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Amerikanische Außenpolitik am Scheideweg | APuZ 32/1981 | bpb.de

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APuZ 32/1981 Reagan-Amerika und Westeuropa Plädoyer für eine konstruktive Zusammenarbeit Das außenpolitische Konzept der Reagan-Administration Darstellung, Hintergründe und Bewertung der neuen Außenpolitik der USA Amerikanische Außenpolitik am Scheideweg Die Außenpolitik der Regierung Reagan Zur Wechselbeziehung von Politik und Demoskopie Das Beispiel der aktuellen Sicherheitspolitik

Amerikanische Außenpolitik am Scheideweg

John H. Herz

/ 37 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In regelmäßigen Abständen befindet sich die Diskussion der amerikanischen Außenpolitik in einer Periode von „Great Debates", Grundlagendebatten. Heute erscheint eine solche insbesondere deshalb geboten, weil sich mit der neuen Regierung in Washington eine tiefgreifende Wandlung in der amerikanischen Außenpolitik abzuzeichnen beginnt. Der Autor macht es sich zur Aufgabe, sich auf die grundlegenden Probleme zu besinnen, denen sich im Zeitalter des weltweiten Verflochtenseins aller politischen und wirtschaftlichen Beziehungen eine Weltmacht wie die Vereinigten Staaten als eine führende Wirtschaftsund Militärmacht gegenübersieht. Solche Probleme ermittelt er nicht nur (wie es sonst allzu oft geschieht) im Ost-West-Verhältnis, also auf dem Gebiet von Strategie und Sicherheit, sondern vor allem auch im Nord-Süd-Komplex, der eben nicht nur die Dritte Welt und ihre Entwicklung, sondern alle Länder (einschließlich der entwickelten) berührt, da die Lösung der durch Bevölkerungsexplosion, Ressourcenschwund und Umweltgefährdung hervorgerufenen Überlebensprobleme die ganze Welt angeht. Es wird dargelegt, inwiefern das Staatsinteresse Amerikas in besonderem Maße mit der Bewältigung dieser Fragen verknüpft ist. Vor diesem Hintergrund wird u. a. für die Herabsetzung des Verteidigungsbudgets (z. B. bis zum heute bereits weit überschrittenen, für wirksame Abschreckung erforderlichen Minimum an Nuklearwaffensystemen), für die Erhöhung des Entwicklungshilfebudgets, für eine bedürfnisgerechte Steuerung von Technologietransfer und Kapitalinvestitionen sowie für ein neues System der Kooperation zwischen Entwicklungsländern, Industrieländern und internationalen Organisationen plädiert. Auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik und insbesondere des nuklearen Sicherheitsdilemmas wird eine Erneuerung der Entspannungs-und Rüstungskontrollpolitik sowie der Versuch einer Abgrenzung der bipolaren Interessen-sphären auch außerhalb Europas empfohlen. Rückkehr zum Isolationismus mit Abkehr von Westeuropa (und Israel) steht nicht zur Debatte (wohl aber, wie das Bündnis „realpolitisch" zu begründen sei). Eine Politik der Unterstützung „befreundeter" Diktaturen kann dagegen nicht auf Amerikas Linie liegen. Im ideologischen Wettstreit mit der nichtdemokratischen Welt muß Amerika eine gesunde wirtschaftliche und eine demokratisch-politische Entwicklung aller Länder, insbesondere derer der Dritten Welt, nach Kräften zu fördern versuchen. Sein „nationales Interesse" liegt nicht (nur) in militärischer Stärke und wirtschaftlicher oder sonstiger Beherrschung von Weltregionen. Im Zeitalter der nuklearen Vernichtbarkeit und der globalen ökologischen Gefährdungen verschmilzt es mit dem Interesse aller Menschen und Länder am friedlichen über-und Zusammenleben.

Der vorliegende Aufsatz stellt die deutsche Fassung eines Beitrages dar, der gegen Ende des Jahres in einem sich mit Problemen der amerikanischen Außenpolitik befassenden Band (Foreign Policy Goals of the United States: Do We Need to Change Thern?, hrsg. von George Schwab) in Amerika erscheinen wird. Mein Kapitel wird dort den Titel „U. S. Foreign Policy at the Crossroads" tragen. Ich habe den Text im wesentlichen unverändert gelassen, obwohl er bereits vor dem Amtsantritt Reagans und seiner neuen Mannschaft abgeschlossen war. Ich habe darauf verzichtet, dort, wo die neue Außenpolitik der Vereinigten Staaten von meinen Interpretationen und Vorschlägen abweicht, jedes Mal besonders auf die Diskrepanzen hinzuweisen. Der deutsche Leser wird selber herausfinden, daß die außen-politische . Einstellung des Reagan-Haig-Teams fast überall auf das Gegenteil des hier Vorgetragenen und Vorgeschlagenen hinausläuft. Insbesondere sind die Einschätzungen der derzeitigen amerikanischen Entscheidungsträger einem Weltbild diametral entgegengesetzt, das nach meinem Dafürhalten für die Lösung der immer dringlicher werdenden globalen Probleme Voraussetzung ist. (So hat die Regierung Reagan z. B. damit begonnen, die ohnehin viel zu geringe amerikanische Entwicklungshilfe radikal herunterzusetzen, während das Verteidigungsbudget in den nächsten Jahren um Hunderte Milliarden Dollars aufgestockt werden wird. Diese Probleme haben in einem noch von Carter angeforderten Bericht einschlägiger Regierungsstellen ihren Niederschlag gefunden (The Global 2000 Report to the President, vorgelegt vom State Department und dem Council on Environmental Quality, Deutsche Ausgabe: Global 2000 — Der Bericht an den Präsidenten, Frankfurt, 1980). Der Bericht macht in dürren Worten klar, was getan werden muß, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Es sieht gegenwärtig nicht so aus, als würde Präsident Reagan die Forderungen dieses Berichts zur Grundlage seiner Außenpolitik machen.

I.

Es scheint, als stünden wir immer wieder am Scheideweg. Seit die USA aus dem Zweiten Weltkrieg als eine von zwei Supermächten hervorgegangen ist, hat es unter Beobachtern und Praktikern der amerkanischen Außenpolitik immer wieder „große Debatten" über Wege und Ziele dieser Außenpolitik gegeben. Aber wie so oft in der Welt des Handelns entscheidet der Standpunkt des Betrachters die Frage nach dem entscheidenden Wendepunkt. Es hängt von der Wahrnehmung ab, davon, wie man die Welt sieht. Seit 1945 hat es kaum eine Zeit gegeben in der nicht das Militär (auf beiden Seiten) und die Militaristen eine „akute Gefahr"') gewittert hätten, so wie gerade jetzt bei uns angesichts des angeblichen Schwindens von Amerikas Macht und Einfluß in der Welt. „Kalte Krieger" behaupten, Amerika sei im Niedergang begriffen und müsse seine Weltgeltung wieder erlangen. Bei ihrer „großen Debatte" geht es um Waffen, vor allem um Kernwaffen, geht es darum, den Sowjets aus einer Position der Stärke zu begegnen; an diesem Punkt streiten sie sich mit denen, die Gleichgewicht, Zurückhaltung und Entspannung betonen.

Ich werde auf dieses Problem an geeigneter Stelle zu sprechen kommen, aber ich werde es mit einem anderen, übergreifenden Problem verbinden; ich bin der Meinung, daß die augenblickliche Malaise der Weltlage weniger mit den traditionellen Problemen von Macht und Sicherheit konkurrierender Nationalstaaten zusammenhängt, als vielmehr Ausdruck eines tiefergehenden Dilemmas ist. Seit Beginn des Atomzeitalters steht etwas viel Grundlegenderes auf dem Spiel als die Sicherheit einer einzelnen Nation: die Zukunft der Menschheit. Zwar ist das Wissen um die neue Macht der Menschen, sich in einem alles vernichtenden Krieg selbst zu zerstören, seit Hiroshima Teil unseres Weltbilds, aber wir haben es versäumt, die radikale Folgerung aus dieser Situation zu ziehen und deshalb an eini-gen wirklichen Wendepunkten die falschen Entscheidungen getroffen: Zuerst sofort nach Hiroshima, dann bei der Entscheidung über die Wasserstoffbombe, und so weiter — Entscheidungen von größter Tragweite, weil in Anbetracht der neuen Kriegswaffen eine fundamentale Veränderung der Weltlage eingetreten war. Der Weg, den wir beschritten haben, hat zur bipolaren Machtkonzentration geführt, zur Ost-West-Konfrontation, zu einer immer wahnwitzigeren Spirale des Wettrüstens, kurz, zu »einem tödlichen Konflikt, der die Gefahr der gegenseitigen, wenn nicht globalen Vernichtung in sich birgt.

Die nukleare Bedrohung jedoch ist nur die augenfälligste in einer Reihe globaler Bedrohungen. Das überleben des Menschen wird auch durch einige scheinbar weniger drastische Entwicklungen gefährdet, die erst allmählich deutlich werden. Diese hängen zusammen mit der großen wissenschaftlich-technischen Revolution des modernen Zeitalters und deren Einfluß auf Bevölkerung, Ressourcen und Umwelt. Die technische Revolution hat eine Bevölkerungsexplosion verursacht; dieses Wachstum beschleunigt sich in den meisten Teilen der Welt noch immer und wird so zur Probe für die Belastbarkeit eines begrenzten Planeten. Zusätzliche Milliarden von Menschen brauchen entsprechend mehr Nahrung, Energie und andere natürliche Rohstoffe. Die Kapazität der Erde, die elementaren Bedürfnisse an Nahrung, Wohnung, Arbeit und Erziehung zu befriedigen, steht aber schon heute in Frage, ganz zu schweigen von den Annehmlichkeiten des Lebens. Man erschöpft nicht erneuerbare Rohstoffe und gefährdet dabei die Biosphäre, diese zerbrechliche und verletzliche Einheit von Land, Meer und Atmosphäre, durch Überlastung und Verschmutzung. Die Erde droht unbewohnbar zu werden. Zusammen mit der nuklearen Bedrohung stellt uns diese dreifache Gefahr der demographischen, ökonomischen und ökologischen Katastrophe vor das Problem des physischen überlebens des Menschen. Wenn Existenzerhaltung die Grundlage aller nationalen Interessen ist, müssen nun auch die stärksten und reichsten Nationen ihre Politik an der Sicherung unseres überlebens ausrichten. Ich behaupte, daß der traditionelle politische Realismus seinen Wirklichkeitsgehalt verliert, wenn er nicht erkennt, daß das nationale Interesse jetzt mit den Überlebensinteressen aller zusammenfallen muß.

Wir Menschen sind zu einer bedrohten Gattung geworden, und wo die Zukunft der Gattung auf dem Spiele steht, liegt die Alternative nicht so sehr zwischen Links und Rechts, Falken und Tauben, Kalten Kriegern und Entspannungspolitikern, sondern zwischen provinziellen und globalen Einstellungen und Lösungsansätzen.

Hans Jonas definiert in seinem jüngsten Buch über die Ethik der Verantwortung den neuen Imperativ für den handelnden Menschen folgendermaßen: „Handle so, daß die Wirkungen Deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens." Dies ist ein ungewohntes Gebot für den Staatsmann, der immer nur mit der unmittelbaren Sicherung der Interessen seiner politischen Einheit beschäftigt war, weil die Existenz einer Zukunft für ihn selbstverständlich war. Von jetzt an muß er auch als Treuhänder der Menschheit und ihres Erbes handeln. Außenpolitik muß sicherstellen, daß es überhaupt eine Zukunft gibt, und muß deshalb den Fragen, die die Zukunft betreffen, Priorität einräumen.

II.

Was würde eine unter diesen Vorzeichen gestaltete Neuorientierung für die amerikanische Außenpolitik bedeuten? Neue Ziele nehmen nur auf der Basis eines klaren Bildes von der Welt, in der diese Politik handeln muß, Gestalt an. Ich kann im Rahmen dieses Beitrages nur die wichtigsten Bedingungen aufzählen:

Die Weltbevölkerung wächst noch immer exponentiell. Das wird häufig übersehen oder heruntergespielt, da in einigen Industrieländern das Bevölkerungswachstum gegen Null geht und man in einigen Entwicklungsländern Versuche zur Familienplanung gestartet hat. Aber für jenen Teil der Welt, in dem die meisten Menschen leben, für die Dritte Welt, gilt das Gegenteil.

Und der „Drive" ist so stark, daß, selbst wenn alle oder die meisten jetzt radikal mit Geburtenkontrolle beginnen würden, ein Abflachen, der Kurve erst in einigen Jahrzehnten zu erwarten wäre. Das Bewußtsein dieses grundlegenden Phänomens ist für Politik und Politiker von allergrößter Wichtigkeit. Entscheidend aber ist, daß in der sogenannten Dritten Welt etwas noch nicht zustande gekommen ist, was in den alten Industrieländern geschehen ist, wo die Industrialisierung einer steigenden Zahl von Menschen bessere Lebensbedingungen geschaffen hat, als je zuvor. Was ist nun das Wesentliche an der falschen bzw. pathologischen Entwicklung in der Dritten Welt? Ungeachtet ihrer geographischen, kulturellen, politischen und anderen Unterschiede zeigen diese Länder fast alle das Bild von Gesellschaften, in denen ein kleiner städtischer und modernisierter Sektor — Geschäftsleute, Landbesitzer, Militärs und Politiker —, der einen schnell wachsenden Lebensstandard genießt, der riesigen Mehrheit einer völlig verarmten Bevölkerung gegenübersteht — Landbevölkerung hauptsächlich, deren bißchen Land, falls sie überhaupt welches besitzt, nur zum Hungern reicht. Viele davon ziehen deshalb in die Metropolen, wo sie, weil sie keine Arbeit finden, mit den Scharen ihrer Nachkommen in Slums leben, in Elendsvierteln, in denen selbst die kleinsten Annehmlichkeiten des Lebens fehlen. Aus einem Artikel der New York Times: „Abidjan (die Hauptstadt der Elfenbeinküste) ist eine glitzernde Stadt von Wolkenkratzern aus Glas und Stahl, umgeben von Armenvierteln aus Blech und Pappe."

Das wiederholt sich überall, von Mexiko-City (dessen Einwohnerzahl für das Jahr 2000 auf dreißig Millionen geschätzt wird) bis Kairo, von Kalkutta bis Djakarta; die Reihe läßt sich fortsetzen. Sogar die weiterentwickelten Länder wie Brasilien oder Südkorea zeigen diese Ungleichheiten.

Da sie hauptsächlich kapitalintensive Technologien einführt, kommt die Industrialisierung nur dem modernen ökonomischen Sektor zugute und schafft wenig neue Arbeitsplätze: Investitionen filtern nicht nach unten durch. Diese Entwicklung kennzeichnet alle sich im Modernisierungsprozeß befindlichen Länder. Es werden kaum Technologien eingeführt, die arbeitsintensiv sind und wenig Kapital erfordern. Man legt keine Bewässerungsanlagen auf dem Lande an, sondern betreibt statt dessen in vielen Ländern die Einführung oder Fortsetzung landwirtschaftlicher Produktion für den Export oder für „gehobene Ansprüche", so daß Grundnahrungsmittel eingeführt werden müssen. Systeme, die bei ungünstigen Terms of Trade auf den Export eines einzigen Erzeugnisses spezialisiert sind, tragen zur weiteren Verarmung der Massen bei

Selbst die Ölstaaten oder andere Länder mit reichen Ressourcen pflegen gewöhnlich den Lebensstil westlicher Eliten und/oder schaffen sich ultramoderne Waffensysteme an und einen Polizeiapparat, um die verelendeten Massen zu kontrollieren, statt ihren Reichtum für wirkliche Entwicklung (Landwirtschaft, Infrastruktur etc.) zu nutzen. Sie versäumen es, jene Infrastruktur der Selbstversorgung aufzubauen (breitgefächerte landwirtschaftliche Produktion, Transportsysteme, Schulen usw.), die die älteren Industrienationen in die Lage versetzte, ihre eigenen integrierten sozio-ökonomischen Systeme zu entwickeln. Statt dessen sind die Nord-Süd-Beziehungen durch ein System charakterisiert, in dem Handel und Investitionen der westlichen Welt — besonders ihrer multinationalen Unternehmen, die investieren, um schnelle Gewinne zu erzielen — in einen kleinen Teil der Dritten Welt eindringen, um dort, Hand in Hand mit einer kleinen Oberschicht, ein ökonomisches System zu errichten, von dem der größte Teil der Bevölkerung ausgeschlossen ist, so daß der effektive Binnenmarkt nur fünf bis 15 Prozent der Bevölkerung umfaßt. Kurz gesagt: ein System fehlgeleiteter Investitionen, falscher Produktion und ungleicher und ungerechter Verteilung.

III.

Warum sollte sich amerikanische Politik mit solchen Bedingungen befassen? Arme hat es schließlich schon immer gegeben. Können wir nicht im schlimmsten Falle Almosen geben, um die Hungernden in Bangladesh oder Kambodscha oder der Sahel-Zone zu speisen? Oder eine begrenzte Zahl der Unterprivilegierten dieser Welt als Flüchtlinge oder Einwanderer in unser Land lassen? Aber es reicht nicht, da und dort eine Hungersnot zu lindern. In einer Welt, in der bereits heute eine halbe Milliarde Menschen in einem Zustand lebt, den man „absolute Armut" nennt (d. h. unter dem Existenzminimum an Nahrung, Kleidung und Behausung), helfen Almosen allein gar nichts. Man muß sich das Grundproblem vor Augen halten: Die Zahl dieser Menschen'steigt rapide. Das bedeutet unter anderem wachsenden Bevölkerungsdruck auf die reichen Länder: amerikani37 sehe Interessen sind direkt betroffen, wenn Millionen illegaler Einwanderer die USA überschwemmen. Wie sollen wir es bewältigen, wenn weitere Millionen aus aller Welt zu Lande, zu Wasser und sogar mit dem Flugzeug in die Enklaven des Wohlstands hereinbrechen? Man kann mit Sicherheit voraussagen, daß dies eines der „drückendsten" Problem der Außenpolitik der Industriestaaten in naher Zukunft sein wird Selbstverständlich muß diese Flut aufgehalten werden. Aber wie? Nur dadurch, denke ich, daß die USA und die anderen Industriestaaten alles in ihrer Macht Stehende tun, damit die überbevölkerten Staaten einer größeren Zahl von Menschen Überlebensmöglichkeiten bieten und gleichzeitig effektive Bevölkerungspolitik betreiben können. Dasselbe gilt für die anderen globalen Probleme. Beispiele:

Ressourcen: Die drohende Erschöpfung nicht erneuerbarer Rohstoffe — wie z. B. öl — stellt uns dringend vor die Frage einer gerechteren Verteilung. Es sieht so aus, als könnte die Dritte Welt die Lebensbedingungen für eine steigende Zahl von Menschen nur dadurch verbessern, daß mehr Energie bereitgestellt wird für Düngemittel, Bewässerungsanlagen, Elektrifizierung und Straßenbau auf dem Lan-

de, weniger kapitalintensive Industrien usw. Aber anstatt ihr öl durch Rückführung der Gewinne für die Entwicklung der Beziehungen innerhalb der Dritten Welt zu nutzen, investieren die Ölländer ihre Petrodollars im Westen und/oder „modernisieren" ihr Land, wie der Schah, der sich eine der modernsten Militärmaschinerien der Welt angeschafft hatte, während die Millionenstadt Teheran, bis zum Bersten gefüllt mit arbeitslosen jungen

Menschen vom Lande, noch nicht einmal ein Kanalisationssystem besaß.

Wir kennen die Folgen. Hier liegt einer der Gründe für die wachsende Unruhe der Welt. Wir können kaum von Regimen Stabilität und von Verbündeten Zuverlässigkeit erwarten, wenn die Erwartungen der verelendeten Massen immer wieder enttäuscht werden. Was die Staaten betrifft, die keine Ölvorkommen besitzen: öl von der OPEC, ja; prinzipiell aber müssen sie wie wir ihre Abhängigkeiten dadurch reduzieren, daß sie ihre eigenen Ressourcen entwickeln (von der Wasserkraft bis zur Sonnenenergie), und zwar mit Hilfe von Technologie und Kapital der Industrienationen. Auch hier muß das Ziel die Errichtung lebensfähiger Einheiten in der Dritten Welt sein.

Ökologie: Wir erinnern uns der anklagenden Bemerkung des brasilianischen Delegierten bei einer internationalen Konferenz: Ihr Industrienationen habt euren Anteil an der Verschmutzung der Welt gehabt. Jetzt wollen wir den unseren. Und sie bekommen ihn: Sie holzen ihre Amazonaswälder ab, sie verwandeln ihr Land in eine Wüste, verschmutzen ihre Flüsse und Küsten und sie werfen, wie die Industrieländer, ihre giftigen Abfälle in die letzte große Kloake, das Meer. Supertanker, die immer wieder öl verlieren, erhöhen noch dessen Verschmutzung.

Die entwickelten Nationen müssen nicht nur ihre eigene Umgebung wieder in Ordnung bringen, sondern auch die Nachzügler davon überzeugen, daß es in unser aller Interesse liegt, unsere Umwelt bewohnbar zu erhalten.

IV.

Wie sollte nun Amerikas Politik aussehen angesichts der globalen Bedrohungen? Ich sage „sollte", auch wenn ich mich damit dem möglichen Vorwurf des politischen Idealismus aussetze. Aber zum einen muß Politik Ziele über Tagesinteressen hinaus verfolgen, zum anderen ist es nicht gänzlich selbstlos oder „idealistisch", eine Politik zu betreiben, die-die Nation vor jener Situation bewahrt, wo nur wenige Platz in den Rettungsbooten finden, und unsere Entscheidung die weniger Glücklichen zum Untergang verurteilt, dem wir selbst ohnehin nur kurzfristig entgehen würden. Als jemand Churchill die Gefahr einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit erklärte, soll dieser große Realist gesagt haben, die Konsequenzen seien verhängnisvoll, falls man keine Lösung finde, weil nicht alle Menschen bereit seien, Hungers zu sterben. Es würde dann scharfe Konflikte um die letzten Krümel geben. Internationaler Terrorismus bis hin zu nuklearer Erpressung durch Gruppen oder Regierungen könnten die Folge einer solchen verzweifelten Situation sein.

Bevor ich auf Einzelheiten einer notwendigen Änderung der Ziele der US-Außenpolitik eingehe, möchte ich noch ein paar allgemeine Erfordernisse aufzeigen: Zuallererst kostet es Geld, die Welt so zu gestalten, daß Milliarden von Menschen halbwegs gut in ihr leben können, und zwar eine ganze Menge Geld. Wo soll es herkommen? Zum zweiten: Investitionen und Technologietransfer nützen nichts, wenn sie nicht in andere als die jetzigen Kanäle geleitet werden. Zum dritten kann eine solche Investitionslenkung en gros kaum Aufgabe eines einzelnen Landes sein. Die Politik der USA muß mit der anderer Industrieländer abgestimmt werden, und sie muß, will sie gemeinsame Ansätze und Verfahrensweisen gewährleisten, über internationale Organisationen führen, die ihrerseits viel mehr Kapital und erweiterte Zuständigkeiten brauchen. Schließlich kann eine solche Außenpolitik oder besser internationale Politik nicht betrieben werden, ohne daß sie beträchtliche Auswirkungen auf Innenpolitik und eigene Lebensweisen hat.

Die Notwendigkeit, politisches Handeln über internationale Organisationen zu kanalisieren (Inter-Gouvernementale Organisationen wie FAO, ILO, WHO, Weltbank, IWF und regionale Banken und Fonds, oder Non-Gouvernementale Organisationen wie Stiftungen, Kirchen oder karitative Organisationen), anstatt sich auf individuelle oder bilaterale Ansätze zu verlassen, mag am Beispiel der Bevölkerungsplanung verdeutlicht werden, wo supranationale Ansätze den Versuchen einzelner Länder, die jeweilige Politik der Empfängerländer einseitig zu beeinflussen, eindeutig vorzuziehen sind. Freilich könnten die USA ihre Entwicklungshilfe von befriedigenden Maßnahmen zur Geburtenkontrolle abhängig machen, aber die Einwände gegen einen solchen einseitigen Druck liegen auf der Hand. Andererseits könnte man eine internationale Organisation wie die WHO damit beauftragen, vor Ort zu arbeiten und die gängigen Methoden der Gesundheitsfürsorge mit der Aufklärung über Empfängnisverhütung zu verbinden. Damit könnte die Organisation demonstrieren, daß Maßnahmen, die einzeln nur die demographische Situation verschlechtern würden (durch Verminderung der Säuglingssterblichkeit, Erhöhung der Lebenserwartung etc.), in einer solchen Kombination von Nutzen sind. Auch würde die Bevölkerung auf „Einmischung" durch internationales Personal wohl weniger gereizt reagieren als auf Zwangsmaßnahmen seitens ihrer Regierung.

(Man erinnere sich an das ernüchternde Beispiel Indiens.)

Sicher könnten tiefverwurzelte Vorurteile solche Bemühungen immer noch behindern, aber wie der Fall einiger entwickelter Länder (Frankreich, Italien) zeigt, können solche Hindernisse beseitigt werden, wenn man den Menschen, die heute noch glauben, ihre Altersversorgung sei nur durch viele Nachkommen gesichert, diese Versorgung durch Renten und ähnliche Sozialversicherungssysteme garantiert, wie sie heute noch kaum irgendwo in der Dritten Welt existieren. Die Politik der Familienplanung ist also eng verknüpft mit dem allgemeinen Problem, wie man aus den sich fehlentwickelnden Gesellschaften solche mit wenigstens minimalem Wohlstand machen kann.

Ähnliche Überlegungen gelten für Nahrungsmittel und verwandte Grundstoffe: Die USA sind bekanntlich eines der wenigen Länder mit einem Überschuß an Nahrungsmitteln, und man sollte annehmen, daß ein großer Teil der Nahrungsprobleme dieser Welt mit Hilfe der USA gelöst werden könnte. Aber Nahrungsmittel und ähnliche Exportwaren fallen in den Bereich der freien Marktwirtschaft, das heißt, sie unterliegen der Spekulation von Handelsoligopolen. Wo, wie beim Getreideembargo gegen die Sowjetunion, die Regierung die Hand im Spiel hat, geht es gewöhnlich um Handelskrieg. Internationale Verteilung der Nahrungsmittelüberschüsse statt künstlicher Reduzierung des Anbaus zur Erhaltung des Preisniveaus könnte einen großen Teil des Hungers und der Unterernährung in der Welt beseitigen, und es sollte zu diesem Zwecke eine internationale Getreidereserve eingerichtet werden (ein „immer voller Speicher"). Heute bestehen nur sechs Prozent der US-Entwicklungshilfe aus Nahrungsmitteln Allein jedoch würde selbst dies nicht ausreichen. Um das grundlegende Problem, eine wachsende Zahl nahrungssuchender Menschen zu sättigen, lösen zu können, müssen die riesigen landwirtschaftlichen Regionen, in denen zu wenig oder falsch produziert wird, zu einem höheren Grad von Selbstversorgung gebracht werden, und zwar durch Einfuhr von einfachen Technologien, Aufbau der notwendigen Infrastrukturen und Ausbildung der Landbevölkerung (in Verbindung, wo nötig, mit einer Agrarreform).

Es ist klar, daß eine solche Aufgabe nicht von einzelnen Staaten bewältigt werden kann, nicht einmal von denen, die am wohlhabendsten und am weitesten entwickelt sind. Internationale Organisationen müssen eingeschaltet werden.

V.

Aus Beispielen wie diesen geht hervor, daß dreierlei notwendig ist, damit internationale Organisationen sinnvoll arbeiten können. Einmal die Übertragung neuer Zuständigkeiten von den Mitgliederstaaten an diese Organisationen, vor allem wo es darum geht, vor Ort zu arbeiten, also in den Entwicklungsländern selbst. Internationale Beziehungen könnten dadurch einen neuen Charakter bekommen, daß Nationalstaaten Teile ihrer Souveränität abgeben und die Organisationen dadurch etwas supranationaler werden: ein System zwischen traditioneller nationalstaatlicher Souveränität und einer Weltregierung, wobei jene langsam veraltet und diese weiterhin utopisch bleibt. Zum zweiten muß bei der Übernahme von Aktionen durch internationale Organisationen auf die richtige Art von Investitionen und Projekten besonders Wert gelegt werden. „Richtig" heißt hier ihre Lenkung oder Rückführung in die oben beschriebenen Bereiche: Erhöhung der Produktivität der ländlichen und städtischen Bevölkerung, breitere Verteilung des so erzeugten Reichtums, Grundlagen für ein höheres Maß an Selbstversorgung durch verstärkte Produktion von Massenkonsumgütern, Förderung vernünftiger Bevölkerungspolitik, Umweltschutz. Das bedeutet, „Grundbedürfnis'-Projekte zu favorisieren (wie dies von McNamara als Weltbankpräsident praktiziert wurde).

Da — zum dritten — Internationale Organisationen nur durch die Mitgliedstaaten finanziert werden können, müssen diese bereit sein, ihre Beiträge beträchtlich zu erhöhen. Die USA, die ihr Budget für Auslands-und Entwicklungshilfe fast jedes Jahr kürzen, sind für andere wohlhabende Nationen ein schlechtes Beispiel. Das eine Prozent des Bruttosozialprodukts, das einmal als durchschnittlicher Betrag anvisiert war — eine Zahl, die wahrscheinlich auch nicht im entferntesten zur Sicherung einer Welt, in der alle leben können, ausreichen würde —, ist inzwischen auf ein Fünftel oder weniger geschrumpft. Die Diskrepanz zwischen dieser Zahl und zum Beispiel den Hunderten von Milliarden, die für Ölimporte ausgegeben werden, oder den Riesen-beträgen, die für das MX-System oder ähnlich unnötiges und kostspieliges Verteidigungsspielzeug vorgesehen sind, ist grotesk. Der jährlich wiederkehrende Streit im Kongreß über die Höhe der Auslandshilfe könnte durch längerfristige, z. B über fünf Jahre laufende Budgets ersetzt werden, so daß die Internationalen Organisationen ihrerseits langfristige Pläne ausarbeiten können. In Inflationszeiten sollten die Beträge der Inflation angepaßt werden, wie es bei einigen nationalen Programmen bereits geschieht.

Woher soll das Geld kommen? Ich will mich weiter unten mit den strategischen und sicherheitspolitischen Aspekten von Militär-ausgaben befassen. Hier handelt es sich um den Einfluß der Verteidigungsbudgets auf die Versuche zur Lösung der globalen Probleme. Der Teil des Bruttosozialprodukts, der dem Militärapparat geopfert wird, hier und in anderen Ländern, und vor allem für die Kernwaffen, ist in den letzten zwei Jahrzehnten so gewaltig gewachsen, daß er die Zukunft der Menschheit gefährdet Damit genügend Kapital zur Schaffung halbwegs befriedigender Lebensbedingungen zur Verfügung steht (nicht nur für die Milliarden der Dritten Welt, sondern auch für die entwickelten Länder), sind einschneidende Änderungen in den Einstellungen und in der Politik notwendig. Man kann das übliche Gezänk um ein paar Milliarden mehr oder weniger für den amerikanischen Verteidigungshaushalt getrost vergessen: Es handelt sich um Ausgaben, die längst schon außer Kontrolle geraten sind und in naher Zukunft soviel zu verschlingen drohen, wie heute in den gesamten Bundeshaushalt eingeht. Das muß nationale Programme dergestalt beeinflussen, daß Zustände wie in der Dritten Welt — Ausschluß eines großen Teiles der Bevölkerung vom ökonomischen Prozeß — in diesem Lande leicht von der jetzt schon ausgeschlossenen „Unterschicht” von Minoritäten, Dauer-Arbeitslosen usw. auf immer größere Schichten übergreifen könnten. Wir werden bis an die Zähne bewaffnet sein und nichts mehr zu verteidigen haben.

Es geht nicht einmal nur um die Frage „Kanonen oder Butter", wenn Stadtkerne verfallen und ihre Einwohner, vor allem die jüngeren, * zur Hoffnungslosigkeit verdammt sind. Wir werden den weiteren Verfall der gesamten Infrastruktur erleben: Verrottete Eisenbahnlinien, Gebäude, Straßen, Brücken usw. Das Schlimmste ist, daß die fähigsten Köpfe in die Verteidigungsindustrie abgezogen werden, eine neue Art von Intelligenzverlust, der den technologischen Fortschritt im zivilen Bereich in Frage stellt. Wir werden den kommunistischen Ländern immer ähnlicher werden, bei denen, wie in der Sowjetunion, sich aller „Fortschritt" im militärischen Bereich abspielt, während die Volksmassen arm bleiben. Solange wir die Militärausgaben nicht radikal einschränken, können weder die nationalen noch die globalen Probleme gelöst werden.

Wer demgegenüber meint, daß ein reiches Land wie die Vereinigten Staaten im Gegensatz zur Sowjetunion die weiter ansteigenden Rüstungskosten verkraften könne, ja, daß diese sogar die Wirtschaft „ankurbeln" würden, dem obliegt die Beweislast angesichts des (oben erwähnten) Prozesses des Verfalls der Infrastruktur, des finanziellen Zusammenbruchs der Städte, die mit ihrem anwachsenden Kern einer verarmten Unterklasse von Schwarzen, Latinos etc. die Infrastrukturen und das „Sozialnetz" vor allem aufrechterhalten müssen, sowie des nunmehr von der Reagan-Regierung ins Werk gesetzten Abbaus der Ausgaben für Wohlfahrt, Bildung, Kultur und ähnliche zivile Güter. Zur erhofften Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze ist die Rüstungsindustrie denkbar wenig geeignet, da dort vorwiegend nicht arbeitsintensive Technologien eingesetzt werden. Hinzu kommt die Gefahr steigender Inflationsraten (die wiederum vor allem die Unterschichten treffen), da den zusätzlich geschaffenen Einkommen nur begrenzte Konsumgütermassen gegenüberstehen; was die in der Rüstungsindustrie Beschäftigten produzieren —Nuklearspreng-köpfe oder MX-Systeme —, kann man nicht essen.

Gleichzeitig entwickelt das Militär einen unersättlichen Hunger nach Rohstoffen. Die Verfügbarkeit riesiger Geldmengen verführt zur Verschwendung, und der Einsatz dieser Fonds für immer ausgeklügeltere und teurere Waffensysteme führt dazu, daß man, auf Kosten der militärischen Bereitschaft, das vorhandene Material nicht mehr wartet und instandhält. Und das ganze wird zu einem Weltproblem, wenn die Rüstungsindustrien auf dem Weltmarkt konkurrieren und die Militärhilfe dauernd wächst, so daß sich die Entwicklungsländer die modernsten militärischen Ausrüstungen anschaffen können (oft um die eigenen reformerischen Kräfte zu unterdrücken), während es für die zivile Entwicklung keine Mittel gibt. Der Iran mag wieder als warnendes Beispiel angeführt werden. Solche Länder werden nach den Worten eines Beobachters zu „militärischen Festungen in einer riesigen Wüste ökonomischen Elends" d. h. Milliarden Dollars werden in die Rüstung der Industrie-und Entwicklungsländer gesteckt, wodurch auch die mittlerweile weltweite Inflation festgeschrieben wird, weil Rüstungsinvestitionen per se die Versorgung mit Konsumgütern sinken lassen.

Dies alles betrifft nicht nur Entwicklungsfragen, sondern auch Fragen der Sicherheit. Wenn wir Entwicklungsländer aus der sowjetischen Einflußsphäre heraushalten und auf den Kurs dessen bringen wollen, was wir die freie Welt nennen, können wir uns wohl kaum auf jene autoritären und diktatorischen Regime verlassen, die wir durch unsere Militär-und Entwicklungspolitik unterstützen. Ihre politische, soziale und ökonomische Instabilität macht aus ihnen recht zweifelhafte Verbündete. Wollen wir denn noch weitere Irans in Südkorea, Pakistan oder Lateinamerika? Unsere etwas krampfhafte Suche nach wenigstens halbwegs stabilen Ländern für Militärbasen im Mittleren Osten (Oman, Somalia, Jemen) zeigt, was ich meine. Ägypten, übervölkert und nicht in der Lage, seine Bevölkerung zu versorgen, wird sich vielleicht als ähnliche Enttäuschung erweisen. Oder können wir uns z. B. in Lateinamerika auf Regime des Typs So-moza verlassen, um eine „Castroisierung" zu verhindern? Ich würde eher vorschlagen, mit Ausnahme von kommunistischen alle Arten fortschrittlicher Regime und Massenbewegungen zu unterstützen. Dadurch würden wir nicht nur eine Politik betreiben, die amerikanischen Moralvorstellungen entspricht, und die Menschenrechte verteidigen, wo immer wir Einflußmöglichkeiten besitzen, sondern wir würden auch die Wertschätzung der Län8 der gewinnen, deren Bevölkerung allzuoft deshalb antiamerikanisch wird, weil wir ihre Unterdrücker beschützen. Und gerade solche fortschrittlichen Regime kann man auch mit der Versorgung ihrer Bevölkerung betrauen.

VI.

Die Diskussion um die Einbeziehung der Bündnisfreien hat uns zu den traditionellen Problemfeldern der Außenpolitik geführt — Wettrüsten, Konfrontation versus Entspannung, Ost-West-Konflikt, Bündnispolitik etc. In diesem Bereich will ich mich hauptsächlich mit den Problemen befassen, die mit der anderen großen Überlebensfrage Zusammenhängen: der Gefahr eines Atomkriegs.

Als politischer Realist habe ich immer die Rolle von Macht und Sicherheit in einer Welt souveräner Nationalstaaten betont. Ich entwickelte einmal eine Theorie, derzufolge die historischen Einheiten internationaler Politik auf der Entwicklung von Zerstörungskapazität beruhen, d. h. auf ihrer Fähigkeit zur Kriegführung, von der kleinen mittelalterlichen Burg oder befestigten Stadt, die in den Zeiten vor der Erfindung des Schießpulvers nur kleinen Gruppen Schutz bieten konnte, bis zum Territorialstaat, dessen Verteidigungskapazität für größere Einheiten wie ganze Nationen durch seine, wie ich es nannte, „Impermeabilität" relative Sicherheit bot. Im Atomzeitalter sind jedoch nicht einmal die Mächtigsten und Größten vor Interkontinentalraketen und ähnlichen Waffen sicher. Wenn einmal ein bestimmtes Niveau konventioneller und nuklearer Bewaffnung erreicht ist, das mit Sicherheit jeden Gegner vernichten kann, wird jegliche Weiterentwicklung, die die Möglichkeit zum Overkill beinhaltet, sinnlos. Ich möchte hierzu Hans Morgenthau zitieren, dessen politischer Realismus wohl unbestritten ist: „Wenn man einmal in der Lage ist, den Gegner selbst unter den schwierigsten Bedingungen durch Atomwaffen zu zerstören, hat man ein Optimum an Bewaffnung erreicht, über das hinauszugehen offensichtlich sinnlos ist." Und er sagt weiter: „Solange mein Feind ein einziges Gewehr hat, mit dem er mich töten kann, ist es für unsere Beziehungen irrelevant, ob er außerdem noch die schönste Waffensammlung der Stadt besitzt."

Wir haben schon lange den Punkt erreicht, wo die Begriffe „Überlegenheit" und „Unterlegenheit" im Bereich der atomaren Bewaffnung jeglichen Sinn verloren haben. Die Fähigkeit, beim Gegner katastrophale Zerstörungen anzurichten, reicht als Abschreckung. Ob nun die eine oder andere Seite ein paar Bomben oder Sprengköpfe mehr oder weniger hat, spielt bei einer Menge von Zehntausenden keine Rolle Aber diese einfache Überlegung geht in der Physik und Metaphysik sogenannter strategischer Doktrinen unter. Man mißtraut der eigenen Fähigkeit zum Gegen-schlag und türmt ein Vergeltungswaffensystem aufs andere. Wir in den USA haben drei solcher Systeme: Interkontinentalraketen auf Landbasen, eine Bomberflotte der strategischen Luftwaffe und eine mit Raketen bestückte Unterseebootflotte. Die Sowjets sind eben dabei, ihre U-Bootflotte auszubauen. Eines oder höchstens zwei dieser Systeme wären für jeden ausreichend.

Die Gefahr liegt in der Situation, in der die eine oder andere Seite oder beide glauben, sie könnten losschlagen, ohne einen Gegen-schlag befürchten zu müssen. Solange eines der verschiedenen Gegenschlagsysteme durch einen solchen ersten Schlag nicht getroffen wird, die Unterseeboote zum Beispiel, braucht man solche Angst nicht zu haben; aber wer weiß, was die Nukleartechnologie in Zukunft noch alles auf Lager hat? Laser-Killer-strahlen, das Ende der „Verifizierungsmöglichkeiten", oder was sonst nicht noch alles? Nachdem die Züge für eine Rüstungskontrolle mehrmals verpaßt worden sind, haben wir zur Zeit vielleicht die letzte Chance, durch ein Abkommen über die Beendigung dieses „Fortschritts" und einen schrittweisen Rüstungsabbau die Welt vor einem atomaren Holocaust zu bewahren. Es könnte auch eine weitere atomare Proliferation verhindern, die inzwischen so aussieht, daß keiner mehr weiß, wen er abschrecken soll und wie. Die nicht-nuklearen Staaten haben den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen nur unter der Bedingung unterzeichnet, daß die Nuklearstaaten sich zu ernsthafter Rüstungskontrolle verpflichten würden. Wir und die Sowjets sind also am Zug, und die Zeit wird knapp. Dreimal falscher Atomalarm in den USA innerhalb von sechs Monaten müßte jedem klarmachen, daß wir auf Gedeih und Verderb einem Computerirrtum ausgeliefert sind. „Computer besitzen", wie der New Yorker treffend formuliert, „unter ihren vielen Eigenschaften nicht die Gabe, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden." Aber die Nachricht ging im Kleingedruckten unter.

Wenn man Vertreter der harten Linie zwingt, die Irrationalität des atomaren Wettrüstens einzugestehen, verlagern sie die Diskussion gerne auf die politische Ebene. Sie behaupten, daß die atomare Überlegenheit (angeblich hat sie jetzt die Sowjetunion) den Gegner in die Lage versetzt, atomare Erpressung zu betreiben, schwächere Staaten zu Konzessionen zu zwingen oder sie zu „finnlandisieren". Einige sprechen von „Selbst-Finnlandisierung", mit der man solchem Druck zuvorkommen will. Darin liegt etwas Wahres, aber nicht genug. Wie könnte eine solche Drohung erfolgreich sein, solange die USA und ihre Verbündeten auf Expansionsforderungen mit einem klaren „Nein" antworten können und sich nicht einschüchtern lassen? Sie war es nicht einmal im Falle Finnlands. Solange ein Minimum an atomarer Kapazität zum Gegenschlag und ein Minimum an Ausgewogenheit bei konventionellen Waffen existiert (wie im Moment im Ost-West-Verhältnis), braucht eine solche Pression nicht wirksam zu sein und war es auch nie, wie die Geschichte des Ost-West-Verhältnisses von der Berlin-Blockade bis heute zeigt. Aber es wird weitere Krisen geben, und das führt zu der Frage, wie man, abgesehen von atomarer Abrüstung, Spannungen, die zu Kaltem Krieg und Konfrontation führen, abbauen kann.

Spannungsverminderung heißt Detente — ein Begriff, der bei den Vertretern der harten Linie in Verruf steht. Solschenizyns ideologischem Antikommunismus entsprechend, der behauptet, daß „die Koexistenz mit dem Kommunismus auf demselben Planeten unmöglich ist" verurteilen sie die Entspannungspolitik als nutzlose Beschwichtigungsversuche und einseitiges Nachgeben gegenüber sowjetischen Aber man so Forderungen. wenn den -wjetischen Kommunismus als notwendigerweise expansiv betrachtet, ist das nur die Umkehrung der kommunistischen Sichtweise, die den Westen, speziell die USA, als von Natur aus „imperialistisch" sieht. Beide Vorstellungen sind das Ergebnis eines von mir so genannten „Sicherheitsdilemmas" von Nationen, die sich, ohne einer höheren Autorität zu un-terstehen, für die Verteidigung ihrer Existenz verantwortlich fühlen und sich, weil sie nicht wissen, was der andere vorhat, gegenseitig in Mißtrauen und Angst versetzen; daraus entsteht ein Wettlauf um Macht und Waffen, dessen Spirale sich ins Unendliche fortsetzt.

Beide haben vielleicht wirklich nur ihre Sicherheit im Auge, d. h., sie wollen sich nur verteidigen, aber aus der Sicht des anderen erscheinen sie bedrohlich, aggressiv und expansionistisch. Nachdem Stalin knapp den wirklich imperialistischen Überfall des Nationalsozialismus überstanden hatte, fühlte er sich durch die jetzt dominierenden USA bedroht und baute einen Schutzwall von Satellitenstaaten auf, was vom Westen seinerseits als erster Schritt zur sowjetischen Weltherrschaft betrachtet wurde. Auf beiden Seiten war es wohl ein Fall von „kognitiver Dissonanz": ideologische Voreingenommenheit beeinträchtigte die Wahrnehmung oder Einschätzung von Fakten, die der Ideologie widersprechen. , 1945 hätten Amerikas weitgehender militärischer Rückzug aus Europa und die Demobilisierung seiner Truppen Stalin zeigen können, daß die USA nicht auf weitere „imperialistische" Expansion aus waren. Die Westmächte ihrerseits hätten aus Stalins vorsichtiger Politik schließen können, daß er, zumindest vorerst, der Erhaltung des erreichten Status quo gegenüber expansiven Zielen den Vorrang gab; aber wie lange dauerte es, bis man selbst ein Faktum wie das Ausscheren Chinas aus dem sowjetischen Blick, das der westlichen Ideologie von der gesamtkommunistischen Weltverschwörung widersprach, anerkannte!

Helfen kann hier nur möglichst weitgehende Entideologisierung und eine entsprechend rationalere Einstellung. Wenn man sich in den anderen hineinversetzt, kann man seine Ängste und seinen Argwohn besser verstehen lernen. Entspannung wird möglich auf der Basis gegenseitigen Einvernehmens über die Begrenzung von Einflußsphären Nichteinmi und -schung in die jeweiligen Sphären. In einer bestimmten Region, in Europa nämlich, hat man sich über eine solche Begrenzung der Einflußsphären schon während des Kalten Krieges stillschweigend geeinigt und sich dementsprechend verhalten, obwohl die offizielle Bestätigung erst 1975 in Helsinki erfolgte. Nachdem China nicht mehr zum sowjetischen Block gehört, herrscht nun auch im Fernen Osten Gleichgewicht und relative Stabilität, und die Politik der USA sollte darauf abzielen, dieses Gleichgewicht zu erhalten, nicht da-43 durch, daß man sich mit China verbündet, aber man sollte sich diese Option offenhalten.

Wie sehen nun die Möglichkeiten zur Entspannung in der übrigen Welt , insbesondere in der Dritten Welt und den Arabischen Staaten, aus? Auch dort, trotz Afghanistan (das schon vor der Invasion zur sowjetischen Einflußsphäre gehörte), muß man die Politik der Sowjetunion nicht unbedingt als expansionistisch betrachten, nicht einmal im Hinblick auf den Persischen Golf. Jede militärische Aktion der Sowjets in diesem Gebiet würde die Araber gegen sie aufbringen, und sobald sie anfingen, zu zerstören „um zu retten" (wie wir das in Vietnam praktiziert haben), hätten sie vielleicht ihr eigenes Vietnam, wobei das, was da zu retten wäre, das Golf-Öl ist. Was die USA betrifft, so können wir uns aus den oben genannten Gründen kaum auf stabile Basen in irgendeinem Land dieses Gebiets verlassen. Israel als stabile Demokratie ist eine Ausnahme, aber amerikanische Präsenz in Israel würde mit Sicherheit die Araber zu unseren Feinden machen, einschließlich derer, die uns heute freundlich gesonnen sind. Und nicht einmal die Israelis wünschen unsere Präsenz.

Wohin wollen wir unsere „schnelle Eingreif-truppe" schicken, selbst wenn sie zur Verfügung stände? Wollen wir sie ohne Einladung schicken, wie einst unsere Marineinfanterie? Wie würden wir auf ähnliche Aktionen der Sowjets reagieren? Die einzige Lösung ist m. E. eine Energiepolitik des Westens, die die Abhängigkeit vom öl radikal abbaut, vielleicht in Verbindung mit multilateralen Abkommen über eine internationale Kontrolle der Ölgeschäfte und vielleicht auch anderer lebenswichtiger Energieressourcen wie Uran oder Rohstoffe wie Mangan.

Zurück zum Problem der Entspannung in der Dritten Welt: Man könnte dafür vielleicht eine Basis in einem Ost-West-Abkommen über die Entmilitarisierung von Regionen wie Südostasien und/oder dem Mittleren Osten schaffen, so, wie das einmal für das Gebiet des Indischen Ozeans erwogen wurde und bis zu einem gewissen Grade auch bei den Vereinbarungen über atomwaffenfreie Zonen (wie heute in Lateinamerika) eine Rolle spielt. Die Sowjets könnten sich für ein solches Abkommen aufgeschlossen zeigen, „eingekreist", wie sie sich fühlen, seit sich China nach Westen orientiert. Ob man sich eingekreist fühlt, liegt zwar größtenteils am Betrachter selbst, aber auch eine eingebildete Gefahr kann Politik beeinflussen, und wir sollten die anhaltende

Angst der Sowjets nicht nur vor westlichem Imperialismus, sondern auch vor chinesischer Expansion nicht unterschätzen (genauso wie die Chinesen den sowjetischen „Hegemonismus"

fürchten — wieder das „Sicherheits-Dilemma"!).

Die ernsthafteste Gefahr für den Mittleren Osten ist nicht der sowjetische Expansionismus, sondern der israelisch-arabische Konflikt — ein tragischer und anscheinend unlösbarer Konflikt, weil, wie es scheint, hier beide „recht"

haben. Die USA sind zwar verpflichtet, die Existenz Israels zu sichern. Das sollte uns aber nicht daran hindern, auch die legitimen Ansprüche der Palästinenser auf einen eigenen Staat anzuerkennen. Sicher hat jeder von uns einen Lösungsvorschlag, den er besonders favorisiert. Ich habe mich dazu an anderer Stelle geäußert und kann hier nicht ins Detail gehen.

Was jenen Teil der Welt betrifft, der außerhalb der beiden Machtblöcke steht, so haben die USA Blockfreiheit oft als Zugehörigkeit zum westlichen Lager betrachtet und in jeglicher Annäherung an den Ostblock eine Bestätigung des sowjetischen Expansionismus gesehen, sogar wenn es, wie im Falle Castros oder Äthiopiens, für die Russen selbst eine Überraschung war und (vielleicht nicht einmal eine angenehme!). Aber solche Verschiebungen waren oft die Folge davon, daß die USA den Kolonialismus unterstützten (wie im Falle der ehemaligen Kolonien Portugals) oder Rassismus südafrikanischer Prägung oder ultrarechter Unterdrückungssysteme. Fälle wie der Angolas und anderer Länder der Dritten Welt, die sich „sozialistisch" nennen oder einen Sozialismus eigener Prägung haben, zeigen, daß nicht die Frage von privatem oder staatlichem Eigentum den Ausschlag gibt, sondern dessen Verwendung, d. h., ob man für die Bedürfnisse der einheimischen Massen produziert oder hauptsächlich für den Weltmarkt. Nur wo ein Militärbündnis mit der Sowjetunion besteht, kann man von Zugehörigkeit zum Ostblock sprechen Alle anderen verdienen* unsere Hilfe beim Aufbau lebensfähiger Wirtschaftsund Gesellschaftssysteme (wie oben aufgeführt).

VII.

Die vorstehenden Ausführungen können vielleicht am besten zusammengefaßt werden, wenn man den Begriff „National-(oder Staats-) interesse" anwendet. Obwohl oft ideologisch verbrämt, oder nur Ausdruck verschiedenster subnationaler Gruppeninteressen (wie z. B. von Geschäftsleuten oder ethnischen Gruppen), kann dieses Interesse, solange wir in einer Welt von Nationalstaaten leben, am besten definiert werden als das „Sicherheits" -In-

teresse einer politischen Einheit am Schutz ihres Territoriums, ihrer Bevölkerung und ihrer Unabhängigkeit. In einer Zeit äußerster atomarer Verwundbarkeit erfordert die Sicherung dieses Interesses im Falle der USA entweder Weltherrschaft, die, außer durch einen alles vernichtenden Atomkrieg, nicht zu erreichen ist, oder ein Gleichgewicht atomarer und konventioneller Waffen. Wegen der extremen Gefahr, die die atomare Bewaffnung birgt, muß dieses Gleichgewicht aber auf dem niedrigsten noch wirksamen Niveau hergestellt werden. Ein dreifaches Abschreckungssystem müßte dabei ausgeschlossen sein, über SALT und ähnliche Abkommen hinaus könnte ein einseitiger Abbau von Waffen, die nicht zur Abschreckung nötig sind, ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Das könnte Mißtrauen abbauen und zu weiteren bioder multilateralen Schritten führen.

Auch das Problem „Interessen versus Ideale" — zu letzteren gehört z. B. auch der Schutz der Menschenrechte im Ausland — könnte auf rationalere Weise angegangen werden, wenn man die grundlegenden nationalen Interessen — wie etwa ein Mindestmaß an Sicherheit — von „subnationalen“ Interessen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ethnischer Gruppen unterscheidet. Als Realist kann man genuine vitale Interessen nicht bedingungslos den Idealen unterordnen; aber wo immer es möglich ist, sie ohne Gefährdung solcher Interessen zu verwirklichen, sollte man das tun. So können wir im Falle sowjetischer Dissidenten kaum mehr tun als protestieren, wenn wir nicht Frieden und Entspannung gefährden wollen. Aber wo, wie in Lateinamerika, amerikanischer Druck zum Schutz der Menschenrechte Erfolg verspricht, ohne nationale Inter-essen (die man von denen der multinationen Konzerne z. B. unterscheiden muß) zu gefährden, sollte die Entscheidung klar sein.

Solange wir über die atomare Abschreckung und unsere Küsten mit konventionellen Waffen verteidigen können, brauchen wir nicht einmal mehr, wie früher, das Gleichgewicht der Kräfte in Europa. Folgt daraus ein neuer Isolationismus, ein Rückzug in die „Feste Amerika"? Aus egozentrischer Sicht amerikanischer Sicherheitsinteressen mag das so scheinen. Von geographisch benachbarten Gebieten wie der Karibik einmal abgesehen — warum sollten wir Westeuropa verteidigen oder Südkorea oder Afrika oder den Mittleren Osten? Was kümmert es uns, ob die Russen oder sonst irgendjemand irgendwo auf der Welt ein bißchen mehr Land oder Einfluß haben, solange wir durch unsere Waffen vor einem sowjetischen oder sonstigen Angriff sicher sind? Warum sagen wir nicht zu den Israelis und Arabern: Die Pest über euch beide! Warum überlassen wir nicht z. B. Indien mit seinen enormen Problemen den Russen, damit diese sich damit herumschlagen, und lassen die Finger davon?

Die meisten von uns würden auf einen nationalen Egoismus dieser Art heftig reagieren. Aber warum eigentlich? Ich behaupte, wir müssen unseren Begriff des nationalen Interesses erweitern und auch darüber hinausgehen. Erweitern deshalb, weil, wie ich zu zeigen versucht habe, unsere Welt, die ganze Meinschheit, sich der dreifachen Bedrohung: Übervölkerung, Versiegen der Rohstoffquellen und Zerstörung der Umwelt gegenüber sieht. Und es liegt deshalb im nationalen Interesse — bei weiter Auslegung dieses Begriffes —, diesen Gefahren mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu begegnen. Aber wir müssen auch eine Politik betreiben, die überhaupt über das „nationale Interesse" hinausgeht: Wir verlieren unsere nationale Identität („soul"), wenn wir uns nicht mehr um das Schicksal derer kümmern, mit denen wir unsere kulturellen und politischen Wertvorstel-lungen teilen. Es sind die Werte der westlichen Welt, und es sind vor allem die europäischen Länder, von denen wir abstammen, historisch und geistig, und die unseren Schutz brauchen in einer immer noch bipolaren Welt zweier Supermächte. Für die unter sowjetischer Herrschaft Lebenden können wir leider wenig tun. Mehr tun können wir jedoch in solchen Ländern, in denen wir militärischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Einfluß haben, handle es sich um Südkorea oder Südafrika, Guatemala oder die Philippinen. Wir können und wir sollten Israel auffordern, als Gegenleistung für unseren Schutz der arabischen Bevölkerung westlich des Jordan Selbstbestimmung zu gewähren und dort nicht zu siedeln. Wir können auch unsere europäischen Alliierten und Japan auffordern, sich angemessen an der Verteidigung zu beteiligen. Vor allem aber müssen wir von ihnen und von unserer eigenen Bevölkerung jene Opfer verlangen, ohne die ein halbwegs erträgliches Leben in der Welt der Armen nicht gesichert werden kann.

Eine neue Politik globalen überlebens wird die ernste Frage aufwerfen, ob die entwickelte Welt und vor allem die USA zu den erforderlichen Änderungen ihrer Politk, ihrer Einstellungen und ihrer Lebensweise bereit sind.

Wenn unser Staat nicht zu einem ausgehöhlten Militärstaat werden soll, in dem eine immer kleiner werdende Elite einer immer größer werdenden verarmten Menge gegenübersteht, wie heute in den fehlentwickelten Ländern, müssen Kapital und Technologie anders eingesetzt werden: Investitionen müssen überall so gesteuert werden, daß weniger Waffen und Luxusgüter und dafür mehr Gebrauchsgüter für die Massen, wie z. B. Wohnungen, produziert werden, daß eine Infrastruktur aufgebaut oder wiederhergestellt wird, die schändlich vernachlässigt worden ist, und daß unsere Umwelt gerettet wird, die uns alle zu vergiften und zu ersticken droht. Wir leben in einer Welt des Mangels — nur haben wir in der entwickelten Welt dies noch nicht recht begriffen. Das heißt nicht Nullwachstum zu fordern. Im Gegenteil: Wir brauchen jedes mögliche Wachstum, um die Bedürfnisse einer rapide wachsenden Menschheit zu befriedigen. Aber uns in unserer überentwickelten Welt und ihrer verschwenderischen Wegwerfgesellschaft steht nun Genügsamkeit, wenn nicht einschneidende Sparsamkeit ins Haus, und das gilt auch für jene Teile der Arbeiterklasse, deren Lebensweise und -Standard denen der traditionellen Oberschichten nahe-kommen,die aber nicht erwarten können, daß ihre ausgebeuteten Brüder in der Dritten Welt der Ausbeutung entgehen können, wenn nicht deren Lohnniveau ein Stück weit dem eigenen angeglichen wird. Aber die größten Opfer müssen die Superreichen bringen und ihr umfangreicher Anhang in unserem System der Trusts und Konzerne. Die Zeit von „Wein und Rosen“ ist vorüber.

Wenn ich predige, will ich damit kein Spielverderber sein. Ich hätte am liebsten eine Welt, in der alle alles, was sie bietet, genießen können. Aber das ist utopisch in einer Welt, in der so viele Milliarden leben. Und eine Welt, in der die Bonbons gerechter und fairer verteilt sind, wäre mir viel lieber als eine Hob-bes'sche, in der die Menschen um Churchills „letzte Krümel" kämpfen. Aber um dahin zu kommen, muß Außenpolitik wie überhaupt jede Politik sich an der Zukunft orientieren, muß sie die Interessen zukünftiger Generationen zum Maßstab machen. Weil, darauf hat Jonas hingewiesen, das Nichtexistente keine Lobby hat und die Ungeborenen machtlos sind müssen alle, die um sie besorgt sind, ihre Lobbyisten werden.

Ich weiß sehr wohl, daß der allgemeine Trend der Einstellungen und der Politik, zumindest in den USA, in die entgegengesetzte Richtung geht. Alles dreht sich um Probleme des Wettbewerbs, um Rüstungsfragen und anderes mehr, statt um globale Anstrengungen, wie etwa um die Bemühung, den Frieden mit den anderen Ländern und vor allem mit der anderen Supermacht zu sichern. Die augenblickliche Angst davor, schwach und unvorbereitet zu sein, die teilweise der Niederlage in außen-politischen Abenteuern entsprungen ist, entspricht einem früheren Stadium der menschlichen Entwicklung. Dieser Drang zu herrschen, „Nummer eins" zu sein in einer Arena des Wettbewerbs und Kampfes ist ein Bedürf-nis, das mit uralten, aber jetzt überholten Weltbildern und Vorstellungen verknüpft ist.

Ich möchte schließen mit ein paar Bemerkungen über den mehr allgemeinen Einfluß, den die Wahrnehmung ihrer Welt auf die Lebensgestaltung der Menschen hat Von der Wei-se, wie nicht nur Menschen, sondern alle Lebewesen ihre Welt sehen, hängt es ab, ob und wie sie überleben. Je genauer, je umfassender, je differenzierter ihre Wahrnehmung ist, desto größer sind ihre Überlebenschancen. Das gilt nicht nur für das Individuum, sondern für die ganze jeweilige Gattung. In der menschlichen Geschichte hat sich im Laufe der Jahrtausende der Prozeß von Information und Wahrnehmung nicht nur räumlich erweitert (um schließlich den ganzen Planeten als Heimat zu begreifen) und nicht nur zeitlich (man erfährt die Welt als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), sondern auch im Hinblick darauf, was notwendig war, damit einzelne Gruppen als gesellschaftlich und kulturell organisierte Gruppen überleben konnten. Die Wahrnehmung der Welt als Arena, in der politische Gruppen um Wohlstand, Macht usw. kämpfen müssen, ließ immer größere Nationalstaaten gedeihen. Heutzutage garantiert eine solche Sichtweise nicht einmal mehr das Überleben der Stärksten. Die Menschheit kann heute entweder als Ganzes überleben, oder sie ist zum Untergang verurteilt. Sie wird untergehen, wenn wir die überholten Weltbilder vergangener Epochen nicht über Bord werfen — Weltbilder, in denen die Möglichheit und Gefahr des Untergangs der menschlichen Rasse keine Rolle spielte, keine Rolle zu spielen brauchte. Die Menschheit hat nur dann eine Überlebenschance, wenn unsere Wahrnehmung der Welt sich erweitert, d. h. die globalen Gefahren, die ich dargestellt habe, einbezieht und wenn wir unser gesamtes politisches und sonstiges Handeln gemäß dieser Erkenntnis gestalten.

Ich weiß, daß ich mit dieser Forderung nach einer radikalen Neuorientierung zu einer Minderheit gehöre, einer kleinen Gruppe von Philosophen wie Hans Jonas, Ökologen wie Barry Commoner und ein paar Praktikern wie Robert McNamara. Zum Beruf des Intellektuellen gehört es, Weltbilder zu produzieren. Wenn man bedenkt, daß sich heute sogar unter den Intellektuellen so viele „um die Fahne scharen", d. h. sich auf nationalen, wenn nicht chauvinistischen Provinzialismus zurückziehen, mögen die Einschätzungen und Vorstellungen dieser Minderheit utopisch erscheinen. Aber beim augenblicklichen Zustand dieser Welt könnte es sein, daß „Realismus" üblicher Art zum Untergang führen, wogegen sich das scheinbar Utopische als Weg zum überleben erweisen könnte. Wahrlich, wir stehen wirklich an einem Scheideweg.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Ausdruck („present danger") spielt an auf eine der im letzten Jahrzehnt ins Kraut geschossenen Pressionsgruppen auf dem Gebiet der außenpolitischen Meinungsbildung, an deren Entstehung und Propagandatätigkeit immer mehr „neo-konservative" Akademiker und andere Intellektuelle beteiligt sind; hier das „Committee on the Present Danger" (s. hierzu: Ernst-Otto Czempiel, Amerikanische Außenpolitik, Stuttgart 1979, S. 44 ff.)

  2. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979, S. 36.

  3. New York Times vom 26. Mai 1980. Oder, stellvertretend für viele, siehe die Kolumne von John B. Oakes, der einen Bericht über die Marcos-Diktatur folgendermaßen beginnt: „Manila, — mitten in dieser Stadt blitzblanker neuer Bürogebäude schmutzige Wellblech-Slums mit einer Million illegaler Bewohner ..." (New York Times vom 4. Juli 1980).

  4. Eine knappe Zusammenstellung der wichtigsten Entwicklungen bei A. L. Valdez, The Global Bracero Problem, in: Proceedings of the 73rd Annual Meeting, American Society of International Law, Washington 1979, S. 119 ff. (123/24).

  5. Schon heute setzt das Problem von „Flüchtlingen", die weniger vor politischer Unterdrückung als vor ökonomischem Elend fliehen, solche wohlhabenden Länder unter Druck, die bereit sind, politische Flüchtlinge aufzunehmen, aber keine „Horden" von Opfern der Armut in der Dritten Welt. Das Problem ist bereits akut, nicht nur für die USA wo das riesige karibische Elendsgebiet dabei ist, seine verzweifelten Armen ins „Gelobte Land“ zu schicken, sondern auch für Länder wie die Bundesrepublik Deutschland, wo ein liberales Asylrecht vielen „ökonomischen" Flüchtlingen Zugang zum Land und den Segnungen des Wohlfahrtsstaates verschafft hat (siehe Die Zeit', „Dossier“, vom 6. Juni 1980). Ganz allgemein zeigt die Migration von Fremdarbeitern (die dann in Rezessionszeiten recht unwillkommen sind) von Süden nach Norden das Problem, das durch die Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt entstanden ist; siehe die Veränderung der ethnischen Strukturen in den USA in Großbritannien und in Frankreich. West-Berlin ist inzwischen die größte türkische Stadt nach Istanbul!

  6. Richard Gilmore, Grain in the Bank, in: Foreign Policy 38, Frühjahr 1980, S. 168 ff.

  7. über die Verknüpfung von Rüstungsund Entwicklungspolitik s. Lothar Brock, Abrüstung als Entwicklungspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/80 v. 18. Oktober 1980.

  8. Rajni Kothari, Towards A Just World, in: Macro-scope, Newsletter of the Transnational Academic Program of the Institute for World Order, Nr. 7, Frühjahr 1980, S. 6 ff. (7). Kothari fährt fort: „Eine neue Weltordnung ist ohne Neuordnung der nationalen Gesellschaftssysteme nicht möglich" (ebenda). Das entspricht der Ansicht des Generaldirektors der FAO, Saouma, der meint, daß die Verantwortung für die Lösung des weltweiten Hungers und der damit verbundenen Probleme bei den national len und internationalen Eliten liegt. Auch in der Dritten Welt gibt es „Luxus und Fettleibigkeit für einige wenige, Armut und Ausmergelung für die große Masse".

  9. Hans Morgenthau, The Dilemma of SALT, in:

  10. Einzelheiten dazu in David Singers aufschlußreichem Leserbrief in der New York Times (12. April 1979).

  11. A Solschenizyn, Misconceptions about Russia Are A Threat to America, in: Foreign Affairs, Frühjahr 1980, S. 797.

  12. John H. Herz, Normalization in International Re-lations: Some Observations on the Arab-Israel Conflict, in: Middle East Review, 10(3), Frühjahr 1978, S. 10 ff.

  13. Selbst in Kuba, das man gewöhnlich dem sowjetischen Block zurechnet, sind die ökonomischen Verbindungen zur kapitalistischen Welt noch recht stark (siehe Susan Eckstein, Capitalist Constraints on Cuban Socialist Development, in: Comparative Politics, 12(3), April 1980, S. 253 ff.); sie wären ohne das amerikanische Handelsembargo sogar noch

  14. Die „terribles simplificateurs", die die sowjetischen Intentionen so genau kennen wollen, sollten sich doch einmal die einfache Frage stellen: Würde denn eine pragmatisch denkende sowjetische Führungsperson die Idee eines kommunistischen Westeuropa begrüßen, oder auch nur eines kommunistischen (und damit wiedervereinigten) Deutschland? Müßte sie nicht der Alptraum eines neuen (und viel mächtigeren, weil hochentwickelten) China an der anderen Flanke ihres Landes bedrücken? Würde sie nicht einen kapitalistischen Westen vorziehen, mit dem man Handel treiben und von dem man die notwendigen Technologien beziehen kann?

  15. Hans Jonas, a. a. O., S. 55.

  16. In ziemlich unamerikanischer Weise behaupten wir, wir seien „das großartigste Land der Erde". Das ist ein Zeichen von Unreife. Ich erinnere mich meines eigenen kindlichen oder jugendlichen Enthusiasmus in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Für mich in Deutschland galt „Deutschland über alles". Aber für die Deutschen war die Niederlage 1918 eine Lektion, wenigstens bis Hitler viele von ihnen wieder mit seinen Visionen von der „Herrenrasse” infizierte. Die Zeppeline und Schlachtschiffe aber, mit denen die Jungs zu jener Zeit Krieg „spielten", waren rein nichts, verglichen mit dem, womit unsere Generäle und andere Jungs aus Militär und Industrie heutzutage herumspielen und damit bedenkenlos unser aller Existenz aufs Spiel setzen. Man ist sich der tödlichen Gefahr zu wenig bewußt. Die Amerikaner haben nie die Erfahrung einer Nieder-

  17. Wahrnehmung beruht auf Bewußtsein und Information. Ein großer Teil der Weitsicht von Politikern hängt von Reichweite, Ausführlichkeit und Systematik ihrer Information ab. Ich habe an anderer Stelle erörtert, wie das amerikanische Establishment das, was man die „niederen" oder „sozialen“ Zustände nennen könnte, vor allem in der Dritten Welt, ignoriert (siehe meinen Artikel „Weltbild und Bewußtwerdung — Vernachlässigte Faktoren beim Studium der internationalen Beziehungen", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B ll/80v. 15. März 1980). So schlecht hatte der CIA und andere Nachrichtendienste die amerikanische Führung über die Zustände im Iran vor der Revolution unterrichtet, daß Präsident Carter noch 1979 bei seinem Besuch in Teheran den Schah mit folgenden Worten begrüßen konnte: „Iran unter der Führung des Schah ist eine Insel der Stabilität in einer ziemlich unruhigen Gegend dieser Welt." Man kann annehmen, daß sich auch nach dem iranischen Debakel im Hinblick auf Länder und Gesellschaftssysteme, die sich als ähnlich instabil erweisen könnten, nicht viel gebessert hat (s. z. B. für Saudi-Arabien Peter Lubin, Gulf Follies, Middle East Review, 12 (3), Frühjahr 1980, S. 9 ff.).

Weitere Inhalte

John H. Herz, geb. 1908 in Düsseldorf, 1933 aus dem Staatsdiesnt entlassen; 1938 Auswanderung in die Vereinigten Staaten, dort an verschiedenen Universitäten tätig; seit 1977 emeritiert. Veröffentlichungen u. a.: Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, Zürich 1938; Political Realism and Political Idealism, Chicago 1951, dt. 1959; International Politics in the Atomic Age, New York 1959, dt. 1961; Staatenwelt und Weltpolitik, Hamburg 1974; The Na-tion-State and the Crisis of World Politics, New York 1976.