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INSTITUT FÜR FRIEDENSFORSCHUNG UND SICHERHEITSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT HAMBURG — Der Direktor — | APuZ 22/1981 | bpb.de

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APuZ 22/1981 Artikel 1 Zivilschutz in der Diskussion INSTITUT FÜR FRIEDENSFORSCHUNG UND SICHERHEITSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT HAMBURG — Der Direktor — MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN Gibt es eine Alternative zum militärindustriellen Wirtschaftskrieg? Technologie in den Osten? Zur Konzeption und Praxis des Consultative Group-Coordinating Committee (CoCom)

INSTITUT FÜR FRIEDENSFORSCHUNG UND SICHERHEITSPOLITIK AN DER UNIVERSITÄT HAMBURG — Der Direktor —

Professor Wolf Graf von Baudissin

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Herrn Wolfgang Nestler 7801 Buchenbach 1. April 1981

Sehr geehrter Herr Nestler, Sie haben Ihr Anliegen zwar an Politiker und an Experten für den Zivilschutz in der Exekutive gerichtet; doch hoffe ich, es enttäuscht Sie nicht, wenn Ihnen nunmehr Wissenschaftler zu antworten versuchen. Als Legitimation wäre anzuführen, daß wir diesen und anderen sicherheitspolitischen Fragen in der Erkenntnis ihres eminent politischen Gewichts und im bewußten Verantwortungsgefühl gegenüber den Mitbürgern seit längerer Zeit nachgehen. Wenn wir zu unterschiedlichen Vorschlägen kommen, so sehen Sie darin, bitte, ein Zeichen für die Komplexität des Problems und für die Bedingtheit menschlichen Urteils, aber auch eine kleine „Hilfe zur Selbsthilfe", wie Sie diese als guter Demokrat anstelle von Patent-lösungen erwarten.

Anlaß Ihres Schreibens bzw. Ihres Engagements für den Bevölkerungsschutz war ein Probealarm. Jeder, der den II. Weltkrieg bereits bewußt miterlebte, wird Ihren Schock nachempfinden. So hege ich volle Symphatie für Motiv, Ziel und Ansatz Ihrer Fragen. Desgleichen teile ich Ihre Besorgnis darüber, daß wir weder als Gesellschaft noch als Staat auf Katastrophen größeren Ausmaßes hinlänglich vorbereitet sind. Dies trifft auf die tragenden politischen Gruppen und die Behörden, aber auch auf die entsprechenden Einrichtungen wie Krankenhäuser und Feuerwehr, auf die Hilfsorganisationen sowie die Masse der Bürger zu. Zwar breitet sich — insbesondere in Teilen der Jugend — eine allgemeine Welt-angst aus, die sich in oft bedenklicher Wirklichkeitsflucht ausdrückt und von Panikmachern genüßlich geschürt bzw. zum Aufbau bestimmter Feindbilder ausgebeutet wird. Dabei begnügt man sich meist mit der Feststellung und pauschalen Verdammung derer, die angeblich an allem schuld sind, statt sich rational mit dem komplexen Spektrum möglicher Konflikte und wahrscheinlicher Katastrophen bzw. ihren Ursachen, Abläufen und Folgen auseinanderzusetzen. Doch gerade eine gezielte Analyse ganz bestimmter Katastrophen-fälle ist zur Vorbereitung eines angemessenen Zivilschutzes unerläßlich. Handelt es sich hier doch um ein breites Gefahrenspektrum, ange. fangen von Naturereignissen über menschlj. ches Versagen und technische Pannen bis zu terroristischen Gewaltakten und kriegeri.sehen Kampfhandlungen.

Erlauben Sie mir, bevor ich auf Ihre Frage nach dem Überlebensschutz für Nicht-Kombattanten eingehe, einen kurzen Blick auf die sicherheitspolitische Lage in Europa. Isoliert man ein Kriegsbild aus seinen politischen Zusammenhängen, ist man schnell in Sandkasten-spiele verstrickt, in denen technische und taktische Daten die Analyse bestimmen, während sich die entscheidende politische Frage nach der Wahrscheinlichkeit bzw. möglichen Vermeidbarkeit dieser spezifischen Katastrophenform gar nicht erst stellt.

Bereits die beiden Weltkriege haben durch ihren Verlauf und ihre Folgen erwiesen, daß die Verwundbarkeit hochentwickelter Industrie-gesellschaften bzw. die bis dahin unbekannte Zerstörungskraft moderner Waffen den kriegerischen Austrag zwischenstaatlicher Konflikte nicht nur aus moralisch-humanitären Motiven verbieten, sondern auch aus Gründen politischer Rationalität. Nicht nur im Westen hat man erkannt, daß Kriege heutiger Intensität die Konflikte, um derentwillen sie entbrannten, nicht zu lösen vermögen, sondern nur neue, noch unlösbarere schaffen. Die Entwicklung der Waffentechnologie seit Kriegsende — die Kernwaffen sind dabei nur ihre spektakulärste Zuspitzung — haben jede Illusion zerstört, daß Länder unserer Entwicklungsstufe sich noch im klassischen Sinne verteidigen ließen. Was von Europa nach einem Kriege von bestimmter Intensität und Dauer überhaupt noch übrig sein sollte, kann nur ein unkenntliches Zerrbild dessen sein, was wir kennen.

So war es ein logischer Entschluß der Bundesrepublik in ihrer exponierten geostrategiB sehen Lage, dem nordatlantischen Bündnis beizutreten und als Mitglied eine Doppelstrategie zu unterstützen, die einmal auf Kriegs-verhütung durch gegenseitige Abschreckung, zum anderen auf Friedensgestaltung durch koordinierte, womöglich gemeinsame Entspannungspolitik zielt. Was dabei bisher herauskam, ist zwar gewiß nicht spektakulär, führte aber zu einem globalen Kräfteverhältnis zwischen Ost und West, bei dem keine Seite über politisch oder militärisch nutzbare Überlegenheiten verfügt. Jede Form des Einsatzes militärischer Mittel zur Erzwingung einseitiger Vorteile stellt ein kalkuliert unverantwortbares Risiko dar. In dieser Situation genügt selbst eine angeblich nur geringe Wahrscheinlichkeit der Eskalation — ich halte sie für nicht so gering — eines einmal ausgebrochenen Krieges in global-strategische Dimensionen und Intensitäten, um gegen etwaige Versuchungen abzuschrecken, die Gesamtlage durch „begrenzte“ Kampfhandlungen zu verändern. Diese, von beiden Seiten geteilte Erwartung, ist eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Fortsetzung der Entspannungspolitik und des Rüstungssteuerungsprozesses zwischen Systemen, deren ideologische, macht-und ordnungspolitische Konflikte bisher nicht geregelt, sondern durch Einfrieren lediglich zeitweise entschärft wurden. Nur so war es möglich, wenigstens das Regelbare zu beiderseitigem Nutzen in Abkommen zu vereinbaren.

Ihre These von der „skrupellosen Machtpolitik des Kreml“ teile ich, was Europa anbetrifft, nicht. Sicherheitspolitisch ist die Sowjetunion jedenfalls seit Kuba kein größeres Risiko mehr eingegangen. Außerhalb Europas hat sie in aller Regel ihre Einflußgebiete nur dort ausgedehnt, wo sie mit amerikanischer Gegenwehr nicht rechnen mußte. Angola ist dafür das beste Beispiel. So gehe ich davon aus, daß die sowjetische Politik — vom ideologischen Klassenkampf einmal abgesehen — den Status quo in Europa unter den gegebenen Bedingungen auch in Zukunft anerkennt und darüber hinaus von einem leistungsfähigen Westen entscheidende Hilfestellung bei der Überwindung ihrer gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Misere erwartet; denn aus eigener Kraft wird sie den Vorsprung der „kapitalistischen" Welt kaum aufholen können und damit — entgegen allen ideologischen Ansprüchen — nur auf militärischem Gebiet wettbewerbsfähig bleiben.

Daß die sowjetische Machtpolitik außerhalb Europas im Zeichen der Schutzherrschaft über alle „progressiven" Kräfte weniger Skrupel zeigt, bleibt unbestritten.

Die Tatsache, daß die Bundesrepublik trotz mancher bündnis-interner Spannungen nicht aus der NATO herauszulösen ist und daß ein örtlicher Angriff auf Lübeck, Helmstedt, Kassel oder Coburg schon durch die Stationierung der verschiedenen nationalen Kontingente auf unserem Territorium umgehend globale Dimensionen annehmen würde, sollte uns vor allzu großer Schwarzseherei bewahren. Es gäbe jedenfalls kaum ein wirksameres Mittel, das Bündnis zu solidarisieren als den Angriff auf einen seiner Mitgliedstaaten.

In diesem Licht hängt die Antwort auf die Frage nach „echtem Schutz" für die westdeutsche Bevölkerung von recht subjektiven bzw. nicht beweisbaren Zukunftserwartungen und -befürchtungen ab. Sie ist durch eine Reihe von Vorentscheidungen mitbestimmt. Dabei möchte ich annehmen, daß Sie mit „echt" keinen vollständigen oder garantierten Schutz gegenüber allen denkbaren Bedrohungen meinen; ein derartig umfassender Totalschutz wäre nicht realisierbar — schon weil die Zerstörungstechnologien in aller Regel mindestens eine Nasenlänge vorausliegen. Worum es nur gehen kann, ist ein relativer, d. h. ein begrenzter Schutz vor klar definierten Gefahren, welche die Bevölkerung mit großer Wahrscheinlichkeit bedrohen könnten.

Setzt man den Grad ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit zum Maßstab für die Rangordnung von Katastrophen, vor denen die Bevölkerung nach Möglichkeit geschützt werden sollte, so subjektiviert man zwangsläufig die Bewertungskriterien. Wir sprechen dann nicht mehr über heutige Gegebenheiten, sondern von möglichen Zukunftsgefahren. Konkret ausgedrückt: es kann sich nicht darum handeln, unter allen Umständen Schutzmaßnahmen gegen die verheerendste aller Katastrophen — also den Krieg — zu planen, sondern Vorsorge gegen die wahrscheinlichsten auf Kosten der unwahrscheinlicheren Katastrophen zu treffen. Jede mittel-und langfristige Planung verlangt zwar eine derartige Prognose; doch dürfte gerade die Weiterentwicklung in sicherheitspolitischer Hinsicht besonders schwer vorauszusehen sein. Selbst wer meiner Skizze der gegenwärtigen Lage weitgehend zustimmt, könnte darauf mit gleichem Recht eine „optimistischere“ wie auch „pessimistischere" Prognose für die nähere und weitere Zukunft aufbauen. So kann man mit gutem Grund befürchten, daß bestimmte, heute schon erkennbare politische und gesellschaftliche sowie technologische Entwicklungen das Ost-West-System, aber auch wichtige Subsysteme destabilisieren und sicherheitspoliti7 sehe Krisen herbeiführen, in denen eine präventive oder präemptive Kriegseröffnung die einzige Überlebenschance zu bieten scheint. Es „stürbe" dann nicht mehr — worüber heute Konsens besteht — der Angreifer als zweiter, sondern angeblich nur der Angegriffene als erster und einziger. Sieht man derartige Möglichkeiten für eine absehbare Zukunft voraus, wird man den Krieg in Mitteleuropa als ernst zu nehmende Katastrophenform in den Bevölkerungsschutz mit einbeziehen und der Vorsorge gegen ihn sogar Priorität gegenüber allen anderen Bedrohungen geben müssen.

Doch kann man auch anders argumentieren und davon ausgehen, daß die Gesellschaften des „Nordens" und damit die politschen Eliten in Ost und West wenigstens insoweit rational und konfliktfähig bleiben werden, als sie nicht nur jede kriegerische Konfliktregelung in Europa weiterhin als undenkbar erachten und ihre Rüstungen entsprechend gemeinsam steuern, sondern darüber hinaus durch zunehmende Zusammenarbeit aller Art und mit gemeinsamem Krisenmanagement eine auch sicherheitspolitisch entspannntere Lage schaffen. Hält man diese Erwartung, für die sich ebenfalls gute — nach meinem subjektiven Urteil sogar bessere — Gründe finden lassen, für die realistischere, erhalten eine Reihe anderer Bedrohungen Vorrang, die nichts mit Krieg und Waffeneinwirkung zu tun haben. Das ungeheuerliche Risiko, das heute selbst für überlegene Aggressoren mit dem direkten wie indirekten Einsatz von Streitkräften verbunden ist, verleiht den nicht-militärischen Pressionsmitteln zunehmend Bedeutung. Man kann ohne vergleichbares Risiko zum Beispiel mit wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen die Politik anderer Staaten entscheidend beeinflussen, die Entschlußfähigkeit ihrer Regierungen und die eigenständige Entwicklung der Gesellschaften blockieren. Das Bedrohungsinstrumentarium und damit die Katastrophen-formen nehmen also zu; die sicherheitspolitische Vorsorge hat folglich ein breiteres Spektrum zu berücksichtigen.

Um dieses mit einem Beispiel zu unterstreichen, möchte ich nur an die mit Sicherheit zu erwartende quantitative wie qualitative Zunahme der Südkonflikte zwischen Dritter und Vierter Welt erinnern, d. h. an die Auseinandersetzungen zwischen den relativ reichen und hoffnungslos armen Entwicklungsländern, aber auch an den heraufkommenden Nord-Südkonflikt; damit meine ich den spannungsgeladenen Interessengegensatz zwischen den Industrie-und den Entwicklungsländern dieser Erde. Beide Konfliktfelder erhalten ihre Energien aus dem Entwicklungsprozeß, aus der rasanten Zunahme der Welt. Bevölkerung, die in tragischem Widerspruch zu den Ernährungsmöglichkeiten steht, aus der weltweiten Rezession und anderem. Unter diesen Bedingungen erscheint eine Sperrung südlicher Rohstoffe, Energieträger oder Märkte nicht mehr unwahrscheinlich. Hier würden die auf Arbeitsteilung angelegten Volkswirtschaften des Nordens, speziell die des Westens, in ernste Krisen gestürzt werden, deren Folgen einen großen Teil der Bevölkerung in ihrer Existenz bedrohten.

Es kann nicht Sinn dieses Briefes sein und überstiege bei weitem meine Expertise, würde ich jetzt detaillierte Vorschläge für den Zivil-und Katastrophenschutz zur Diskussion stellen. Lassen Sie mich nur noch zwei Bemerkungen anfügen:

— eine Warnung vor der gedanklichen und tatsächlichen Konzentration auf den Verteidigungsfall, die ich durch einen Hinweis auf die sowjetische Lösung belegen möchte;

— und eine Anregung zu einem Planungsverfahren, das uns den Erfordernissen der Wirklichkeit vielleicht etwas näherbringt.

Ich wende mich gegen die Überbetonung der Katastrophe . Krieg', weil ich fürchte, — daß bei diesem Ansatz der vorsorgende Schutz gegen andere, eher steuerbare und, wie ich meine, viel wahrscheinlichere Katastrophenformen zu kurz kommen, wenn nicht fortfallen muß. Dabei wird unsere nachindustrielle Gesellschaft zunehmend verwundbarer gegenüber einer großen Zahl von nicht kriegsbedingten Gefahren;

— daß es einen hinreichenden Schutz vor den Verwüstungen eines längeren konventionellen oder auch nur kürzeren Nuklearkrieges nicht gibt, daß aber ein einmal ausgebrochener Krieg nach Ausdehnung und Intensität kaum zu steuern seih wird;

— daß die beträchtlichen und dennoch ungenügenden Aufwendungen für den Zivilschutz (man spricht von einem Minimum von sechs Milliarden pro Jahr) auf Kosten der Kriegsverhütungsvorkehrungen, also der Glaubwürdigkeit der Bündnisabschreckung gehen. Das drückende Ausmaß dieser Ausgaben wird uns gerade in diesem Jahr besonders deutlich vor Augen geführt. Es handelt sich dabei nicht nur um die Modernisierung von Waffen und Gerät, sondern auch um Materialerhaltung, Betriebs-und übungskosten, um angemessene Besoldung und um die materielle Unterstützung der Heranführung amerikanischer Reserven. Wäre die Bundesrepublik gezwungen, ihre diesbezüglichen Leistungen erheblich zu verB ringern, so minderte das nicht nur die rein militärische Abwehrkraft und damit die strategische Stabilität in Europa. Mindestens ebenso folgenreich wäre die politische Aufweichung des Bündnisses. Man würde unter Umständen _ um der Milderung etwaiger Kriegsfolgen willen — den Krieg wahrscheinlicher werden lassen;

_ daß zusätzliche Leistungen für den Zivilschutz die Bundesrepublik angesichts des Absinkens der Wachstumsraten zu erheblichen Abstrichen an anderen, sich sicherheitspolitisch positiv auswirkenden Beiträgen zwingen würden: wie Regionalprogrammen der EG, Ostkrediten, Entwicklungshilfe und Sozialausgaben; — daß ein massiver Ausbau des Zivilschutzes schlecht in die entspannungspolitische Landschaft paßt. Er würde im Osten sicher nicht als Vertrauensbildende Maßnahme begriffen, vielmehr ähnliche Sorgen und Ängste auslösen, wie sie bei uns vor einigen Jahren durch Nachrichten über eine Verstärkung sowjetischer Schutzmaßnahmen entstanden. Wir leben in einer Phase der Ost-West-Beziehungen, in der die subjektive Einschätzung der Absichten der anderen Seite politisch entscheidender ist als die Absichten selbst;

— daß jeder weitergehende Ausbau des Zivil-schutzes nur dann Sinn hat, wenn eine entsprechende Bürokratie eingerichtet und die Bevölkerung in die reibungslose Nutzung der Einrichtungen eingeübt wird. Probealarme bleiben dann nicht nur unverbindliche akustische Signale, sondern lösen Übungen aus und greifen damit empfindlich in den Alltag der Menschen ein. Derartige Belastungen beleben das Feindbild und begünstigen militaristische Tendenzen. In letzter Zuspitzung würde die Bundesrepublik zu einer unterirdischen Bunkerwelt mit Kasernenklima;

— daß das Auslösen umfangreicher Evakuierungsmaßnahmen zwischenstaatliche Krisen erheblich verschärft, weil sie eine für alle Beteiligten neue Situation schaffen. Derartige Aktionen bleiben der anderen Seite keinen Augenblick verborgen und können auch nur im Einverständnis mit den Bundesgenossen geschehen. Doch gerade diese haben im Sinne der gegenwärtigen Abschreckung weithin auf nennenswerte Zivilverteidigung verzichtet. Die von Ihnen angeführten Länder mit Schutz-einrichtungen sind in der Mehrzahl Neutrale, die als Nicht-Bündnis-Mitglieder nach wie vor auf Verteidigung angewiesen sind.

Vielleicht lassen sich meine Bedenken gegen einen rein kriegszentrierten Bevölkerungsschutz mit seinem großen materiellen und personellen Aufwand, den in die Gesellschaft eingreifenden Vorbereitungen und seiner überdies noch fraglichen Effizienz am sowjetischen Beispiel illustrieren. Ich beziehe mich dabei auf einen sehr empfehlenswerten Artikel von Heinz Magenheimer: Die Landesverteidigung der Sowjetunion, die Zivilverteidigung, österreichische Militärzeitschrift 2/81.

Die Zivilverteidigung der Sowjetunion ist wohl die älteste Einrichtung dieser Art; sie wurde 1932 gegründet. Ihre Kontinuität verdankt sie der Überlebensfähigkeit einmal etablierter Bürokratien, aber auch der marxistisch-leninistischen Tradition, nach der Kriege mit kapitalistisch-imperialistischen Staaten nur unter ganz bestimmten Bedingungen zu verhüten, aber auf jeden Fall noch zu gewinnen sind.

Nach verschiedenen Eingliederungsversuchen ist die Zivilverteidigung wieder Teil des Verteidigungsressorts, da dieses am ehesten den reibungslosen Übergang von den Vorkehrungen im Frieden auf Kriegsfunktionen verspricht. Der Chef dieser Hauptverwaltung ist ein Armeegeneral. Ihm sind für den Verteidigungsfall vier Aufgaben gestellt:

— Aufrechterhaltung der kriegswichtigen industriellen und landwirtschaftlichen Produktion;

— Intakthalten der politischen, militärischen und administrativen Führungsverbindungen; — Schutz der Bevölkerung vor der Wirkung der Massenvernichtungswaffen;

— Wiederinstandsetzung kriegswichtiger Einrichtungen.

Der Schwerpunkt der Vorsorge liegt wohl eindeutig bei der ersten Aufgabe. Ihr dienen die Dezentralisierung von neuen Betrieben und die Einlagerung von Lebensmitteln, Rohstoff-und Energievorräten. Auch fällt darunter der bevorzugte Schutz der Führungsgruppen, des Schlüsselpersonals und von Arbeitskräften besonders wichtiger Betriebe.

Der Schutz der Bevölkerung wird in weitgehender Evakuierung der Städte und vor allem in Schutzbauten gesehen, wobei die Weite des russischen Raumes ganz andere Möglichkeiten bietet, als sie in Mitteleuropa zur Verfügung stehen. Die vorhandenen Schutzbunker reichen in kriegswichtigen Einrichtungen und Betrieben angeblich für 24 % der Arbeitskräfte. Die Angaben für den Schutz der übrigen Bevölkerung sind schwankend. Es wird von Schutzbauten für 20— 70 % der Bewohner gesprochen, die für einen Maximalaufenthalt von 3— 4 Tagen angelegt sein sollen. Die Evakuierung der Städte beansprucht rund 72 Stunden. Das sind Daten, die auf den begrenzten Nutzwert all dieser Anstrengungen wei9 sen. Insbesondere die großen Evakuierungsbewegungen stellen eine höchst kritische Phase dar: die Bevölkerung ist unterwegs so gut wie schutzlos; die andere Seite wird in diesen Operationen im Zweifelsfall die Vorbereitungen für einen nuklearen Erstschlag sehen.

Die erwartete Verlustquote liegt nach sowjetisehen Quellen zwischen 3— 6 % der Bevölkerung; doch gibt es auch Hochrechnungen, die unter speziellen Bedingungen mit 25 % Verlusten rechnen. Das sind bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 265 Millionen erschreckende Zahlen mit schicksalhaften Konsequenzen für die überlebenden.

Doch ist das nicht alles. Die Vorbereitungen für die Zivilverteidigung greifen weit in die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen, aber auch in das Leben der Sowjetbürger ein. Neben einer Zivilschutztruppe von 70 bis 100 000 Mann, die vielleicht eine neue Teilstreitkraft werden wird, sind glaubwürdigen Berichten zufolge 20— 30 Millionen Bürger mit Tätigkeiten in diesem Bereich betraut. Die Zahl der hauptamtlichen Funktionäre wird mit etwa 100 000 beziffert. Den Zivilschutz-gruppen bestimmter Betriebe gehören unter Umständen ein Drittel der Belegschaft an.

Die obligatorische Schulung für Zivilverteidigung beginnt mit dem 10. und endet mit dem 60. Lebensjahr. Sie vollzieht sich in jährlich bis zu je 19 Stunden Unterricht in Theorie und Praxis. Die Aus-und Weiterbildung des Führungspersonals beansprucht, wie sich denken läßt, erheblich größeren Aufwand. Zur Ausbildung der Zivilschutzgruppen gibt es „Unterrichtsstädtchen", in denen zerstörte Stadtteile nachgebildet sind.

Konkrete Angaben über die finanziellen Aufwendungen gibt es offenbar nicht; sie sind ihrer Natur nach über die Haushalte verschiedener Ressorts und Institutionen verteilt. Doch werden die Jahresausgaben auf 1— 2 Milliarden Dollar geschätzt.

Insgesamt zeichnet sich, wie Heinz Magenheimer in dem angeführten Artikel feststellt, die sowjetische Zivilverteidigung durch die Logik ihres Konzeptes aus: sie ist ein Teil der Landesverteidigung, also ein Kriegsführungsinstrument. Der humanitäre Aspekt spielt zwar durchaus eine Rolle, doch eine sekundäre. Der Schutz vor nicht-kriegsbedingten Katastrophen ist ausgeklammert. Ähnliche Konsequenzen ergäben sich auch für uns, falls wir den von vielen geforderten Nachdruck auf die Kriegsvorsorge legen würden.

Nun gibt es aber eine Reihe anderer Vorsorge-maßnahmen, die nicht nur auf den Ernstfall Krieg ausgerichtet sind, sondern auch bei einer Reihe anderer — nach meiner Meinung sogar wahrscheinlicheren Katastrophen not-

wendigen Schutz bieten.

Um nur einige aufzuzählen:

— den Ausbau leichter Schutzräume in einer Grenzzone und in der Nähe besonders gefährdeter und gefährdender — politischer, militärischer und industrieller Objekte. Das wären begrenzbare Vorhaben, die ihre Parallelen in Ost und West finden. Sie würden dem Schutz besonders gefährdeter Menschen dienen und die Vorsorge sowie akute Hilfe erleichtern.

Darüber hinaus unterstützten sie im Kriege die Operationsfähigkeit der militärischen Verbände und förderten damit die Glaubwürdigkeit der Abschreckung auf konventioneller Ebene. Da dieser Zivilschutz nur partiell geleistet werden sollte, bliebe die Geiselrolle der Gesamtbevölkerung und damit ein wichtiger Sicherheitsfaktor für beide Seiten erhalten;

— die Förderung leichter Schutzbauten für den privaten wie öffentlichen Gebrauch, aber auch anderer Vorsorgemaßnahmen wie die Bevorratung mit Lebensmitteln und Medikamenten, die Anschaffung von Schutzkleidung u. ä. Man sollte derartige Initiativen begrüßen; -sie erhöhen die Krisenfestigkeit der Gesellschaft; — sonstige „Hilfe zur Selbsthilfe", welche die Behörden entlastet und den Staat der Verpflichtung enthebt, alles und jedes im Detail vorweg zu verordnen.

Zur weiteren Planung eines realistischen und realisierbaren Katastrophenschutzes sollte — unter weitestmöglicher Beteiligung der Bevölkerung und der kommunalen Behörden — eine Generalliste aufgestellt werden, welche die kurz-und mittelfristig zu erwartenden, die Existenz der Bevölkerung bedrohenden Gefahren aufführt, denen mit den vorhandenen Organisationsstrukturen, Verfahren und Mitteln nicht hinreichend begegnet werden kann. Eine derartige Beteiligung der Bürger könnte die Kluft zwischen den Fachkenntnissen der wenigen Experten und dem emotionsbestimmten Halbwissen der Normalbürger verringern, Verständnis für die Komplexität der Sicherheitsprobleme wecken und die Diskussion versachlichen. Hier böte sich eine gute Gelegenheit, die Bürger für ihren Staat zu engagieren und gleichzeitig zur Selbsthilfe zu motivieren.

Auf höherer und höchster Ebene wäre dann die politische Entscheidung zu fällen, welche dieser Gefährdungen nach Wahrscheinlichkeit und Dringlichkeit baldige Abhilfe bzw. Vorsorge verlangen. Im Rahmen der wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten ließe sich etwa ein 10-Jahresplan aufstellen, der flexible Anpassung an neue Entwicklungen aller Art erlaubt. Sollte dieser Plan den Verteidigungsfall — aus welchen Gründen auch immer — nicht berücksichtigen, so würde die Masse der bereits realisierten Vorsorgemaßnahmen gegen nicht-militärische Katastrophen einen nicht zu unterschätzenden Schutz bzw. eine erhebliche Milderung der Schäden in einem begrenzten Kriege gewähren. In diesem Zusammenhang wäre die bisherige Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern ebenso zu überprüfen wie die Bezeichnung des Gesamtvorhabens. Mir leuchtet der Titel „Katastrophenschutz" am ehesten ein. Er bezeichnet klar die humanitäre wie politische Pflicht des Staates und der Gesellschaft, die Bevölkerung vor existenzgefährdenden Bedrohungen aller Art nach Möglichkeit zu schützen. Dabei wäre es von der Entwicklung abhängig zu machen, welcher Katastrophenart als der jeweils drohendsten zunächst und vor allem begegnet werden soll. Das selbstverständliche Einbeziehen des Verteidigungsfalles in das Gesamtspektrum der Katastrophen entdramatisiert die Kriegsgefahr und dehnt die Aufmerksamkeit auch auf die anderen Gefahren aus.

Der Obertitel „Katastrophenschutz''würde die Bildung von Schwerpunkten in der Vorsorge flexibel machen und die ständige Zusammenarbeit der unterschiedlichsten Institutionen, Organisationen und Staatsbürger auf ein gemeinsames Ziel erleichtern, überdies würde er bereits im Frieden die Bundeswehr als eines der effektivsten Instrumente, die dem Staate zur Minderung von Katastrophenfolgen zur Verfügung stehen, fest in diesen „zivilen" Funktionsbereich einbinden.

Ein Treibenlassen dieser Probleme würde ich für unverantwortlich halten. Man kann Ihnen daher nur dafür danken, daß Sie die Zuständigen mit solchem Nachdruck bedrängen, und hoffen, daß Ihr Brief zum Anstoß wird, den Katastrophenschutz noch einmal grundsätzlich und kritisch zu überdenken.

Mit freundlichen Grüßen Prof. Wolf Graf von Baudissin

Fussnoten

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Wolf Graf von Baudissin, Prof., geb. 1907; im Kriege Generalstabsoffizier, zuletzt im Afrikacorps. Nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Kunsttöpfer; 1951 Eintritt in die Dienststelle Blank, Unterabteilungsleiter . Innere Führung', verschiedene Stabsstellen in der NATO; seit 1971 Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.