicht, daß Frankreich den Fehler Napoleons I. wiederholen würde.

Wenn England und Rußland in China und Indien einander Schwierigkeiten gemacht hätten, gehe uns das nichts an. Denn nachdem man uns den Kolonialbesitz geraubt hätte und wir uns im wesentlichen in der Welt auf Weltwirtschaft beschränken müßten, seien wir auch an diesen Dingen politisch nicht beteiligt und dächten nicht daran, uns in solche Wirrnisse hineinziehen zu lassen. Die Gefahr für Rußland könnte doch nur darin bestehen, daß man fürchte, Deutschland werde sich als Kontinental-Degen gegen Rußland gebrauchen lassen. Das setzte die Bewaffnung Deutschlands voraus, die Frankreich niemals zugeben würde. Ich hätte nie auf die Frage der russischen Bedrohung durch unseren Eintritt in den Völkerbund eine klare Antwort erhalten. Herr Litwinow habe mir gesagt, England werde Deutschland unterstützen in der Danziger Frage, Saarfrage und Frage der Minderheiten, und dann werde das deutsche Volk sich aus Dankbarkeit in die Arme Englands werfen. Das sei eine theoretische Konstruktion. Kein Mensch in Deutschland denke daran, Kriege für andere zu führen, nachdem wir nicht einmal in der Lage seien, für unsere vitalsten Lebensinteressen Kriege für uns selbst führen zu können. Ich glaubte im Gegenteil, daß wir bei Aufrechterhaltung unserer freundschaftlichen Beziehungen Rußland sehr nützen könnten, indem wir unsere Stimme in die Waagschale werfen könnten, wenn etwa im Völkerbund zu entscheiden wäre, ob man Rußland für den Angreifer erklären und eine etwaige Weltkoalition gegen Rußland ins Leben rufen wolle.

Tschitscherin, dem das Eingehen auf diese Frage sichtlich unangenehm war, vermied es regelmäßig, zu der Frage Stellung zu nehmen, und sagte nur am Schluß der Unterredung, die englische Frage erfordere ein besonderes Eingehen. Er möchte sie gern im Zusammenhang mit mir erörtern. Da der Herr Russische Botschafter inzwischen eingeschlafen war und ich sah, daß bei Tschitscherin in diesem Augenblick nichts herauszuholen war, bat ich ihn, die Unterhaltung am nächsten Tage fortzusetzen, wozu er sich bereit erklärte, und wir verabredeten, am nächsten Nachmittag wieder zusammenzukommen.

Berlin, den 30. Sept. 192 5 gez. Dr. Stresemann Handschriftlicher Zusatz Stresemanns:

Besprechung hatte vier Stunden gedauert und war gegen ein halb 2 Uhr nachts zu Ende.

Die zweite Unterredung mit dem russischen Volkskommissar des Auswärtigen fand wiederum in Anwesenheit des Botschafters Krestinski am Tage der Abreise nach Locarno statt. Ich eröffnete die Besprechung mit der Mitteilung, daß ich mich in der Zwischenzeit an Hand der Akten über den Hergang bei dem angeblichen Bündnisangebot gegen Polen unterrichtet hätte. Ich zitierte den Bericht des Grafen Rantzau vom 5. Dezember 1924 an Berlin, der mit den Worten begann: „Gestern hatte ich eine eingehende Unterredung mit Herm Kopp“, wobei ich weiter zitierte, daß Herr Kopp in einer ausführlichen Besprechung gesagt hätte: eine der wichtigsten Fragen erscheine ihm die polnische und hier eine Verständigung mit uns dringend erwünscht. Herr Kopp habe sich auch in dieser Unterredung bezüglich der russischen Polenpolitik darauf bezogen, er sei überzeugt, der Zustimmung seines Chefs, also Tschitscherins, sicher zu sein. Wenn Deutschland weder auf seine Ansprüche in Oberschlesien noch auf den Korridor verzichte, könnte ein gemeinsamer deutsch-russischer Druck auf Polen ausgeübt werden etc. /Aus diesem Bericht gehe zunächst ganz klar hervor, daß die Anregung zu dem Gedankenaustausch über Polen und ebenso die Formulierung des dabei zu Erreichenden zunächst von russischer Seite ausgegangen sei.

Ich wies den Botschafter weiter darauf hin, daß Graf Rantzau in seinem Telegramm vom 22. Dezember 1924 Herrn Tschitscherin ausdrücklich auf sein Gespräch mit Kopp angesprochen habe, ohne daß Herr Tschitscherin dann Herrn Kopp desavouiert hätte, wie er das gestern mir gegenüber getan hatte, als er Kopp gewissermaßen als einen Privatmann hinstellte, der ohne Auftrag gehandelt hätte.

Herr Tschitscherin konnte auf diese Feststellungen auch nicht einen Satz erwidern. Er unterließ es auch, nach diesen aktenmäßigen Darstellungen den Versuch zu erneuern, von Herrn Kopp abzurücken, und bezog sich vielmehr nunmehr seinerseits auf eine Aufzeichnung, die er über ein Gespräch mit dem Grafen Rantzau gemacht hätte. Er erzählte dabei, daß Graf Rantzau einen Teil der an ihn gerichteten Instruktion vorgelesen hätte, und aus dieser Instruktion hätte er den Satz entnommen, den er gestern mir gegenüber in bezug auf die deutsch-polnische Politik gebraucht hätte. Ich bat Herrn Tschitscherin, mir doch den Wortlaut seiner Aufzeichnung ebenso loyal mitzuteilen, wie ich ihm von unserem Telegrammwechsel Kenntnis gegeben hätte. Er verlas daraufhin die in dem Telegramm von Berlin Nr. 568 durch Herrn v. Maltzan an den Grafen Rantzau gerichtete Instruktion, in der zum Ausdruck gebracht worden war, daß Deutschland entschlossen sei, bei etwaigem Eintritt in den Völkerbund die Erklärungen aufrechtzuerhalten, die es zu den von ihm übernommenen Verpflichtungen bei früheren Gelegenheiten abgegeben habe. Das gelte auch für die polnische Westgrenze.

Weiter war in diesem Telegramm ganz allgemein für den Verlauf der Unterredung gesagt: „Des weiteren bitte erwähnen, daß eine der Hauptursachen der Unruhe in Osteuropa Nichtbeachtung des ethno-graphischer Grundsatzes bei Festsetzung polnischer Grenzen sei". Ich sagte Herrn Tschitscherin, daß das alles doch lediglich eine Mitteilung dessen sei, was wir als Entwicklung der Verhältnisse zu Polen für die Zukunft ansähen. Ich hatte aber gestern die Empfindung gehabt, als wenn er gewissermaßen an das Angebot eines militärischen Bündnisses zwischen Deutschland und Rußland gedacht hätte, denn er habe sich immer auf das Wort „zurückdrängen" bezogen. Demgegenüber müßte ich doch erwidern, daß Graf Rantzau nach dem uns übersandten Bericht schon in dem ersten Telegramm über seine Unterredung mit Herrn Kopp klar zum Ausdruck gebracht hätte, daß er jede Anwendung von Gewalt bei der Lösung dieser Frage für Unsinn halte. Tschitscherin erklärte dann, Graf Rantzau habe eine Zeitlang gezögert, ob er ihm noch einen Satz aus dem Berliner Telegramm mitteilen sollte, und habe ihm schließlich, aber anscheinend nach innerem Kampf, auch diesen Satz mitgeteilt, und darin sei von der Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen die Rede. Ich konnte ihm sagen, daß auch dieser Satz in dem Berliner Telegramm enthalten sei, aber nicht etwa als Mittelpunkt unserer Darlegungen, nicht etwa als ein Bündnisangebot, das an der Spitze unserer Ausführungen stände, sondern daß nach dem mir vorliegenden Telegramm dem Grafen Rantzau völlig anheim-gestellt worden sei, ob er diese letztere Ausführung überhaupt machen wolle. Graf Rantzau habe auch unsererseits einen Bericht über diese Unterredung mit Tschitscherin gesandt. Daraus ginge hervor, daß man über die Frage der Neutralität, über die Art. 10, 11 und 17 der Völkerbundssatzung gesprochen habe. Gerade Rantzau habe selbst den Satz auf den Rantzau so entscheidendes Gewicht lege, als eine Andeutung bezeichnet, allerdings hinzugefügt, daß Herr Tschitscherin diese Andeutung sehr begrüßt hätte.

Tschitscherin konnte auch auf diese Feststellungen nichts erwidern, und die Entstehung der Initiative, die man uns aus bestimmten Gründen auferlegen wollte, war damit festgestellt.

Ich kam dann weiter auf das Schriftstück zu sprechen, das Herr von Dirksen übergeben hatte, und las ihm den Wortlaut dieses Schrift-stückes vor. In diesem sei nach seinem Wortlaut von einem bedingungslosen Eintritt in den Völkerbund nicht die Rede. Es sei davon gesprochen: „Sollte sich eine formelle Befreiung von den Verpflichtungen aus Art. 16 als nicht erreichbar erweisen, so wird Deutschland seinen Standpunkt in dieser Hinsicht nach außenhin unzweideutig zur Geltung bringen und wird als Mitglied des Völkerbundes und Völkerbundsrats diesem Standpunkt entsprechend handeln“.

Ich wies ihn hin auf die Unterscheidung, die wir wiederholt gemacht hätten zwischen der De-jure-Befreiung vom Art. 16, d. h.der eventueilen Änderung dieses Artikels der Völkerbundssatzung, die durch die Mehrheit des Völkerbundes erfolgen müsse, und der De-facto-Befreiung, die darin liege, daß der Völkerbund zu diesem Artikel etwa eine unzweideutige Interpretation abgäbe, die in Wirklichkeit Deutschlands Recht feststellt, im Falle der Völkerbundsexekutive nach eigenem Ermessen zu handeln. Da diese Frage auch eingehend im Auswärtigen Ausschuß behandelt worden sei, hätte ich annehmen müssen, daß er über diese Unterscheidung unterrichtet wäre, und die vielleicht mißverständlichen Worte „formelle Befreiung" wären, wenn er sich deshalb an die deutsche Regierung gewandt hätte, von uns sofort aufgeklärt worden. Ich sprach ihn dann nochmals auf unsere Auffassung zum Art. 16 an. — Er nahm diese Mitteilung mit Befriedigung auf.

Ich wandte mich dann weiter gegen seine Äußerungen vom vorigen Tage, in denen er zum Ausdruck gebracht hätte, daß die von uns vorgeschlagene Präambel nur ein Trinkspruch oder „Bekenntnisse einer schönen Seele" seien. Ich wies ihn hin auf die Schlußformel „in dauernder freundschaftlicher Fühlung gegenseitige Verständigung anzustreben unter dem Gesichtspunkte, für den allgemeinen Frieden Europas zu wirken und sich von allen etwa hervortretenden Bestrebungen fernzuhalten, die diesen Frieden gefährden könnten“.

Wenn zu dieser Formel in der mündlichen Erklärung hinzugefügt worden sei, daß Deutschland als Mitglied des Völkerbundsrats seinen Standpunkt bezüglich des Art. 16 entsprechend handeln werde, so seien das weitgehende Bindungen der deutschen Regierung, die einen Krieg gegen Rußland ausschlössen und eigentlich mehr besagten als die Formel „von einem feindseligen Akt abzustehen“, da sie sich auch gegen das Zustandekommen eines etwaigen feindseligen Aktes durch einen Beschluß des Völkerbundsrats wendete.

Tschitscherin kam wieder auf die russische Formel zurück, wies darauf hin, daß Rußland auch mit der Tschechoslowakei eine ähnliche Präambel vereinbart habe, und beklagte es, daß die russische Anregung auch bei uns auf sterilen Boden gefallen wäre. In einem Bericht des Herrn Staatssekretärs von Schubert werde behauptet, daß das Bekanntwerden einer solchen Abmachung wie ein Erdbeben wirken würde. Ich sagte ihm, daß diese Worte sicherlich gefallen wären im Anschluß an die Wirkung, die der Rapallo-Vertrag seinerzeit hervorgerufen hätte, und nur vermeiden wollten, daß hinter dieser Abmachung wieder große geheime militärische Rüstungen Deutschlands vermutet würden, für die wir Nacken-schläge an der Westgrenze auszuhalten hätten. Im übrigen habe das Kabinett den Wortlaut noch nicht endgültig festgelegt, und wir könnten auch über etwaige Abänderungsvorschläge der Russischen Regierung diskutieren. Ich hätte nicht den Eindruck, als wenn eine Formel wie die Präambel, die mit der Tschechoslowakei abgeschlossen werden müsse (?), einen so furchtbaren Eindruck machen würde. Ich möchte aber erneut darauf hinweisen, daß unsere Formel weitergehe und mir nach wie vor die richtigere zu sein scheine.

Ich versprach Herrn Tschitscherin, während des Aufenthalts in Locarno mit dem Reichskanzler zu sprechen und später im Reichskabinett über die Frage zu verhandeln.

Im Zusammenhang mit der gestrigen Niederschrift möchte ich erwähnen, daß ich Herrn Tschitscherin auf seine wiederholten Vorwürfe, wir hätten mit unserer Antwort so lange gezögert, erwiderte, die erste Anregung von Rußland sei in der Form gekommen, den Vertrag geheim zu schließen. Dagegen hätte ich mich von vornherein gewandt und dem russischen Botschafter wiederholt erklärt, 'daß ich prinzipiell in diesem Stadium einen Geheimvertrag mit Rußland ablehnen müsse. Ich sei bei der Beratung des Westpakts wiederholt gefragt worden, ob Deutschland einen Geheimvertrag mit Rußland geschlossen hätte, und hätte diese Frage stets mit Nein beantwortet. Aus diesem Grunde könnte ich auch jetzt nicht plötzlich über diesen Geheimvertrag mit Rußland verhandeln. Wir hätten nicht die Absicht gehabt, die Antwort so lange hinauszuzögern. Die Alliierten hätten aber 4 Monate gebraucht, um uns auf unsere Anregung zu antworten, und dadurch sei auch unsere Antwort verzögert worden, weil wir die Gesamtsituation übersehen wollten.

Ich insistierte dann am Schluß, als Tschitscherin Miene machte aufzubrechen, noch einmal auf der Beantwortung meiner Frage wegen England. Anstatt der erwarteten großen Sensation war die Antwort Tschitscherins die, daß er einen militärischen Zusammenstoß zwischen England und Rußland nicht für wahrscheinlich halte, wahrscheinlich erst als Ergebnis in einer fernen Zukunft.

Was ihn beunruhigte, sei die Tendenz der englischen Banken, die einen wirtschaftlichen Boykott, namentlich auf finanziellem Gebiete gegen Rußland durchführen wollten. So sei ihm bekanntgegeben, daß eine englische Bank sich an eine große Berliner Bank gewandt und diese ersucht hätte, wir möchten den Russen keine Kredite geben.

Ich erwiderte dem Volkskommissar, daß ich auf derartige private Anregungen keinen Einfluß hätte, daß ich ihm aber versichern könne, daß die deutsche Wirtschaft und die deutsche Bankwelt einen guten Fortgang der gemeinsamen wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen nur begrüßen würde. Herr Deutsch von der A. E. G. würde sich von keiner Seite vorschreiben lassen, mit Rußland keine Geschäfte zu machen. Offiziell sei aber an uns eine Anregung von englischer Seite oder von der Bank von England nicht gelangt. Im übrigen wisse er, daß unser Widerspruch gegen Artikel 16 auch den Widerspruch umfaßt, uns in irgendeine wirtschaftliche Boykottbewegung gegen Rußland hin-eintreiben zu lassen.

Da inzwischen die Zeit meiner Abreise nach Locarno nähergerückt war, empfahlen sich die beiden Herrn, und wir verabschiedeten uns unter den üblichen persönlichen Wünschen.

Berlin, den 2. Oktober 1925 gez. Stresemann

III. Sicherheitspakt Völkerbund und Ostfragen *)

Der Notenaustausch über den Sicherheitspakt nähert sich dem Ende. Wenn diese Zeilen in Druck gehen, dürfte die französische Note übergeben sein, die den Abschluß des Notenwechsels Bildet. Man scheint im Ententelager davon überzeugt zu sein, daß diese letzte Note den Übergang bildet zu den mündlichen Verhandlungen, die dieser vor der ganzen Weltöffentlichkeit geführten Auseinandersetzung folgen sollen. Wenn man die Entwicklung der letzten Monate verfolgt, so sieht man, daß mehr noch als Bücher diplomatische Noten ihre Schicksale haben. Die Geschichte des deutschen Memorandums ist bisher noch nicht geschrieben worden. Daß sie nicht mit dem 9. Februar beginnt, hat Dr. Curtius in einem beachtenswerten Aufsatz in den „Münchener Neuesten Nachrichten“ dargelegt. In nicht weniger als drei Reichskanzlerreden, aus der Zeit der Absendung des Memorandums, bildete die Frage des Sicherheitspaktes das Leitmotiv: eine Rede in Köln, eine andere in Karlsruhe, eine Rede vor der ausländischen Presse. In seiner Rede beim Empfang der ausländischen Presse führte Dr. Luther aus: „Es liegt auf der Hand, dafl das von stark gerüsteten Nachbarn umgebene entwaffnete Deutschland das Bedürfnis nach Sicherheit lebhaft empfindet. Die Reidtsregierung steht deshalb dem Sicherheitsgedanken nicht nur symphatisdt gegenüber, sondern hat an seiner Verwirklichung auch ihrerseits lebhaftes Interesse. Denn die Sicherheitsfrage ist der Kern dieser politisdten Probleme. Sobald für die Sicherheitsfrage eine Lösung gefunden ist, ergibt sich damit die Lösung der meisten übrigen Fragen nahezu von selbst. Wenn so, wie es den Ansdteinhat, die politischen Wünsdte zweier Länder von der gleichen Tendenz getragen werden, sollte es auch möglidt sein, diese Wünsdre zu realisieren. Herr Herriot hat bei seinen Ausführungen den Gedanken einer Weltkonvention in den Vordergrund gestellt, wie sie durdt das bekannte Genfer Protokoll vom Herbst vorigen Jahres angestrebt wird. Eine soldte, alle Staaten umfassende Weltkonvention sdteint audi mir das Endziel zu sein. Ob es praktisdt möglidt ist, dieses Endziel fetzt zu erreidten, ist wohl noch ungewiß. Herr Herriot hat selbst betont, daß es den Nationen möglich ist, sich gegenseitig sdtärfer umrissene Sicherheitsgarantien zu geben. Wenn er dabei daran denkt, das Endziel einer Weltkonvention durch Abmadtungen zwischen einer Gruppe von Staaten vorzubereiten und damit das Problem zunächst für die Fälle zu lösen, in denen es als unbedingt nötig empfunden wird, so ist die Reidtsregierung durdtaus bereit, hieran positiv mitzuarbeiten. Wenn aber internationale Verträge, von der Art eines Garantiepaktes, wirklich wirksam sein sollen, so ist es nötig, daß audt der gesdtlossene Wille der Völker selbst dahinter steht.

Der französisdte Ministerpräsident hat seine ganze Politik vorgestern zusammengefaßt in die drei Worte: „Schiedsgeridit, Sidterheit, Abrüstung“.

Dieses Programm kann ich auch für Deutschland akzeptieren. Die Reidtsregierung ist bereit, sich dafür einzusetzen, daß der Schiedsgerichtsgedanke, dessen Verwirklidtung vielleidit den wertvollsten Teil der Londoner Vereinbarungen darstellt, im internationalen Leben noch allgemeiner zur Geltung kommt.“

In seiner Rede in Köln, die am 9. Februar, also am Tage der Überreichung des Memorandums gehalten wurde, hat der Herr Reichs-kanzler erneut versichert: „Ich habe namens der deutsdten Reidtsregierung auszusprechen, daß die deutsche Reidtsregierung bereit ist, an der Lösung der Sidterheitsfrage positiv mitzuarbeiten.“

In Karlsruhe erklärte am 12. Februar der Reichskanzler:

„Daß die Reichsregierung sich der ganzen Bedeutung der Sidterheitsfrage voll bewußt ist, geht aus meinen wiederholten Erklärungen, in denen ich unsere Bereitsdtaft, positiv an der Lösung dieser Frage mitzuarbeiten, zum Ausdruck gebracht habe, zur Genüge hervor. Ein dauernder Sidterheitspakt ohne die Mitwirkung Deutsdtlands ist nicht denkbar.“

Man lese diese Reden und man frage sich, was die Behauptungen auf sich haben, die glauben, davon sprechen zu können, daß das Auswärtige Amt von sich aus unter Überrumpelung des Kabinetts sein Memorandum geschrieben habe. Sind doch die Grundgedanken dieses Memorandums, Sicherheitspakt, Schiedsverträge, Weltkonvention, in den Reden des Reichskanzlers schon vor der Überreichung des Memorandums genau so enthalten, wie in diesem selbst.

Man hat die Frage aufgeworfen, warum der Wortlaut des Memorandums vor der Öffentlichkeit geheimgehalten worden sei. Die Antwort sollte eigentlich aus der Geschichte der bisherigen deutschen Sicherheitsvorschläge gegeben sein. Damals sind diese Anregungen öffentlich gemacht worden: unter Cuno über Hughes in allgemeiner Form, unter derselben Regierung in der Note von Mai 1921, ferner unter der Regierung Stresemann im September 1923 durch die Stuttgarter Rede des damaligen Reichskanzlers. Jedesmal wurden die deutschen Anregungen von französisch-rechtsradikaler Seite in den Abgrund diskutiert, ehe sie die Gestalt gewinnen konnten. Gewiß war damals Poincare am Ruder, im Februar 1925 dagegen Herriot. Aber wie stark die Opposition die Handlungen der Staatsmänner bestimmt, zeigt jene Rede Herriots vom 29. Januar d. J., die sich in Ton und Art kaum von Poincare unterschied. Es wird in der deutschen Öffentlichkeit immer vergessen, daß einmal die Sicherheitsfrage in Frankreich ein im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag zuerkanntes Recht darstellt und daß am 29. Januar d. J. ein linksstehender Mann wie Herriot die Drohung ausstieß, daß Frankreich nur am Rhein seine Sicherheit suchen werde, wenn die Sicherheitsfrage nicht in anderer Form gelöst werden würde. Die Situation fand in Chamberlain einen traditionsgemäß Frankreich zugeneigten Staatsmann. Der Gedanke eines einseitigen Paktes mit Frankreich und Belgien gegen Deutschland war ihm sympathisch. Die Kabinettssitzung, in der er mit diesem Gedanken unterlag, fand nach dem deutschen Memorandum statt, und es ist zweifelhaft, ob er ohne diese Initiative der deutschen Außenpolitik unterlegen wäre. Darauf bezog sich der Satz in der Rede des deutschen Außenministers, daß eine Lösung der Sicherheitsfrage ohne Deutschland eine Lösung gegen Deutschland sein würde. Noch in seiner letzten Rede hat Chamberlain darauf hingewiesen, daß Frankreich ein Recht auf eine garantierte Sicherheit habe, und auch Lloyd George hat sich dem angeschlossen.

Wer die Geschichte der Sicherheitsfrage verfolgen will, der lese die von Deutschland herausgegebenen amtlichen Materialien zur Sicherheitsfrage oder das Buch von Oskar Müller und das Material, das in den „Rheinischen Schicksalsfragen“ von Karl Linnebach veröffentlicht worden ist. Nur ein Naivling wird nach der Lektüre dieser Bücher die Dinge noch so darstellen, wie es in völkischen Kreisen geschieht, als wenn plötzlich irgendeine defaitistische Welle im Auswärtigen Amt seine Leiter dazu gebracht hätte, ohne zwingende Veranlassung, diesen deutschen Schritt zu unternehmen.

Das Schicksal des deutschen Memorandums ist aber noch nach anderer Richtung interessant. Es zeigt, wie Optimismus und Pessimismus außerordentlich schnell in den Köpfen der selben Menschen wechselt. Wir haben jahrelang gehört, und mit Recht, daß die Frage des deutschen Rheins die Frage dieses Jahrhunderts sei. Die Zahl derer in Frankreich, die die alte Politik des Marschall Foch betreiben, stellt vielleicht nicht die Mehrheit des französischen Volkes dar. Aber auch hier müssen die Persönlichkeiten gewertet und nicht gezählt werden. Sollte wirklich Frankreich eine Politik aufgegeben haben, die Jahrhunderte hindurch französische Tradition war? Ist der Kampf zwischen Marschall Foch und den Vertretern der übrigen alliierten Mächte vergessen, der sich auf die Gewinnung des Rheinlandes durch Frankreich bezog? Ist es solange her, seitdem ein Poincare am Ruder war, der noch in seiner letzten Rede als Ministerpräsident sich kaum enthalten konnte, in Jubel auszubrechen bei dem Gedanken, daß der von ihm unterstützte Separatismus ihn dem Ziel der Abtrennung des Rheinlandes von Deutschland näher bringen würde! Das Schlagwort von dem Verzicht auf Elsaß-Lothringen, auf das später eingegangen werden kann, stellt doch, selbst wenn man es einmal so annimmt, wie seine völkischen Verfechter, nur die eine Seite der Medaille dar. Die andere Seite ist doch die dauernde Sicherung des Rheinlandes gegenüber der französischen Politik. Und ist etwa das Rheinland nicht mehr bedroht, weil gegenwärtig ein Briand Außenminister ist? Können die Dinge in Frankreich nicht wieder eine andere Wendung nehmen? Wollen wir jetzt mit einem Male solche Optimisten werden, die der Meinung sind, daß jeder französische Angriff auf das Rheinland für Menschengedenken ausgeschlossen sei? Man sagt mit Recht, Deutschland sei von Frankreich mehr bedroht, als Frankreich von Deutschland. Das spricht aber nicht gegen den Sicherheitspakt, sondern für den Sicherheitspakt; denn er schützt den deutschen Gebietsstand gegen französische Bedrohung.

Es ist schließlich eine Kleinigkeit, wenn England, in dem lange um die Politik der Isolierung gekämpft wurde, sich verpflichtet, mit seiner Waffengewalt an Deutschlands Seite zu treten, sobald Deutschland von Frankreich angegriffen werden würde. Wäre das deutsche Sicherheitsangebot lediglich ein deutscher Verzicht, der Frankreich unendliche Vorteile bringt ohne es zu Gegenleistungen zu verpflichten, warum haben die französischen Staatsmänner nicht sofort gegenüber dem dummen Auswärtigen Amt zugegriffen, um diese moralische Beute in Sicherheit zu bringen? In Wirklichkeit ist ein monatelanger Kampf um den Sicherheitspakt hin und her gegangen, und bis zur Stunde scheint es, als wenn Frankreich eher die Absicht hat, die Dinge hinzuziehen, als sie zum Abschluß zu bringen und als wenn manche Politiker in Frankreich die Lösung der Sicherheitsfrage zum Scheitern bringen, aber Deutschland gleichzeitig mit der Schuld dafür belasten wollten.

Der Höhepunkt der Verwirrung im deutschen Lager trat ein, als die Note des Herrn Briand bekannt wurde, die die Antwort auf das deutsche Memorandum darstellt. Während es ganz selbstverständlich angesehen werden mußte, daß das durch das deutsche Memorandum in Verlegenheit gebrachte Frankreich nun nach vier Monate langer Anstrengung seiner Staatsmänner, Politiker und Journalisten alles tun würde, um seinerseits durch seine Antwort Deutschland Verlegenheiten zu bereiten, verwechselte man in der deutschen Öffentlichkeit Briands Note fälschlicherweise mit dem deutschen Memorandum, und was daran unannehmbar war, setzte man auf das Konto der falschen deutschen Außenpolitik. Die Note der deutschen Regierung hat die Situation wieder hergestellt. Seltsam, daß dieselben Menschen, die das Memorandum leichtfertig und oberflächlich nannten, die Antwortnote Her deutschen Regierung jetzt als diplomatisches Meisterwerk hinstellten, obwohl sie dieselben Verfasser hat, wie das deutsche Memorandum, obwohl sie auf dem Memorandum aufgebaut ist und an nicht weniger als fünf Stellen sich ausdrücklich auf dieses Memorandum bezieht. Vielleicht erleben wir dieselbe Verwirrung wieder, wenn jetzt die französische Note kommt, statt daß man erkennt, daß alle diese Noten doch nur Etappen in einem hartnäckigen Kampfe sind, der hier ausgefochten wird. Ein Kampf, bei dem jeweils derjenige in der schwierigen Lage ist, der sich plötzlich der ganzen Argumentation gegenübersieht, ohne sofort auf sie replizieren zu können.

Es wäre verfehlt, am Vorabend jener französischen Note Konjektural-Politik über ihren Inhalt und den voraussichtlichen Weitergang der ganzen Diskussion treiben zu wollen. Aber vielleicht ist es von Nutzen, einige Fragen aus der Gesamtsituation herauszuschälen und gewissermaßen einzelne Erscheinungen festzuhalten, die uns zeigen, wie man außerhalb Deutschland die Dinge betrachtet, um die hier im einzelnen gerungen wird.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß das Organ der Großdeutschen Volkspartei in Österreich, die Wochenschrift „Alpen1 a n d“ in einem Aufsatz vom 6. August d. J., in dem sie sich mit der Bedeutung des Sicherheitspaktes für die Beziehungen des Deutschen Reiches und Österreichs beschäftigt, zu dem bemerkenswerten Ergebnis kommt, daß man in dem Sicherheitspakt „zunächst eines derjenigen Mittel sehen müsse, um in absehbarer Zeit zu einer Revision des Versailler Vertrages zu kommen"..

Das „Alpenland“ führt aus: „Das deutsche Sicherheitsaugebot, das von rechtsstehenden deutschen Kreisen als ein neuerlicher Verrat an Deutschland und dem deutschen Volk gewertet wurde, ist vielleicht eines der wenigen Mittel, um in absehbarer Zeit zu einer Revision des Friedensvertrages von Versailles zu kommen. In den rechtsstehenden deutsdten Kreisen scheint man das bis heute nodr nicht begriffen zu haben, wohl aber in den Kreisen der Ententepolitiker. Die deutsche Antwort auf die französische Note, die ein diplomatisches Meisterstück darstellt, läßt über die wahren Absichten der deutschen Regierung keinen Zweifel offen. Die Antwort besagt ausdrücklich, daß die deutsche Regierung dermalen an keine Änderung der Friedensverträge denke, daß aber die Friedensverträge nidtts unabänderlidtes darstellen, und daß eine Änderung derselben genau so möglich sein muß, wie eine Änderung der Völkerbundssatzung nicht ausgeschlossen war."

Es sei ferner an die Rede des Abgeordneten Dr. Kramarsch im tschechoslowakischen Parlament erinnert, in der er in bezug auf die Auswirkungen des Sicherheitspaktes und des eventuellen Eintritts Deutschlands in den Völkerbund, auf die Minoritätenfrage folgendes ausführte: „Der reichsdeutsche Außenminister Stresemann war es, der seinerzeit sehr eindringlidi für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund spradt und als Hauptgrund anführte, daß Deutschland laut Pakt zuni Verteidiger aller außerhalb Deutschlands lebenden Deutschen werde. Wenn wir also dulden sollen, daß ein fremder Staat zum Beschützer, unserer deutschen Minorität werden soll, dann ist es nur natürlich, daß Dr. Hajn gewisse Besorgnisse hegt. Wenn wir die Erfüllung des Minderheitspaktes dem Völkerbundsrate überlassen, dann wird naturgemäß Deutschland als Mitglied des Völkerbundes und höchstwahrscheinlich auch des Rates extituledesPakteszumSchutzherrn aller Ausländsdeutschen.“

In bezug auf die Frage Elsaß-Lothringen bedauert die „Deutsche'Zeitung“ in einem Aufsatz, daß in Deutschland lebende Elsässer sich dazu hergeben, vor dem Außenminister einen schützenden Wall zu bilden und dem deutschen Volk klar zu machen, daß in bezug auf den Sicherheitspakt die Politik des Außenministers die richtige sei. Aber auch die Elsaß-Lothringer draußen tun den Völkischen nicht den Gefallen, ihre Agitation mitzumachen.

Das zeigt eine Zuschrift aus dem Elsaß, die die Zeitschrift „Des Stahlhelm“ unter der Überschrift „Das Elsaß und das deutsche Memorandum" bringt, und in der folgendes ausgeführt wird: „Wir beobachten seit Monaten mit großem Interesse die vielseitigen Presseäußerungen, die sich im Ansdduß an das deutsche aide memoire in Deutschland, Frankreich und im übrigen Ausland ergeben. Wir haben ja auch allen Anlaß dazu, weil wir in erster Linie Objekt des neuen Planes sind. Uns setzt immer wieder in Erstaunen, daß maßgebende und sonst sachverständige Kreise Deutschlands gerade in dieser Frage im Dunkeln tappen und infolgedessen in bezug auf Elsaß-Lothringen von ganz falschen Voraussetzungen ausgehen. Wir fragen uns, wie es möglich ist, daß man in Deutschland vielfach die Stimmungen in unserem Heimatland vollkommen mißversteht. Hat man denn in den 50 Jahren gemeinsamer Staatlichkeit so wenig in die Seele unseres Volkes hineingesehen?

Zur Sache selbst. In rechtsstehenden Kreisen Deutsdtlands hört man Ansichten, als ob die deutsche Regierung uns durch die nochmalige offizielle Anerkenntnis der in Versailles festgesetzten Grenzen verriete und gleichzeitig in uns die Ansicht aufkommen lassen könnte, als ob Deutschland überhaupt nichts mehr von uns wissen wollte. Diese Ansicht ist ganz falsch. Für uns bedeutet die amtliche Bestätigung des Verzidus eine Befreiung. ALit ihr wird uns Deutsdtfühlenden eine starke Waffe gegen die Assimilationsfanatiker in die Hand gegeben, deren wir uns gern bedienen werden. Wir können jetzt mit bestem Gewissen erklären, die deutsche Regierung hat nichts mit unserer Bewegung und unseren Absiditen zu tun, unser Kampf um Selbstbehauptung ist ein rein elsässisdter und lothringischer, er will nichts anderes als der engeren Heimat dienen. Die deutsdie Regierung hat nichts mit uns und wir nichts mit ihr zu tun. Sie erkennt ihr Desinteressement an. Es wird nun an der Zeit, daß die französisdte Regierung grundsätzlidr denselben Standpunkt einnimmt und Elsaß-Lothringen den Weg zur kulturellen Selbstverwaltung freigibt.

Ich weiß nicht, ob man in Deutsddand wird unseren Gedankengängen in der oben geschilderten Frage folgen können. Vielleicht ist das nicht ohne weiteres möglich. Dann erscheint es mir doppelt gut, wenn ich schreibe, wie es bei uns aussieht.“

Der Frontkriegerbann will nicht länger dulden, „daß die letzten Reste des nationalen Ansehens und der politischen Unabhängigkeit Deutschlands geopfert würden". Er wendet sich gegen den Eintritt in den Völkerbund, weil tatsächlich die Mächte sich nie an Verträge binden werden. Merkt der Frontbann nicht, daß er damit gleichzeitig seine Agitation gegen den Sicherheitspakt ebenfalls ad absurdum führt? Auf der einen Seite ist man der Meinung, daß der Sicherheitspakt als internationaler Vertrag Deutschland auf ewig bindet, auf der anderen Seite erklärt man, daß internationale Verträge jederzeit geändert werden können.

Interessant ist schließlich die Stellung, die Rußland gegenüber diesen Dingen einnimmt. Es steht der Entwicklung nicht nur skeptisch, sondern man muß wohl sagen, ablehnend gegenüber. Deutschland gleicht jetzt dem Reiter in der Fabel, dem zur Seite diejenigen traben, die ihn zu sich hinüberziehen wollen. Es fehlt nicht an französischen Stimmen, die davon sprechen, Deutschland müsse sich jetzt endgültig westlich orientieren. Russische Stimmen dagegen und die Vertreter der sogenannten Ostorientierung in Deutschland glauben, daß alles zerschlagen wäre, wenn Deutschland die Fäden mit Rußland abreißt, was es tun würde, wenn es den Sicherheitspakt abschlösse oder dem Völkerbund beitrete. Die russische Auffassung selbst wird man vielleicht folgendermaßen kennzeichnen können:

Rußland hat volles Verständnis für die Idee des Sicherheitspaktes, soweit er in dem Memorandum vom 9. Februar zum Ausdruck kam, d. h. für den Gedanken des Westpaktes, und seine Wortführer machen kein Hehl daraus, daß sie in Deutschlands Lage wahrscheinlich ebenso handeln würden. Seine Bedenken richten sich auch nicht in erster Linie gegen die Schiedsverträge, die etwa mit Polen abgeschlossen würden. In Rußland sind starke Strömungen im Gang, die überhaupt nach dem Osten hin eine Zeit friedlicher Entwicklung unbedingt vorziehen würden, zumal die große Interessensphäre Rußlands sich mehr nach Asien zu neigt. Das hauptsächliche, vielleicht das einzige Bedenken Rußlands ist Deutschlands Eintritt in den Völkerbund. Rußland glaubt, daß Deutschland im Völkerbund mehr als bisher in das englische Fahrwasser geraten würde, und England, so argumentiert man in russischen Kreisen, wird Deutschland in vieler Beziehung im Völkerbund unterstützen und sieht den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund sehr gern, auch um ihm, gegenüber einer zu starken französischen Hegemonie, in Europa zur Seite stehen zu können. Die Fragen, die hierbei in Betracht kommen, Danzig, Saar, deutsche Minderheiten, sind keine Lebensfragen für England. Es kann darin Deutschland Konzessionen machen, und es hofft dadurch sicherlich zu erreichen, daß die deutsche Politik sich England mehr als bisher zuneigt. Gerade diese Kooperation bringt nach russischer Auffassung die Gefahr mit sich, daß Deutschland auch in den ganz großen Weltfragen mit England zusammen geht und dadurch in die Linie der antirussischen Politik Englands getrieben wird. Das müsse die deutsch-russischen Beziehungen auf die Dauer erschüttern. Rußland werde dadurch zunächst in eine Isolierung hineingetrieben, vielleicht zu einer Neuorientierung seiner Politik veranlaßt. Daher tue Deutschland gut, die russische Freundschaft der Kooperation mit England im Völkerbund vorzuziehen.

Ob diese russische Auffassung von der Rolle, die England im Völkerbund gewissermaßen als Sekundant Deutschland spielen würde, überhaupt richtig ist, sei dahingestellt. Jedenfalls muß die Frage erwogen werden: worin sollen die Dienste bestehen, die Deutschland der englischen antirussischen Politik leistet? Man könnte daran denken,, daß damit angespielt sein soll auf die Rolle, die europäische Staaten früher als Kontinentaldegen Englands gespielt haben. Aber Deutschland kann ja gar nicht dieser Kontinentaldegen sein, weil ihm das wesentlichste dabei fehlt. An eine Aufrüstung Deutschlands ist bei der französischen Eifersucht nicht zu denken. Worin soll denn dann aber die Unterstützung antirussischer Politik Englands bestehen? Daß Deutschland durch die heute inaugurierte Politik sich nicht von Rußland ablenken lassen will, steht für den, der die Verhältnisse objektiv ansieht, fest. Deutschland würde es außerordentlich begrüßen, wenn die deutsch-russischen Handelsvertragsverhandlungen noch vor dem Sicherheitspakt zu einem Erfolg kämen, um so nach außen zu dokumentieren, daß es sich die Selbständigkeit seiner Politik nicht nehmen läßt. Irgendeine gemeinschaftliche Völkerbundsaktion gegen Kußland würde im übrigen doch nur möglich sein, wenn Rußland selbst das Signal dazu gäbe. Gerade Deutschlands parmanenter Sitz im Völkerbundsrat könnte Rußland davor bewahren, einer subjektiven Stellungnahme der im Völkerbundsrat vertretenen Mächte zu unterliegen. Denn Deutschland wird dem russischen Staat stets objektiv gegenüberstehen und alles daran setzen, um den Frieden mit Rußland aufrecht zu erhalten. Was im übrigen England und Rußland im fernen Osten miteinander abzumachen haben, wird Deutschland nicht tangieren. Man hat Deutschland aus seinem großen politischen Weltbeziehungen im Osten herausgeworfen, und wird es deshalb verstehen, daß Deutschland seinerseits heute nur als Zuschauer den Evolutionen und Revolutionen gegenüber steht, denen gegenüber die Mächte, die sich in die Welt geteilt haben, ihren Besitz zu verteidigen versuchen.

Der Kampf, den Deutschland im übrigen gegen das Durchmarschrecht im Artikel 16 führt, zeigt deutlich, daß es nicht die Absicht hat, sich auch nur mittelbar zum Helfer irgendwelcher Experimente zu machen, die etwa aus einer spezifisch antirussischen Einstellung einzelner Staaten sich ergeben könne.

Andere Bedenken gegen den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund beziehen sich hauptsächlich darauf, Deutschland gebe damit seine Unabhängigkeit auf, die ihm heute gestatte, sich die Wege seiner Entwicklunug selbst zu wählen, während es im Völkerbund eingeengt und der Spielball der Launen der Großen des Völkerbundes sein werde. Auch diese Auffassung hat kaum formale Berechtigung für sich. Es ist doch nichts als schöne Theorie, wenn man von der Unabhängigkeit spricht, die Deutschland außerhalb des Völkerbundes besäße. Ein Volk, das unter dem Vertrag von Versailles steht, wird nur ein Hohnlachen in der Welt hervorrufen, wenn es von der Unabhängigkeit seiner Politik spricht. Diese Politik ist zwangsläufig gewesen und hat bis heute noch nicht dazu führen können, das nach dem Friedenvertrag besetzte Land auch nur teilweise vom Feinde geräumt zu sehen. Luftfahrtnote und Entwaffnungsnote sind ein Zeichen dieser „Unabhängigkeit". Die dagegen angehen, von ihrem Gefühl aus mit Recht dieses alles als unerträglich bezeichnen, vergessen, daß der ganze Versailler Vertrag nichts weiter ist,, als eine Orgie von Unerträglichkeiten. Die Freiheit der deutschen Politik ist nichts als eine Chimäre. Sollte in dieser Kritik des Eintritts in den Völkerbund aber der Gedanke liegen, durch ein deutsch-russisches Bündnis die Fesseln des Vertrages zu sprengen, so würde darin auch nur wieder eine Überschätzung eines solchen Bündnisses liegen.

Die Augen Rußlands sind heute mehr auf die Fragen des Ostens gerichtet als nach der westeuropäischen Seite. Irgendeine blinde Vorliebe für Deutschland ist in Sowjetrußland nicht vorhanden. Könnte man sich mit Frankreich verständigen und stände nicht die Regelung der Schuldenfrage zwischen dieser Verständigung, so würden die Bestrebungen des Herrn Herbette in Moskau längst geregelt sein. Im übrigen wird sich jeder, der kühl und nüchtern die Dinge durchdenkt, sagen müssen, daß bei der heutigen Verteilung der militärischen Kräfte die Franzosen eher als die Russen an der Elbe stehen werden. Weit schwieriger aber wird das Problem dadurch, daß der Kommunismus Weltreligion ist und nur bestehen kann, wenn er sich auszudehnen vermag. Eine russische Armee, die mit Deutschland gegen Frankreich zöge, würde die Trägerin der kommunistischen Ideen sein und die 3. Internationale würde dafür sorgen, daß dieser Ideenzusammenklang mit den deutschen Vertretern der Kommunistischen Partei zunächst sichergestellt würde, ehe es sich vielleicht um die politische Sicherstellung des Kampfes handelt. Wie gerade konservative Kräfte bei uns derartige lebensgefährliche Experimente für den preußischen Staat eingehen wollen, ist unerfindlich. So einfach kann man doch in diesen wie in anderen Fragen nicht die Vergangenheit auf die Gegenwart übertragen und es so hinstellen, als ständen wir noch in jener Zeit, in der die Familientradition zweier mit großen Machtvollkommenheiten ausgestatteter Herrscherhäuser den festen Kitt eines deutsch-russischen Bündnisses bildete. Freundliche Beziehungen zum russischen Reich — Kampf gegen die 3. Internationale und die Bestrebungen eines Sinowjew, sobald sie sich in Deutschland zeigen, das ist für die nächste Gegenwart die einzige Möglichkeit der deutsch-russischen Beziehungen.

Was schließlich die Dinge im Völkerbund selbst angeht, so sind Deutschlands Vorbehalte bekannt und brauchen hier nicht weiter erörtert zu werden. Auch der Völkerbund hat im übrigen seine Entwicklung durchgemacht. Man braucht nicht einmal an die russische Deduktion einer englisch-deutschen Zusammenarbeit im Völkerbund denken, daß eine einseitige Beherrschung des Völkerbundes durch Frankreich nicht vorzuliegen braucht und daß die Stimme Deutschlands im Völkerbundsrat gegebenenfalls nicht überhört werden kann. Man vergißt, daß die Beschlüsse des Völkerbundsrats nur einstimmig gefaßt werden können. Danzig und Saargebiet und IO bis 12 Millionen deutsche Minderheiten in fremden Ländern sind schließlich Dinge, für die es-sich lohnt, innerhalb des Völkerbundes zu kämpfen. Im übrigen wird unsere Politik, ob innerhalb oder außerhalb des Völkerbundes, nur darin bestehen können, den Frieden nicht nur für uns, sondern für Europa zu erhalten, die Grundlage für eine gute wirtschaftliche Entwicklung und den Grund für den Wiederaufbau der proletarisierten Schichten zu legen und im übrigen durch eine nationale, aber nicht chauvinistische Erziehung des deutschen Volkes durch eine nationale Einheitsfront allmählich den Weg zum Wiederaufbau zu finden, den man mit den Siebenmeilenstiefeln der Phantasie und des LItopismus gewiß schneller durchmessen mag, den die Wirklichkeit aber nur schrittweise bringen kann.

Es mag viele geben, die diese ganzen Gedanken abtun als materialistisch, als feige, als Zweifelsprodukt. Diese Kritik würde berechtigt sein, wenn die Kritiker die Güte hätten, bessere Wege zu zeigen. Solange sie das nicht vermögen, wird langsame, aber positive Arbeit mehr einbringen als fruchtlose negative Kritik.

Anmerkung:

Hertry Bernhard, Konsul a. D., Verleger — Stuttgart-Obertürkheim — Geb, 1. Jan. 1896, Dresden — Realsch.; 1911— 14 Lehre Bund d. Industriellen, Berlin — 1919— 23 Mitgl. Geschäftsf. Reichsverb. d. Dt. Ind., Berlin, 1923— 29 Priv. Sekr. Reichsaußenmin. Dr. Gustav Stresemann (als solcher m. d. Amtsbezeichn. Konsul. Leit. d. Min. Büros d. AA), dann fr. Schrittst., Mitarb. parteiL Ztg. u. Korrespondenzen, 1933— 38 Inh. Ztgs. Aussdinittbüro D. Lesedst., 1939 bis 1945 Angest. Daimler-Benz AG., Stuttgart-U., 1945— 46 Liz. Träger Stuttg. Ztg., sd. Herausg. Stuttg. Nachr., 1946— 50 MdL Württ. -Bad. (DVP/FDP, zul 2. Vizepräs.) — BV: D. Kabinett Stresemann, 1924; Reventlow Hugenberg u. d. anderen, 1926; G. Stresemanns Vermächtnis. 3 Bde., 1932/33; Frieden, 1947, Mitherausgb.: Werdendes Europa (Schriftenreihe).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aufzeichnungen Stresemanns, datiert vom 30. September und 2. Oktober 1925 über seine Unterredungen mit Tschitscherin in Berlin. Ungekürzter Text nach „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" 6. Jg. Heft 3, März 1955; SS. 153— 162. Maschinenschriftliches Manuskript. Nachlaß Bd. 272. Tagebuch 15. April bis Ende 1925 (F. O. 520/146). Gekürzte Wiedergabe im Vermächtnis II 523 ff.

  2. offensichtlich Schreibfehler, es muß wohl Holland heißen.

  3. Muß offenbar heißen: ethnographischen.

  4. Muß Tschitscherin heißen: der Name Rantzau ist in eine erkennbare Schreiblücke des maschinenschriftlichen Manuskripts offensichtlich später eingesetzt.

  5. Das Wort „auch" ist beim Schreiben des Textes wohl versehentlich hineingerutscht.

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