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Kritik am 20. Juli Eine Auseinandersetzung mit den dokumentarischen Dramen von Hans Hellmut Kirst und Wolfgang Graetz | APuZ 29/1966 | bpb.de

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APuZ 29/1966 Artikel 1 Kritik am 20. Juli Eine Auseinandersetzung mit den dokumentarischen Dramen von Hans Hellmut Kirst und Wolfgang Graetz Rechtsstaat und Grundrechte im Wandel des modernen Freiheitsverständnisses

Kritik am 20. Juli Eine Auseinandersetzung mit den dokumentarischen Dramen von Hans Hellmut Kirst und Wolfgang Graetz

Dieter Ehlers

„Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen", prophezeite Generalmajor v. Tresckow, bevor er am 21. Juli 1944, nachdem der Staatsstreich in Berlin gescheitert war, Selbstmord beging.

Als „Verräter" und „verbrecherische Clique ehrgeiziger Offiziere" beschimpfte das NS-Regime die Verschwörer.

In der Sowjetunion wurde der Staatsstreich als Aufstand preußischer Junker, Reaktionäre und Militaristen hingestellt, weil die Verschwörer sich vom „Nationalkomitee Freies Deutschland" distanziert hatten und weil viele Adelige sowie rechts orientierte Politiker der Weimarer Republik und Inhaber hoher Ämter in Staat und Wehrmacht des Dritten Reiches am Putsch gegen Hitler beteiligt waren.

Beschimpft wurden die Verschwörer auch von den Westalliierten, die alle Friedensfühler der Putschisten seit 1940 amtlich ignoriert hatten, vielmehr auf der „unconditional surrender" beharrten und auch nicht gewillt waren, den chaotischen Augenblick des Militärputsches „Gewehr bei Fuß" abzuwarten. Sie beurteilten den mißglückten Aufstand dekorierter Wehrmachts-Offiziere, die unter Hitler Karriere gemacht hatten, als eine Aktion verkappter Nazis und kollektiv Mitschuldiger, die durch eine opportune Wachablösung angesichts der nahenden militärischen Katastrophe Deutschlands versuchten, die alliierten Armeen um ihren verdienten Sieg zu betrügen.

Bereits im ersten Nachkriegsjähr wandelte sich das Urteil der Welt. Aus Beschimpfung wurde Würdigung. Der Aufstand des 20. Juli korrigierte das deutsche Ansehen. Er wurde zum moralpolitischen Alibi für die Existenz des „anderen Deutschlands". Als augenfälliges, exponiertes Beispiel einer Aktion der deutschen Widerstandsbewegung im Dritten Reich widerlegte der 20. Juli die alliierte These der deutschen Kollektivschuld, er widerlegte die zunächst unterstellte, von Hitler unermüdlich propagierte Identität von deutschem Volk, Reich und Führer.

„Was immer an Kritik an den Männern des 20. Juli geübt werden kann, eines bleibt", meint Michael Freund „sie gaben der deutschen Demokratie von heute ein wenig Vergangenheit und ein wenig geschichtlichen Glanz und ein wenig Tradition. Es ist eine Welt wert, sagen zu können: die deutsche Demokratie beginnt nicht mit der Niederlage von 1945, sondern mit dem Aufstand von Teilen des deutschen Volkes gegen die nationalsozialistische Herrschaft."

Hans Maier Rechtsstaat und Grundrechte im Wandel des modernen Freiheitsverständnisses__ S. 11 Es mag dahingestellt bleiben, ob „die deutsche Demokratie" der Requisiten „Glanz" und „Tradition" bedarf, wesentlich ist, daß die Grundrechte des Bonner Grundgesetzes zur Präambel aller Verfassungspläne gehörten, die von den Verschwörern des 20. Juli fixiert oder diskutiert wurden. Das war ihr gemeinsamer Nenner oberhalb aller Meinungsverschiedenheiten über die Methoden und sonstige Ziele des Aufstandes.

In der Bundesrepublik wurde der 20. Juli zum Objekt jährlich veranstalteter, offizieller Gedenkstunden. Der „Arbeitskreis 20. Juli" (Hinterbliebene und überlebende) wacht darüber, daß an dieser Tradition nicht gerüttelt wird. Er protestierte darum auch gegen die beiden Dramen „Aufstand der Offiziere" von Hans Hellmut Kirst und „Die Verschwörer" von Wolfgang Graetz.

Beide Stücke fanden ihr Forum: „Die freie Volksbühne Berlin", die Lesebühne „art 5" in München, den Rundfunk, die Buchform. Beide Dramen hatten eine weitläufige Resonanz; sie erregten Ärgernis und Aufsehen, vor allem in der Tagespresse, die als solche nur durch Jubiläumsdaten oder spektakuläre Anlässe bewogen wird, sich mit historischen, auch zeitgeschichtlichen Ereignissen zu befassen.

So kommt den beiden Autoren Kirst und Graetz das Verdienst zu, ein Thema, das drohte vorschnell in der Versenkung zeitgeschichtlicher Seminare zu verschwinden oder als Mahnmal tabu zu werden, wieder aktuell in das Gespräch der deutschen Öffentlichkeit gebracht zu haben. Ihr steht die eigentliche, geistes-politische Auseinandersetzung mit dem Hitler-Regime noch bevor, und der 20. Juli war ein Stück dieser Ära. Um sie zu überblicken, ist erst jetzt die zeitliche Distanz gegeben. Zugleich bleibt uns die Vergangenheit der Nazi-Zeit auf den Fersen. Sie läßt sich nicht abschütteln. In rechtsradikalen Kreisen, aber auch mit anderem Signum und unterschwellig sind Denkkategorien und Wertvorstellungen den Nationalsozialismus politisch virulent geblieben. Hitler ist 1945 nicht wie ein Spuk verschwunden, und er ist 1933 nicht vom Himmel gefallen. Er war Vollstrecker, Einpeitscher, Trommler für potentielle, bereits vorhandene und heute noch weiter wirkende deutsche Ideologien des 19. Jahrhunderts, der Wilhelminischen Ära und der zwanziger Jahre. Jüngst hat Professor Fischer das kritische Selbstverständnis des deutschen Nationalbewußtseins konfrontiert mit der These, das Maß der deutschen Kriegsschuld sei bereits 1914 ähnlich gerüttelt gewesen wie 1939. Folgt man den Thesen Fischers, (deren Fundierung von Professor Zechlin bestritten wird), so entfällt der bislang beschworene ausländische Beitrag an der Entstehung des Dritten Reiches durch den Versailler Vertrag, der zweifellos ein ökonomischer und propagandistischer Bodenbereiter Hitlers war. Demnach bliebe Hitler ein lokalisiertes deutsches Phänomen, dessen tiefverzweigte Ursache sich nicht auf die Mitschuld ausländischer oder anonymer Mächte verteilen läßt, aber darum wenigstens faßbarer wird.

„Bewältigung" setzt Definition voraus. Sie ist Sache der Politiker wie der Historiker, gerade jetzt in der aktuellen Phase eines „wieder erstarkten" deutschen Nationalbewußtseins, mitgetragen vom Gaullismus, getrieben von Wiedervereinigungsparolen. In der Frage der nationalen deutschen Wiedervereinigung geht es letzthin nicht um Sachfragen, um technische Kontakte, um pragmatische Lösungen. Das Movens ist gefühlsmäßiger und ideologischer Natur.

Die Idee der Nation spielte eine dominierende Rolle in den Motiven und Zielen maßgeblicher Verschwörer des 20. Juli, nicht in den urbanen Programmen des Kreisauer Kreises oder bei Julius Leber, wohl aber bei Beck, Goerdeler und Graf Stauffenberg. Dagegen wendet sich eine Spitze des Dramas von Wolfgang Graetz. In seinem Stück bewegen sich die Verschwörer auf einer schiefen Ebene, auf der das Bild des Patrioten vom Nationalisten bis zum Nazi verrutscht. Maßgebliche Verschwörer des 20. Juli waren im Grunde Nazis. „Ihr Aufstand konnte nicht gelingen, weil sie identisch waren mit dem, was sie überwinden wollten." So Graetz.

In der Verpackung dramatisierter Dialoge erheben Kirst und Graetz zusammengenommen folgende weitere Vorwürfe gegen den 20. Juli: Die Verschwörung war in sich uneins, zerstritten, sie hatte kein Konzept.

Der Putsch wurde dilletantisch vorbereitet und durchgeführt.

Es gab Beispiele von Feigheit.

Hinzu gesellt sich der Vorwurf des „Verrats", den Kirst und Graetz nicht teilen und auch nicht darstellen, der aber heute noch im Mei-nungsgefüge, besonders der älteren Generation, hartnäckig und weithin verbreitet ist. Auch die anderen Vorwürfe sind bekannt und geläufig. Keine kritische Behauptung von Kirst und Graetz ist aus der Luft gegriffen, an allem ist etwas Wahres dran, aber nichts ist wirklich wahr. Um das zu belegen, darf man sich jedoch keinesfalls darauf berufen, daß der eine Autor (Kirst) aktiver Nationalsozialist war, wie er selbst öffentlich und entwaffnend bekennt, und der andere Zuchthäusler. Auf dem Theater gilt allein das Produkt. Im Drama wie überhaupt in der Kunst ist die erwartete Übereinstimmung von Werk und Person des Verfassers ohnehin oft gebrochen oder verwickelt bis zur Paradoxie. Graetz ist ein arrivierter Funk-Autor, Kirst ein berühmt gewordener Romancier. Kein Geringerer als Piscator war der Bearbeiter und Regisseur des Dramas von Kirst, dem man im übrigen glaubt, daß er Nationalsozialist war und keiner mehr ist. Das gibt es.

Graetz, „der deutsche Jean Genet", ließ sich von kompetenten Leuten beraten; es heißt, er habe die ursprüngliche Fassung seines Dramas entsprechend korrigiert. Sein offensichtlicher Kronzeuge ist Gisevius. Dessen Sicht und Übersicht mögen umstritten sein, weil die Rolle, die er am 20. Juli gespielt hat, vorwiegend auf einem schriftstellerischen Selbst-zeugnis beruht das sich spannend liest wie eine Kolportage. Aber die anderen Zeugen, die Gisevius bestätigen könnten, sind hingerichtet, und Gisevius war nun einmal unbestritten mit dabei am 20. Juli in der Bendlerstraße, der Hochburg des Aufstandes. (Unter den Zivilisten außer ihm nur noch Eugen Gerstenmaier und Otto John.)

Beide Autoren, Kirst und Graetz, bemühen sich um Authentizität. Sie berufen sich auf ein gründliches Studium historischer Quellen und Darstellungen. Beide verwenden in ihren Dialogen wörtlich überlieferte Zitate. Beide verlieren sich im äußerlichen Handlungsablauf. Sie beschränken sich weitgehend, fast bis zur Einheit von Ort und Zeit, auf den Staatsstreich 2 am 20. Juli. Den Ablauf der Ereignisse dieses Tages haben Historiker minuziös rekonstruiert. Kirst und vor allem Graetz halten sich an diese vorgebenen Fakten sogar ziemlich exakt, ohne den Spielraum, den das dokumentarische Drama erlaubt, auszunützen. Aber dadurch wird die Authentizität eines Dramas um keinen Deut gewichtiger. Die Manipulation des Tatsächlichen wird lediglich raffinierter. Jeder Dreh ist allein durch Weglassen oder addieren von dokumentarischem Material oder durch Arrangement der Zitate und Fakten möglich. Eine Häufung von dokumentarischem Material ist genauso porös für tendenziöse Durchdringung wie ein Produkt dichterischer Inspiration.

Das Dokument ist im dokumentarischen Drama zunächst nur ein formales Mittel, nicht mehr und nicht weniger. Das gilt für Kirst und Graetz wie für Kipphard, Weiss, Hochhuth und andere. Für den Historiker, der sich mit den Dramen von Kirst und Graetz auseinander-setzt, steht nicht die Frage nach der Richtgkeit einzelner Fakten zur Diskussion. Es geht allein um den ins Dramatische übertragenen Wahrheitsgehalt, um die Beurteilung der sachlich begründeten oder nur konstruierten Provokation. Auch ist hier nicht der Ort für eine theaterkritische Auseinandersetzung. Die Inszenierung Piscators und die dramaturgische Qualität des Dramas von Graetz sind heftig kritisiert worden. Aber nur in einem Punkt kreuzen sich Gesichtspunkte des Theaterkritikers und des Historikers. Dieser Punkt kam nicht zur Sprache. Er erscheint uns jedoch wesentlich: In beiden Dramen fehlt der eigentliche Gegenspieler. Auch wenn Graetz es nicht wahrhaben will: Historisch waren die Verschwörer des 20. Juli Gegenspieler des NS-Regimes. Dessen Position aber muß sich der Zuschauer (oder Hörer) hinzudenken. Nur eine flüchtige Hilfestellung bieten die Wochenschau-Montagen Piscators. Und nichts fällt dem deutschen Publikum heute schwerer, als jener Kraftakt historischer Phantasie, die vergegenwärtigen soll, welch intakte Machtfülle auch 1944 noch dem Hitler-Regime zur Verfügung stand — eine Macht, die ja nicht nur auf Zwang beruhte oder auf falsch verstandener Gehorsamspflicht, auf Patriotismus, Ignoranz und Angst vor einem verlorenem Krieg. Die Macht des Regimes beruhte auch auf „Treue", Vertrauen, Zustimmung und Beifall — millionenfach.

Gegen diesen Koloß haben die Verschwörer am 20. Juli einen Aufstand gewagt, mit Machtmitteln, die aus nichts weiter bestanden als einer usurpierten Nachrichtenzentrale (des Oberkommandos des Ersatzheeres) sowie einer vagen Attentatschance.

„Das Furchtbare ist, daß wir wissen, daß es nicht gelingen kann, aber dennoch getan werden muß", meinte Berthold Graf Stauffenberg, der Bruder des Attentäters. Es waren fast nur Stabsoffiziere oder entlassene Generale am 20. Juli in der Bendlerstraße versammelt. Andere, nicht anwesende Militärverschwörer waren über halb Europa verstreut. Sie konnten nicht rechtzeitig nach Berlin versetzt werden, weil es den Putschisten mißlungen war, konspirativen Einfluß auf Truppenverschiebungen oder auf die Entscheidung des Heerespersonalamtes zu gewinnen. Außerdem konnte niemand den „Tag X" voraussagen. Seit Jahren lauerten die Verschwörer auf eine Gelegenheit zum Attentat. Mehrere Versuche schlugen fehl.

Mit Ausnahme des mitverschworenen Stadtkommandanten von Berlin, General v. Hase, der dem Wachbataillon Groß-Deutschland direkte Order erteilen konnte, besaß kein Putschist am 20. Juli Kommandogewalt auch nur über ein einziges Bataillon im Raum Berlin. Die Panzertruppenschule in Krampnitz, die Infanterie-Schule in Döberitz, SS-Einheiten in Lichterfelde unterstanden anderen Befehlsköpfen. Alles in allem: Eine schier aussichtslose Position für einen Aufstand, der nur gelingen konnte, wenn lautlos und schnell vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Entsprechend war der Putschplan angelegt. Er bot nur eine Chance gegen rivalisierende Nachfolger eines getöteten Hitler — also gegen Göring, Himmler, Bormann, Goebbels. Es war ein unerhört gewagter, aber auch wohldurchdachter Putsch-plan.Freilich war das gelungene Attentat conditio sine gua non.

Als bekannt wurde, daß Stauffenberg sich geirrt und Hitler den Attentatsversuch überlebt hatte, war der Putsch bereits im Ansatz eklatant zum Scheitern verurteilt.

Generaloberst Hoepner hatte dennoch den Mut, besser gesagt die Zivilcourage, diesen waghalsigen Putsch an exponierter Stelle mitzumachen. Ihm werfen Kirst und Graetz vor, daß er sich (angesichts eines vollauf im Scheitern begriffenen Aufstandes) resignierte Gedanken machte und auch äußerte — in der Tat —, ob es nicht ein Zurück gäbe für die Verschwörer. Aber es gab kein Zurück mehr. Die Verschwörer standen mit dem Rücken zur Wand. „Nicht fliehen — durchstehen", das war die preußische, vielleicht überholt heroische Haltung der Militärverschwörer in der Bendlerstraße. Sie erwarteten ihre Henker: sie ließen sich arretieren. Einzelne wurden erschossen, fast alle erhängt; auch Hoepner, der in den Dramen von Kirst und Graetz zum konstruiert feigen Gegenspieler jener anderen Verschwörer wird, denen die Autoren eine mehr (Kirst) oder minder geteilte Reverenz erweisen, so kläglich sonst auch im Gesamteindruck der 20. Juli als Drama erscheint.

Tatsächlich war dieser Tag des Aufstandes nur noch ein Schattenspiel, eine Farce. Mit der Parole Remers „Hitler lebt" und „Befehl des Führers" war den Verschwörern der Boden entzogen. In Marsch gesetzte Truppen kehrten sofort um und begaben sich in ihre Quartiere. Den Befehlen der Verschwörer begegneten sie mit passiver Resistenz. Sie erwarteten die Befehle Hitlers. Aber das NS-Regime brauchte am 20. Juli überhaupt nicht in Aktion, nicht einmal in Erscheinung zu treten. Der Aufstand brach von selbst in sich zusammen. Das ist „dokumentarisch" belegt. Und so tritt das Regime auch in den dokumentarischen Dramen von Kirst und Graetz nicht in Erscheinung, bei Kirst nur in Gestalt eines klamottenhaft agierenden Gestapo-Beamten, der Julius Leber verhört.

Szenisch rekonstruiert Graetz den technischen Ablauf des 20. Juli bis ins ermüdende Detail. Aber es fehlt die Gegenpartei und es fehlt die Vorgeschichte, die eigentliche Geschichte des 20. Juli, die 1937 etwa begann. Die dann folgenden Jahre des Widerstandes 1938— 1944 geben freilich dramatisch nichts her. Sie bestanden aus Makulatur gebliebenen Programmen, konspirativen Gesprächen und Plänen für Staatsstreichversuche, die immer nur beinahe, aber nie tatsächlich stattfanden.

In beiden Dramen fehlt die Figur des gläubigen Nationalsozialisten, und es fehlen die unpolitischen, pflichtbewußten Beamten und Offiziere, die in Hitler das legale Staatsoberhaupt des deutschen Reiches sahen und den Verschwörern damals (und auch heute noch) Verrat und Eidbruch vorwarfen. (Fromm war ein Fall für sich.) Es fehlen die Volksgenossen und Wehrmachtsangehörigen aller Rangstufen, die den SA-Schrei „Juda verrecke" ignoriert hatten oder gar mitschrieen. Sie standen den Verschwörern en mässe gegenüber, so überwältigend, daß die Idee einer leve en mässe gegen das Hitler-Regime politischer Traum der Verschwörer blieb.

Das Volk, das Hitlers Regime trug, tritt auf der Bühne nicht auf. Es ist dort nicht existent. Das wahre deutsche Drama des 20. Juli findet in den Dramen von Kirst und Graetz nicht statt. Dort sind Verschwörer selbst Gegenspieler der Verschwörung. Interne Auseinandersetzungen und Streitigkeiten liefern die Stimulanz der dramatischen Dialoge. Die Verschwörer erscheinen uneinig. So war es wirklich. Warum auch nicht, fragt sich der demokratische Zuschauer oder Hörer, den vor allem Graetz provozieren will. „Riß im Widerstand" überschrieb kürzlich Paul Sethe in der „Zeit" einen bedauernden Artikel über neue Quellen, die den Gegensatz Goerdeler — Leber demonstrieren. In der Tat, die vielschichtigen Gegensätze innerhalb der Verschwörung, vor allem die programmatischen Gegensätze zwischen „rechts" und „links", waren schroff, aber nie die übergeordnete Grenze wechselseitiger demokratischer Toleranz verletzend.

Mit Ausnahme der illegalen Kommunisten hatten Vertreter aller politischen Richtungen zwischen reaktionär und Sozialrevolutionär Sitz und Stimme im Komplott. Gegensätzliche Konzeptionen für die Zeit nach dem Sturz des Regimes wurden unter den Argusaugen der Gestapo heftig diskutiert, weil die Verschwörung des 20. Juli das historische Modell einer demokratischen Verschwörung war — und dadurch dem gleichgeschalteten, totalitären Machtapparat des Regimes technisch zusätzlich unterlegen.

Ihre substantielle Überlegenheit kommt in den Dramen von Kirst und Graetz nirgends zum Ausdruck. Keiner der beiden Autoren erreicht in Formulierung und Gedankenführung seiner Dialoge das Niveau, auf dem die Verschwörer ihre internen programmatischen Gegensätze begründeten und ausfochten. Mit pathetischen, militärisch abgehackten, meist gebrüllten Sätzen bei Kirst und Piscator oder flotten Redewendungen bei Graetz erzielen beide Autoren eine unfreiwillige Tragik-Komik, die noch verfehlter ist als der Heldenmythos jährlicher Gedenkstunden. Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte.

Maßgebliche Verschwörer waren im Grunde „Nazis", das behauptet Graetz und zitiert als Beleg im Anhang der Buchform seines Dramas Auszüge aus zusammengefaßten Verhörprotokollen der Gestapo, den sogenannten Kaltenbrunner-Berichten für Hitler. Sie sind erstaunlich objektiv und nüchtern abgefaßt, und sie sind aktenkundig. Gering ist dennoch der unmittelbare Quellenwert dieser „Kaltenbrunner-Berichte". Gestapo und Volksgerichtshof waren für die Verschwörer kein Tribunal, dem sie sich offen stellen konnten. Die Freisler-Prozesse waren eine rechtsstaatliche Absurdität. Es gab Verschwörer, die „gelogen haben, was das Zeug hielt". Andere schwiegen nur, zermürbt von den Foltern der Haft, oder sie stellten Schutzbehauptungen auf, im Verhör, im Prozeß, indem sie sich auf eine früher bekundete nationalsozialistische Gesinnung beriefen. Der Historiker, der das gesamte Quellenmaterial zum 20. Juli auch im Detail überblickt, könnte zusätzlich eine Fülle von Belegen und authentischen Hinweisen zusammentragen, die isoliert und zugespitzt den 20. Juli als Aufstand der „Trotzkisten des Nationalsozialismus“ erscheinen ließen. Dennoch würde dieses Verfahren Tatsächliches wahrhaft auf den Kopf stellen.

Die eklektische Ideologie des Nationalsozialismus enthielt völkische, nationalistische, preußische, sozialistische und andere Bestandteile, die durch Hitler — um in seinem Jargon zu sprechen — totalitär „zusammengeschweißt", dadurch aber nicht für alle Zeiten korrumpiert wurden. Es gab „rechts" -orientierte, deutsch-nationale Verschwörer des 20. Juli, die vorübergehend mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Bereits 1934— 1936, zwischen Röhm-Putsch und Hoßbach-Protokoll, haben sie erkannt — der eine früher, der andere etwas später —, daß es keine Anerkennung von Teilstücken einer totalitären Ideologie geben kann. Ihr Widerstand am 20. Juli war grundsätzlich und radikal.

„Wiederherstellung der Weimarer Verfassung" hieß das erklärte politische Ziel ihres ersten Staatsstreichversuches im Herbst 1938. Auch Hoepner war beteiligt, neben Halder, Oster, Schacht (!), Goerdeler, Beck und Witz-leben. (Mit seiner in Thüringen stationierten Division sollte Hoepner die SS-Leibstandarte Hitlers in Schach halten und ihr den Weg von München nach Berlin abriegeln.) Der Putsch mußte jedoch kurz vor seiner Auslösung abgeblasen werden, weil das „Münchner Abkommen" zwischen Hitler, Daladier, Mussolini und Chamberlain die Position Hitlers derart festigte, daß ein Aufstand gegen ihn zu diesem Zeitpunkt Wahnwitz gewesen wäre.

Es war nicht Opportunismus, der die Verschwörer zur Tatenlosigkeit verurteilte, solange Hitler siegreich war. Sie glaubten nicht an einen Dauererfolg, und Dietrich Bonhoeffer mahnte: „Hitler muß fallen, einerlei ob er Erfolg hat oder nicht". Selbst in Zeiten höchster Triumphe Hitlers, außenpolitisch und militärisch, blieb die Verschwörung aktiv, intakt und bereit in Erwartung eines günstigen Augenblicks. Gegen einen umjubelten Diktator hatte sie keine Chance, selbst 1944 fehlte für einen Staatsstreich das „Echo im Volk“ und in der Wehrmacht.

Feldmarschall v. Witzleben erklärte 1942 seinen Mitverschwörern: „Gebt mir eine einzige Divison die gehorcht, wenn ich den Befehl gebe, gegen Hitler zu marschieren, dann schlage ich los". Auch im militaristischen Dritten Reich konnte ein General mit seiner Truppe nicht einfach machen, was er wollte. Darum auch basierte der „Walküre-Befehl“ am 20. Juli 1944 auf einer Täuschung, auf einer Lüge, wie Graetz richtig darstellt (ein Putsch der SS und „frontfremder Parteiführer’ gegen Hitler müsse niedergeschlagen werden. Darum übernimmt die Wehrmacht die öffentliche Gewalt). Ein spontaner Aufruf an Volk und Wehrmacht, sich gegen Hitler zu erheben, hätte Apathie oder Empörung gegen die Initiatoren, hätte eine neue Dolchstoßlegende, aber keine leve en mässe ausgelöst. Das Offizierskorps, vor allem der unteren Ränge, war, wenn nicht „hitlertreu", so doch gehorsamswillig, und jeder konnte sich ausmalen, daß ein Sturz Hitlers Bürgerkrieg bedeutete, Zusammenbruch der Fronten, Gefangenschaft, Vertreibung, noch größeres Elend als der Krieg. Besseres hatten auch die Verschwörer 1944 nicht anzubieten, nur ein rascheres Ende — auch ein Ende für die Häftlinge in den Konzentrationslagern. Aber wer war damals in Deutschland gewillt, dafür auf die Barrikaden zu steigen, und wie viele waren es, die wirklich wußten und wissen wollten, was in Auschwitz und anderenorts geschah? Vor diesem Hintergrund verliert der moralische Vorwurf des „Landesverrats" jeglichen Halt. Dennoch war dieses Argument der stärkste „Widerstand gegen den Widerstand" der Militärverschwörer. Das beweisen die Vorgänge in Berlin am Tage des Aufstandes, nicht aber demonstrieren sie ein kollektives Versagen der Generalität. Die Generalität des Heeres war seit 1938 Plateau einer „Hochburg" der Verschwörung des 20. Juli. Trotzdem übte sie keine militärische Sabotage (ausgenommen Oster). Daß es im totalen Krieg eines totalirären Regimes keine praktisch mögliche Trennung mehr zwischen vaterländisch-deutschen Interessen und den Interessen des Regimes zu geben schien, verursachte auch bei profilierten Regimegegnern Lähmung und Gewissenskonflikte, die die Militärverschwörer des 20. Juli überwanden, andere nicht. Wer will da rechten?

Wer den blinden Gehorsam des Offizierskorps, das den Amoklauf des Regimes bis zur Katastrophe mitmachte, anklagt, wie Graetz es tut, muß vorweg die Militärverschwörer des 20. Juli ausnehmen. Sie sind Subjekt, nicht Gegenstand dieser Anklage.

„Kameraderie mit Nazis", so deutet und „enthüllt" Graetz die Tatsache, daß am 20. Juli Offiziere in der Bendlerstraße, die gegen den Putsch waren (Fromm, v. Kortzfleisch, Piffrader), von den Verschwörern statt „an die Wand" unter Arrest gestellt wurden. Das war in der Tat typisch für die Verschwörer. Sie hatten Skrupel. Hitler und seine Gefolgsleute handelten anders. Von diesen Methoden Hitlers distanzierten sich die Verschwörer des 20. Juli bereits im Verfahren des Staatsstreiches. Sie unterwarfen sich nicht jenen Gesetzen der Macht, die zwingen, einem skrupellosen Gegner mit seinen eigenen Waffen zu begegnen, um ihm gewachsen zu sein. Ihre Konzession im Akt der Notwehr war der Meuchelmord an Hitler und die Lüge im Vorspann des Walküre-Befehls. Daneben stehen ihre jahrelangen Versuche, einen Aufstand ohne Attentat, ohne Bürgerkrieg, ohne „Leichen auf den Gehsteigen" zu inszenieren. Der moralische Rang und die Ohnmacht der Verschwörung im Machtkampf mit dem totalitären Hitler-Regime erwiesen sich in ihren jahrelangen Versuchen, die Motive und Ziele ihres politischen Kampfes mit der Wahl ihrer Methoden zu vereinbaren.

Wer jedoch mit den Maßstäben der Erfolgs-und Zweckethik Hitlers den Staatsstreich in Berlin beurteilt, kommt freilich nicht umhin, entsprechende Aktionen und Reaktionen der Verschwörer „dilletantisch" oder „feige" zu nennen. Man kann es so oder so sehen.

Die Verschwörung des 20. Juli darf nicht erhaben auf ein Podest gestellt und damit der Kritik entzogen werden, zumal es — wie überall — auch in der Geschichte des 20. Juli wunde Punkte gibt. Man kann sie dramatisch hervorheben — bis zur Entstellung. Nur ist das Bild, das daraus entsteht, nicht „dokumentarisch", nicht objektiv. Subjektiver Kritik bietet der 20. Juli Angriffsflächen nach allen politischen Seiten, am wenigsten allerdings nach der freiheitlich-demokratischen Seite hin, von der Graetz ausgeht. Darum ist sein Drama im Ansatz gegenstandslos, aber es provoziert zur Auseinandersetzung mit dem 20. Juli.

Die Lektion der Geschichte des Nazi-Regimes und des 20. Juli sind der einzige Gewinn, der für Deutsche im moralischen und materiellen Trümmerfeld von 1945 noch auffindbar ist. Aber auch derartigen Gewinn kann man noch nachträglich verlieren wie den Krieg. Dann erst wird alles wahrhaft umsonst, dann erst wird die Sinnlosigkeit einer Ära deutscher Vergangenheit wahrhaft gespenstisch.

Gibt es so etwas wie ein politisches Testament des 20. Juli, das aktualisiert werden kann? Diese Frage drängt sich auf, wenn man zum Beispiel an eine außenpolitische Konzeption Graf Moltkes erinnert: Das Deutschland der Nachkriegszeit müsse sich unabhängig zwischen Ost und West, zwischen Materialismus und Pragmatismus um eine eigenständige geistespolitische Erneuerung bemühen. Es könne eine Mission Deutschlands sein, als geographische und politische Mitte das kommende Schisma der Welt zu überbrücken und als Ausgleich und Synthese zwischen Ost und West zu wirken.

Daneben gab es unter den Verschwörern einseitig westorientierte und modfiziert auch ost-orientierte Standpunkte.

Innenpolitisch war die Verschwörung, dieses demokratische Sammelbecken des Widerstandes, von einer Spannweite, die kapitalistische bis sozialrevolutionäre Standpunkte einbezog. Keine gängige Schublade gegenwärtiger politischer Kategorien läßt sich ohne Simplifizierung benutzen, um die Verschwörung des 20. Juli im heutigen Schema politischer Einstellungen unterzubringen. Die Zeit ist hin-weggegangen über zeitbedingte Regierungs-B Programme Goerdelers. überholt im steilen Gefälle der Nachkriegsgeschichte sind die meisten realpolitischen Entwürfe und Verfassungspläne der deutschen Stunde Null, von der die Verschwörer ausgingen. Ihre konstruktiven Entwürfe bieten kein bündiges pragmatisches oder visionäres Ideenmaterial für die aktuelle politische Nutzanwendung. Dennoch ist der 20. Juli ein aktuelles Politikum. Wer die Verschwörung des 20. Juli anerkennt, ist damit immun gegen jede auch nur indirekte oder partielle Tendenz einer Wiederholung des Dritten Reiches, gleichviel in welcher Spielart sie sich annonciert. Darüber hinaus ist der 20. Juli ein provokantes, unbequemes Exempel für die Richtwerte deutscher Nadikriegspolitik schlechthin. Es fordert Skepsis gegen den legalen Nimbus jeglicher Staats-autorität, Überwindung des deutschen Untertanengeistes, Bruch in der rechtsorientierten Tradition deutscher Staatsauffassung, autonome Order des individuellen staatsbürgerlichen Gewissens, Grenzen der militärischen Gehorsamspflicht, Einsicht, daß ein unpolitischer Offizier sich zum Instrument degradiert, Überwindung des formalen preußischen Pflicht-begriffskantischer Prägung, Respekt vor jeder anderen Meinung, Diskussionscharakter demokratischer Politik auch in Notstandszeiten Widerstandsrecht der Regierten als Pendant zum Notstandsrecht der Regierung, Definition der politischen Freiheit als Gegenbild zu totalitären Staatsformen, uneingeschränkte rechtsstaatliche Verhaltensweise auch in Ausnahmesituationen der Notwehr, Primat humanitärer Gesichtspunkte vor Erwägungen der politischen Zweckmäßigkeit.

Das sind keine idealisierten, es sind praktizierte Verhaltensweisen und Richtwerte einer Politik des „anderen Deutschlands“, die am 20. Juli etabliert wurde und deren Relevanz für die gegenwärtige und zukünftige Politik in der Bundesrepublik und der sogenannten DDR sich keineswegs nur auf das Menetekel einer möglichen Wiederholung des Dritten Reiches bezieht. — Im übrigen: Wer wollte wagen vorauszusagen, daß eine Wiederholung eines rechtsradikalen Systems in Deutschland in späteren Generationen unmöglich sei? Die Geschichte lehrt Gegenteile, und die Gegenwart lehrt, daß die Tragödie des 20. Juli noch nicht verjährt ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Michael Freund, Der 20. Juli 1944, in: Die Gegenwart, 9. Jahrg., 17. Juli 1954.

  2. Vgl. Egmont Zechlin, Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche im Ersten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/61, B 24/61, B 25/61, B 20/63, B 22/63.

  3. Hans Bernd Gisevius, Bis zum bitteren Ende, 2 Bde., Hamburg 1947.

Weitere Inhalte

Dieter Ehlers, Dr. phil., Historiker, Leiter der Abteilung „Fernsehen — Kultur" des Südwestfunks, geb. 2. Oktober 1924 in Elberfeld. Veröffentlichung: Technik und Moral einer Verschwörung. 20. Juli 1944, Frankfurt 1964.