Völkerbund und Vereinte Nationen in der internationalen Politik
Jürgen Heideking
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Zusammenfassung
Die Vereinten Nationen als Organ zur Sicherung des Weltfriedens sind ins Gerede gekommen. Angesichts der täglich neu aufbrechenden und der noch ungelösten Konflikte dieses Jahrzehnts ist das Vertrauen in die Schiedsrichterrolle der UNO auf eine Minimum gesunken. Dem steht die Tatsache gegenüber, daß bisher kein Staat von Bedeutung auf die Mitgliedschaft in der Weltorganisation zu verzichten ernsthaft bereit wäre. War der Völkerbund nach dem Verzicht der USA und dem Fernbleiben der UdSSR faktisch zu einem Organ im „Europäischen Konzert" geworden, so ist die UNO als eine wahrhaft globale Organisation zu bezeichnen. Ihr Gesicht wird mittlerweile in entscheidenden Zügen von den Klein-und Mittelstaaten der nachkolonialen Welt geprägt. Der in der UNO-Charta verankerte Rechtsgrundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten bietet ihnen die Möglichkeit, ihren Interessen auch gegenüber den Großmächten Nachdruck zu verleihen — sofern sie sich zu solidarischem Handeln zusammenfinden können. Die Großmächte waren und sind deshalb versucht, zwischen ihnen auftretende Streitfragen unter Umgehung der Weltorganisation zum Ausgleich zu bringen. Ungeachtet dieser Tendenz scheint die UNO in der Lage zu sein, sogar im Fall der Sprachlosigkeit unter den Großmächten den weltweiten Dialog über Fragen der Friedenssicherung in Gang zu halten. Anders als der sich im wesentlichen auf den politisch-militärischen Komplex beschränkende Völkerbund haben die Vereinten Nationen die Bedeutung des wirtschaftlich-sozialen und kulturell-humanitären Sektors für eine stabile internationale Ordnung erkannt. Auf diesen Gebieten liegen denn auch die greifbarsten Erfolge der UNO bzw. ihrer Sonder- und Unterorganisationen. Der neue diplomatische Stil, der sich im 20. Jahrhundert herausgebildet hat, ist nicht zuletzt den Vereinten Nationen zu verdanken. Uber die von ihnen mitgeprägte „Weltöffentlichkeit", in der Fragen der globalen Friedenssicherung, der Rüstungsbegrenzung, der Hilfe für die armen Völker einen festen Platz haben, könnte die Idee eines „world government", die bei den Gründungen von Völkerbund und UNO Pate stand, zu neuer Qualität und Form heranreifen.
I. Einleitung
In der gegenwärtigen öffentlichen Debatte über Abrüstung und Friedenssicherung spielen die Vereinten Nationen nur eine untergeordnete Rolle. Nach der Häufung von Konflikten und Kriegen zu Beginn der achtziger Jahre scheint kaum noch jemand der UNO zuzutrauen, ein erneutes Abgleiten in internationale Anarchie verhindern zu können. Die höchsten Repräsentanten der Weltorganisation selbst sind sich, wie Äußerungen des neuen Generalsekretärs Prez de Cuellar zeigen, der Diskrepanz zwischen den andrängen-den Problemen und ihren geringen Einwirkungsmöglichkeiten schmerzlich bewußt Doppelt bedauerlich wäre es aber, wenn dieses ungünstige Meinungsklima die wissenschaftlich-pädagogische Auseinandersetzung mit Völkerbund und Vereinten Nationen beeinträchtigen oder gar blockieren würde. Denn aller Ernüchterung zum Trotz gehört doch der in zwei Anläufen vollzogene Schritt von utopisch-idealistischen Weltfriedensplänen, wie sie seit dem Zerfall der mittelalterlichen communitas Christiana erdacht und von Aufklärungsphilosophen propagiert wurden, zu einer durch vertragliche Bindung begründeten, auf Permanenz und Universalität angelegten Friedensorganisation zweifellos zu den bemerkenswertesten konstruktiven politischen Leistungen des 20. Jahrhunderts
Völkerbund und Vereinte Nationen lassen sich als institutioneller Reflex der zunehmenden wechselseitigen Abhängigkeiten deuten, denen die souveränen Staaten im Zuge eines rasanten technologisch-wirtschaftlichen Wandels unterworfen sind. Beide verkörpern die integrierende Gegenbewegung zu dem politischen und kulturellen Fragmentierungsprozeß, der mit der Zersplitterung des ostmitteleuropäischen Raumes infolge des Ersten Weltkriegs begann und der sich durch die Auflösung der Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt fortsetzte. In moralischer Hinsicht geben sie dem Mißtrauen Ausdruck, das unser demokratisches Zeitalter einer vom aristokratischen Geist des 19. Jahrhunderts geprägten Geheimdiplomatie und jeder Art von Vormachtstreben entgegenbringt. Das Scheitern des Völkerbundes und die bisherige Geschichte der UNO liefern aber ebenso den Beweis, daß die globalen Interdependenzen und das allmähliche Zusammenwachsen zu einem politischen und ökonomischen Gesamtsystem keineswegs per se die Risiken menschheitlicher Existenz bannen oder auch nur vermindern. Als ein „großes Experiment geben die beiden Organisationen immerhin erste praktische Antworten auf die Frage, wie das Macht-und Einflußstreben der Staaten zum Wohle der Gesamtheit in völkerrechtlich eingegrenzte Bahnen gelenkt und institutionell gebändigt werden kann.
In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Einzelstudien unser Wissen über den Völkerbund und die Vereinten Nationen außerordentlich bereichert. Andererseits fehlt es an vergleichenden Untersuchungen, obwohl gerade diese Methode geeignet scheint, die Grenzen und Möglichkeiten von Weltfriedensorganisationen im Gesamtgeflecht der internationalen Politik auszuloten Dabei muß man sich allerdings der Schwierigkeiten bewußt sein, die der Versuch birgt, die noch „offene" Geschichte der UNO an dem historisch abgeschlossenen Kapitel des Völker-bundes zu messen. Die folgenden Ausführungen sollen das Feld derartiger vergleichender Bemühungen in großen Linien umreißen und zu einer differenzierten Betrachtungsweise anregen, die Kontinuitäten und strukturelle Ähnlichkeit ebenso hervortreten läßt wie graduelle und qualitative Unterschiede und Fort-entwicklungen.
II. Der Völkerbund als Ausgangspunkt
Abbildung 2
Die Organisation der Vereinten Nationen -UN
Die Organisation der Vereinten Nationen -UN
Die Gründerväter der Vereinten Nationen waren von dem Willen beseelt, ein wirkungsvolleres Instrument als den Völkerbund zu schaffen, dem der Makel der Erfolglosigkeit anhaftete. Den „Bund der Hohen vertragschließenden Teile" von 1919 untersuchten sie auf Fehler und Mängel, die es bei der Formulierung der neuen „Charta der Völker der Vereinten Nationen" zu vermeiden galt. Zeitgenössische Beobachter wie der deutsche Rechtsgelehrte Paul Barandon lasen deshalb aus der UN-Satzung auch die Bereitschaft der Staaten heraus, stärkere Einschränkungen ihrer Souveränitätsrechte zugunsten einer Teilbereiche umfassenden überstaatlichen Regelung hinzunehmen und sich fester an eine gemeinsame, als universal anerkannte Rechtsordnung zu binden. Indizien hierfür waren der Übergang von der Einstimmigkeit zum — allerdings durch das Vetorecht eingeschränkten — Mehrheitsprinzip, die Ausstattung des Sicherheitsrates mit Entscheidungsbefugnissen und die ausdrückliche Betonung der leitenden Rechtsgrundsätze. Zugleich verwies Barandon aber auch auf den engen historischen Zusammenhang zwischen Völkerbund und UNO, auf die weitgehende Übereinstimmung der Ziele und die Ähnlichkeit der Organisationsstruktur
Aus der heutigen Perspektive stechen diese Übereinstimmungen noch stärker hervor, zumal einige der für fortschrittlich erachteten Elemente wie die klare Kompetenzabgrenzung zwischen Rat, Versammlung und Sekretariat recht bald der Praxis zum Opfer fielen. So büßte der Sicherheitsrat schon 1950 seine verfassungsmäßige Vorrangstellung ein, als die „Uniting for peace'-Resolution vor dem Hintergrund des Koreakrieges der General-versammlung das Recht einräumte, an dem durch ein sowjetisches Veto gelähmten Rat vorbei wichtige Entscheidungen zu treffen Ungeachtet der Charta erlangte der Sicherheitsrat deshalb nie die Autorität des Völkerbundsrates in seinen „goldenen Jahren“ von 1926 bis 1929, als ihm die regelmäßige Anwesenheit der Außenminister Briand, Chamberlain und Stresemann die Aura eines neuen, demokratischen „Europäischen Konzerts" verlieh
Zu anderen Zeiten wiederum gingen die wichtigsten Impulse von Generalsekretären wie Sir Eric Drummond und Dag Hammarsk-jöld aus. Vor allem der Schwede wagte sich — etwa im Kongo-Konflikt — bis in die Grenzzone seiner Befugnisse vor und testete dabei auch den Handlungsspielraum der von ihm repräsentierten Weltorganisation Wenn heute die Generalversammlung zum Kraft-zentrum geworden ist, so sagt das möglicherweise weniger über die Qualität dieses Organs als über die Passivität oder das mangelnde Durchsetzungsvermögen der anderen aus. Grundsätzlich hat sich an der Gewalten-trennung und -Verschränkung zwischen Rat, Versammlung, Sekretariat und Gerichtshof sowie an der Gliederung in Haupt-und Nebenorgane und in autonome, aber unter dem Schirm der Weltorganisation vereinte Sonderorganisationen kaum etwas geändert. Dieses System projiziert zwar demokratische Willensbildung, öffentliche Kontrolle, Pluralismus und Verfassungsmäßigkeit auf die internationale Ebene. Die von manchem erhoffte Entwicklung hin zu einem „world go-vernment" ist jedoch ausgeblieben, und selbst der begrenzte Souveränitätsverzicht der Staaten, den Barandon voraussah, kommt weniger der UNO als vielmehr Bündnis-und Regionalorganisationen vom Schlage der NATO, des Warschauer Pakts und der Europäischen Gemeinschaft zugute. Heute meint der Begriff »internationale Organisation" deshalb sowohl eine bestimmte institutioneile Form als auch ein aus der Beschränkung geborenes Prinzip: Friedenssicherung durch die Koordinierung und den Ausgleich der Interessen souveräner Staaten auf globaler Ebene 1. Historische Parallelen Zu den auffälligsten historischen Parallelen zwischen Völkerbund und UNO gehört die Tatsache, daß beide aus einem Krieg und aus der Zusammenarbeit einer siegreichen Kriegskoalition hervorgegangen sind. Offensichtlich konnten erst die ungeheuren Opfer und Verwüstungen dieser Katastrophen den Bewußtseinswandel erzeugen, ohne den einschneidende Neuerungen nicht möglich sind. Andererseits zwangen aber auch die militärischen Notwendigkeiten zur Erprobung zahlreicher staatenübergreifender Kooperationsformen, die dann gewissermaßen zu Keimzellen der Weltorganisationen wurden. So setzten beispielsweise der Franzose Jean Monnet und der Brite Arthur Salter ihre erfolgreiche Zusammenarbeit im Londoner Allied Maritime Transport Council ab 1919 im Völkerbundssekretariat fort. Der Gedanke, militärische Aggressionen durch Wirtschaftssanktionen zu bremsen, ging auf Erfahrungen des alliierten Blockade Council im Kampf gegen die Mittelmächte zurück. In ähnlicher Weise konnte die UNO nach 1945 bei ihren Wiederaufbaumaßnahmen an die Vorarbeiten von Gremien anknüpfen, die — wie die United Nations Relief and Rehabilitation Administration oder die Food and Agriculture Organization — schon 1943 oder 1944 ins Leben gerufen worden waren a) Nach dem Ersten Weltkrieg Dieser Hintergrund verdeutlicht die folgenschweren Auswirkungen, die sich sowohl für den Völkerbund als auch für die Vereinten Nationen aus Erosion und Zerfall der Sieger-bündnisse in der jeweiligen Nachkriegszeit ergaben. Die Vorstellung der „einen Welt“ und des, wenn nicht konfliktfreien, so doch insgesamt homogenen weltpolitischen Systems, die beiden Friedensorganisationen ursprünglich zugrunde lag, hielt den Realitäten nur kurze Zeit stand. Präsident Wilsons Idee einer liberal-demokratischen Weltregierung konnte schon deshalb nicht Gestalt annehmen, weil die USA selbst als die wirtschaftlich und finanziell stärkste Macht dem Völkerbund fernblieben, überdies gelang es den Engländern und Franzosen nicht, ihre unterschiedlichen Völkerbunds-Konzeptionen zur Deckung zu bringen. Während die Pariser Regierungen die Liga gern zum Eckpfeiler eines kollektiven Sicherheitssystems und zu einem bewaffneten Garanten des Status quo ausgebaut hätten, bedeutete sie für London stets nur ein zusätzliches, die Mechanismen des klassischen „Europäischen Konzerts" ergän-zendes Beratungsorgan Dieser Widerspruch war Teil eines tiefgreifenden, in die Kolonialpolitik hineinreichenden Interessen-gegensatzes der beiden Mächte, der die Zwischenkriegszeit stärker prägte, als dies aus der Rückschau bisweilen wahrgenommen wird. Die dritte alliierte „Hauptmacht" Italien schließlich wandte sich nach der Regierungsbetrauung Mussolinis immer entschiedener von Geist und Buchstaben der Völkerbundsakte ab und unterzog die Weltorganisation im Herbst 1923 mit der Bombardierung und Besetzung der griechischen Insel Korfu einer ersten schweren Belastungsprobe b) Nach dem Zweiten Weltkrieg Das im Zweiten Weltkrieg entwickelte Konzept der „vier Weltpolizisten“ USA, Großbritannien, Sowjetunion und China mutete realistischer an, weil es den politischen Verantwortlichkeiten und der militärischen Ordnungsfunktion der Großmächte besser Rechnung zu tragen schien. Während aber Bürgerkrieg und Revolution in China verhinderten, daß dieses Land die ihm zugedachte stabilisierende Funktion im asiatischen Raum erfüllen konnte, schlug die Waffenbrüderschaft zwischen den Westmächten und der Sowjetunion spätestens 1947 in einen Zustand des „Kalten Krieges" um. Das enorm -geschwächte Großbritannien, das ohnehin gern einer Aufteilung der Welt in klar umrissene Einflußsphären den Vorzug gegeben hätte sank — ähnlich wie Frankreich — auf eine zweitrangige Position in dem neuen Kräftefeld herab. Aus machtpolitischen Gegensätzen und ideologischer Feindschaft erwuchs die Vision „zweier Welten", einer freien und einer totalitären, oder — nach Lesart des Kreml — eines aggressiv-imperialistischen und eines friedliebend-sozialistischen „Lagers", deren Widerstreit das Schicksal der Menschheit bestimmen würden 2. Konstitutionselemente Diese Unfähigkeit der Siegermächte, ihre Weltkriegsbündnisse einer dauerhaften Friedenssicherung dienstbar zu machen, war für beide Weltorganisationen von konstitutiver Bedeutung. Der relativ bequeme Weg, isolierte Friedensstörer gestützt auf den einheitlichen Willen und die geballte Macht der Staatengemeinschaft zur Ordnung zu rufen, blieb ihnen versperrt. Statt dessen mußten sie ihr Handeln an den begrenzten Möglichkeiten ausrichten, die ein von militärischen, ökonomischen, politischen und ideologischen Antagonismen zerklüftetes internationales System offenließ. Daß dieses System in der Zwischenkriegszeit multipolar strukturiert war, seit dem Zweiten Weltkrieg dagegen stärker bipolare Züge trägt, macht dabei keinen grundlegenden Unterschied aus Allen Schwierigkeiten zum Trotz eroberten sich Völkerbund und Vereinte Nationen einen Platz auf der internationalen Bühne. Sie verdankten dies gleichermaßen dem Beharrungs-und Wachstumsvermögen, das bürokratischen Gebilden eigen ist, wie dem Grundbedürfnis der modernen, arbeitsteiligen Welt nach sachlicher, staaten-und ideologienübergreifender Kooperation und Kommunikation. Der Intensitätsgrad, mit dem dieses Bedürfnis seit Beginn des Jahrhunderts in das öffentliche Bewußtsein eindrang, läßt sich an den unterschiedlichen Integrationserfolgen der beiden Friedensorganisationen ablesen. Der Völkerbund schloß zwar die meisten der damals souveränen Staaten ein und öffnete sich auch erstaunlich früh den zunächst geächteten „ehemaligen Feindstaaten“ Österreich, Ungarn, Bulgarien und Deutschland. Andererseits ließen es die Vereinigten Staaten nach dem Veto des Senats bei einer nur informellen und punktuellen Mitarbeit bewenden, und die Sowjetunion verharrte — bis auf ihr Gastspiel zwischen 1934 und dem Ausschluß Ende 1939 — in der Rolle des isolierten und sich selbst abkapselnden Außenseiters. Der demonstrative Rückzug der totalitären Mächte Japan (1933), Deutschland (1933) und Italien (1937) unterstrich deshalb im Grunde nur die Tendenz der Regierungen, die Mitgliedschaft im Völkerbund und das Fernbleiben von Genf als prinzipiell gleichwertige politische Alternativen anzusehen.
Im Unterschied zu Fluktuation und allmählichem Verfall, denen der Völkerbund ausgesetzt war, erscheint die Geschichte der UNO als ein grandioser, alle geographischen, weltanschaulichen und kulturellen Barrieren überwindender Eingliederungsprozeß, der das Ziel der Universalität inzwischen praktisch erreicht hat. Heute hängt die Mitgliedschaft in der Weltorganisation nicht mehr von blo-Ben Kosten-Nutzen-Erwägungen ab. Sie gilt vielmehr weithin als Selbstverständlichkeit, ja als eine Art Tabu, dessen Verletzung ein internationales Paria-Dasein nach sich zieht. Gänzlich undramatisch wurde auf diesem Wege auch die Europazentrierung beseitigt, ie das Bild des Völkerbundes noch bestimmte, als sich die globalen Kräfteverhältnisse schon zugunsten Amerikas, Asiens und Afrikas verschoben hatten Die UNO ist eshalb nicht nur in weit höherem Maße repräsentativ für die Weltbevölkerung, sondern scheint auch auf einer gefestigteren Legitimationsbasis zu ruhen als ihre Vorgängerin in Genf 3. Die Rolle der Klein-und Mittelstaaten Die Tatsache, daß der Völkerbund immerhin vorübergehend Tritt fassen konnte und die Vereinten Nationen heute fest etabliert sind, geht nicht allein und nicht in erster Linie auf das Konto der Groß-und Supermächte. Von besonderer Tragweite war gerade das Engagement der kleinen und mittleren Staaten, die das Forum der internationalen Organisationen stärker als ursprünglich veranschlagt zur Artikulierung ihrer gemeinsamen Auffassungen und Bedürfnisse nutzten. Schon im Völkerbund spielten Beamte und Diplomaten wie die Skandinavier Nansen und Branting, der Belgier Hymans, die Spanier Quifiones de Lon und de Madariaga, der Tscheche Bene, der Rumäne Titulescu und der Grieche Politis eine das machtpolitische Gewicht ihrer Länder bei weitem übersteigende, vorwärtsdrängende Rolle.
Die UNO ist im Verlauf der Entkolonialisierung, die sie — einen noch schwachen Impuls aus der Völkerbundszeit aufnehmend — ideell und materiell förderte in hohem Maße zu einem Organ der Mittel-und Kleinstaaten geworden. Wie im System von Versailles die „Neutralen", so streben seit der Konferenz von Bandung im Jahr 1955 zahlreiche „blockfreie" und „nicht-paktgebundene“ Länder trotz oder gerade wegen ihrer — graduell unterschiedlichen — Abhängigkeit von den Supermächten nach einem eigenen Platz zwischen den rivalisierenden Lagern. Die Interessenvielfalt verhindert zwar, daß sie eine geschlossene Phalanx bilden, aber die häufig recht enge Zusammenarbeit in den verschiedenen UNO-Gremien hat die Suche nach kollektiver Identität, wie sie etwa in der Bezeichnung „Gruppe der 77“ zum Ausdruck kommt, doch spürbar gefördert
Diese „Dritte Welt" hat über die „egalitäre“ Generalversammlung, in der sie mittlerweile eine Zweidrittelmehrheit hält, nacheinander die Perioden des nordamerikanisch-westeuropäischen und des sow) etisch-osteuropäischen Übergewichts abgelöst. Die Gründe für das sichtbare Hervortreten einer bestimmten Kategorie von Staaten sind leicht ersichtlich. Auf sich allein gestellt, kann selbst eine Mittelmacht im Chor der internationalen Politik weder hinreichend Gehör für die eigenen Anliegen finden, noch die Lösung weltpolitischer Probleme beeinflussen. Andererseits sind kleine, arme und politisch schwache Länder in materieller Hinsicht am dringendsten auf den Beistand der Weltorganiationen angewiesen und bringen ihnen naturgemäß die größten Erwartungen entgegen. Von einer Konfrontation oder Kollision der Großmächte haben sie nichts zu erwarten, ganz gleich, welche Seite letzten Endes die Oberhand gewinnen sollte. Der Rechtsgrundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten sowie das formalisierte Abstimmungsverfahren in den internationalen Organisationen bieten ihnen nun gute Einflußmöglichkeiten, sofern sie gemeinsam vorgehen 4. Die Rolle der Großmächte Ein derart gestaltetes System erlaubt zumindest theoretisch, alle schöpferischen Kräfte für das allgemeine Wohl nutzbar zu machen. Auch fördert es die Entstehung einer „öffentlichen Weltmeinung", die jeglichen Formen traditioneller Machtpolitik argwöhnisch begegnet. Das begrüßenswerte Bemühen, die Großmächte bis zu einem gewissen Grade zu kontrollieren und ihre Handlungsfreiheit zu beschneiden, hat allerdings eine Kehrseite. Sie offenbart sich in der Neigung der Großmachtvertreter, wichtige Streitfragen von den im Grunde zuständigen internationalen Organen fernzuhalten, die satzungsmäßig vorgesehenen Prozeduren der Krisenverhütung und Streitschlichtung zu suspendieren und den Vorstellungen der eigenen Regierungen abseits der Weltorganisationen Geltung zu verschaffen. In den zwanziger Jahren mußten die Anhänger des Völkerbundsgedankens die schmerzliche Erfahrung machen, daß die alliierten Hauptmächte der Genfer Liga keineswegs ein Monopol für die internationale Politik einräumten, sondern zahlreiche diplomatische Aktivitäten auf andere Ebenen und in andere Institutionen verlagerten. So knüpfte die Pariser Botschafterkonferenz, in die Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und Belgien stimmberechtigte Vertreter, die USA „Beobachter" entsandten, an Formen der „alten" Diplomatie des 19. Jahrhunderts und an die Bündnispraxis des Weltkrieges an. Im Verein mit der Reparations-und Rheinlandkommission eröffnete sie den Siegermächten bis Anfang der dreißiger Jahre die Möglichkeit, alle direkt oder auch nur indirekt aus den Friedensverträgen herrührenden Probleme unter eigener Regie zu behandeln. Dieser Rückzug in einen exklusiven Kreis wurde nicht zuletzt deshalb gewählt, um die zahlreichen Meinungsverschiedenheiten vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen
Ein anderes Mittel zur Umgehung des Völkerbundes bildete die Konferenzdiplomatie, die ihre Wurzeln in den großen Staatenkongressen der Neuzeit hatte und deren Bandbreite von englisch-französisch-italienischen Gipfeltreffen bis zu Veranstaltungen mit quasi universalem Anspruch wie der Konferenz von Genua im Jahr 1922 reichte. Wohl bürdete man der Genfer Liga Mitverantwortung für eine Reihe komplizierter und unpopulärer Versailler Regelungen wie Danzig, Saargebiet und Oberschlesien auf. Dagegen blieb sie von der Erörterung des zentralen Reparationsproblems ausgeschlossen und mußte auch in der Abrüstungsfrage, die nicht nur der spanische Delegierte Salvador de Madariaga als die ureigenste Domäne einer internationalen Friedensorganisation ansah, gegen häufige Einzelgänge, Sonderinitiativen und Querschüsse verschiedener Großmächte ankämpfen
Unter dem Eindruck der sich häufenden Völkerrechtsverletzungen entwickelten die demokratischen Großmächte in den dreißiger Jahren eine Strategie der Zweigleisigkeit. In Genf schlossen sie sich dem Ruf der Klein-und Mittelstaaten nach Unnachgiebigkeit und Sanktionen an, um nicht in Isolierung zu geraten und um diejenigen Gruppen im eigenen Land zu besänftigen, die Prinzipientreue und ein wirksames Vorgehen gegen die Friedensstörer forderten. Aus Scheu vor den militärischen und politischen Konsequenzen signalisierten sie jedoch gleichzeitig über vertrauliche Kanäle Entgegenkommen und suchten insgeheim goldene Brücken zu bauen, die es dem Aggressor erlaubten, ohne Gesichts-verlust einzulenken. Das Hoare-Laval-Abkommen von 1935 ist der klassische Fall einer solchen doppelten Moral, wie sie von den Regierungen Englands und Frankreichs in der Abessinienkrise praktiziert wurde Einige Jahre zuvor hatten auch schon die Japaner im Mandschurei-Konflikt die Diskrepanz zwischen „nomineller internationaler Mißbilligung und wirkungsvollem internationalen Widerstand" kennengelernt und weidlich zu ihren Gunsten ausgenutzt Kollektive Strafmaßnahmen kamen unter diesen Umständen entweder gar nicht zustande oder blieben ineffektiv und untergruben damit letztlich nur das Ansehen der Liga. Es zeigte sich überdies, daß internationale Schuldsprüche und halbherzige Sanktionen die innerpolitische Stellung einer Regierung, die das Völkerrecht mißachtet, eher noch festigen, indem sie gänzlich unbeabsichtigte Solidarisierungseffekte in der Bevölkerung hervorrufen.
Ein Blick auf die Zeit nach 1945 lehrt, daß die Großmächte bei der Suche nach Umwegen um die UNO-Instanzen noch mehr Einfallsreichtum an den Tag legen als ihre Vorgänger. Inzwischen verfügen sie über ein vielgestaltiges Alternativinstrumentarium, das neben den bekannten Methoden auch neue multilaterale Formen wie das Krisenmanagement in Regionalorganisationen die Reise-und Pendeldiplomatie und quasi-permanente Ost- West-Verhandlungen nach Art der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) umfaßt. Zwar hat die UNO durch den Einsatz von Truppenkontingenten für begrenzte Militäroperationen wie im Kongo 1960— 1962 oder für Entflechtungsund Überwachungsaufgaben wie im Nahen Osten oder auf Zypern bisweilen energischer gehandelt als der Völkerbund. Das massive Eingreifen in Korea 1950— 1953 war aber einer einmaligen historischen Konstellation zu verdanken, und die gegenwärtige Praxis westlicher Staaten, multinationale Friedenstruppen anstelle von UNO-Verbänden in Krisen-brennpunkte wie Sinai oder Libanon zu entsenden, beginnt diesen früher für gewichtig erachteten Unterschied zwischen den beiden Weltorganisationen allmählich zu verwischen
Eine Statistik aus dem Jahr 1979 verzeichnet für den Zeitraum von 1946 bis 1977 insgesamt 93 Kriege und internationale Krisen. Nur in 19 dieser 93 Fälle griff die UNO substantiell ein, und lediglich in acht Fällen war ihr Erfolg beschieden Diese in den letzten Jahren noch verschlechterte Bilanz bestätigt den Grundsatz, daß die Lösung akuter Krisen nur in günstigen Ausnahmesituationen — wenn etwa die Interessen der Supermächte kurzfristig übereinstimmen oder wenn sich eine von beiden völlig desinteressiert zeigt — den dafür eigentlich vorgesehenen internationalen Gremien übertragen wird. Die angedeuteten Mechanismen lassen auch für die Zukunft vermuten, daß Streitfragen von der Tragweite und Komplexität des Nahostkonflikts nicht durch die Vereinten Nationen, sondern bestenfalls unter ihrer Mitwirkung bereinigt werden können. 5. Das Völkerrecht Das 20. Jahrhundert zeichnet sich dadurch aus, daß die Fortentwicklung und Kodifizierung des Völkerrechts, die bis dahin ausschließlich über die Vertragspraxis autonomer und souveräner Regierungen erfolgte, erstmals zur Aufgabe dauerhafter internationaler Organisationen geworden ist. Im Rahmen von Völkerbund und Vereinten Nationen hat sich die Staatengemeinschaft einen immer umfassenderen Kanon von Normen, Prinzipien und Verfahrensweisen geschaffen, die das Gegeneinander der Interessen in friedliche Bahnen lenken und möglichen Konflikten die unversöhnliche Schärfe nehmen sollen. Auf diese Weise ist die Kritik am politischen Alltagsverhalten der Staaten, das nach wie vor weitgehend den Geboten von Macht, Einfluß und Prestige folgt, in den Weltfriedensorganisationen institutionalisiert worden Andererseits sind selten die Voraussetzungen gegeben, um völkerrechtliche Ansprüche einklagen und notfalls gegen einen Rechtsbrecher durchsetzen zu können. Der erforderliche Sanktionsapparat steht zwar theoretisch zur Verfügung, kommt aber nicht zur Anwendung, sobald eine der Groß-mächte vitale Interessen bedroht wähnt und ihre Mitwirkung versagt. Nicht selten prallen auch zwei als gleichwertig empfundene Rechtsprinzipien aufeinander und machen es schon im juristischen Sinne schwer, eindeutige und einheitliche Entscheidungen zu treffen. Dieses grundsätzliche Dilemma wird durch die Konkurrenz unterschiedlicher Rechts-und Wertvorstellungen verschärft, in denen sich der ideologische Gegensatz zwischen Ost und West, aber auch die kulturelle Vielfalt nach Ablösung der europäischen Vorrangstellung widerspiegeln 6. Stabilitätsgrundlagen Wenn das internationale System aufs Ganze gesehen nach 1945 dennoch ein höheres Maß an Stabilität erlangt hat als in der Zwischenkriegszeit so ist dies nur bedingt den Fortschritten des Völkerrechts und der Überlegenheit der Vereinten Nationen über den Völkerbund zuzuschreiben. Das Ideal der kollektiven Sicherheit, dem sich der Völkerbund im Genfer Protokoll von 1924 und die Regierungen — schon in verwässerter Form — in den Locarno-Verträgen und im Briand-Kellogg-Pakt anzunähern gesucht hatten ist inzwischen dem bescheideneren Prinzip der „internationalen Organisation" gewichen. Der Völkerbund markierte im Verständnis seiner Gründer die endgültige Abkehr vom System der Militärallianzen und von einer diskreditierten balance-of-power-Politik. Mit Ausnahme der gegen den ungarischen Revisionismus gerichteten Kleinen Entente und den eher hilflosen Bemühungen Frankreichs, ein osteuropäisches Bündnissystem aufzubauen, wurden denn auch keinerlei Versuche gemacht, unterhalb der Ebene des Völkerbundes Sicherheitsinteressen militärisch zu organisieren. Als die kollektive Sicherheit nach 1930 ein leeres Versprechen blieb, fehlte dieses zweite Netz, so daß die Staaten zwangsläufig auf sich selbst zurückfielen und ihr Heil in hektischen Alleingängen, Appeasement und Sonderabmachungen suchen mußten
Die UNO-Charta war wiederum vom Gedanken der kollektiven Sicherheit inspiriert, aber seit den fünfziger Jahren wird das internationale System gerade durch die Existenz der 1919 so verpönten Allianzen in einer wenn auch äußerst prekären Balance gehalten. Solange Logik und Mentalität der Machtpolitik ungebrochen sind, kann die UNO dieses Gleichgewicht nicht ersetzen. Sie ist aber immerhin in der Lage, das moralisch kaum zu rechtfertigende Prinzip der Abschreckung mit Massenvernichtungswaffen durch das Prinzip der internationalen Organisation zu ergänzen, indem sie die Militärbündnisse und Regionalpakte gleichsam überwölbt und einen umfassenden, ununterbrochenen Dialog und Kommunikationsfluß sicherstellt.
III. Erfolge und Mißerfolge
Sicherheit beinhaltete für die Schöpfer der Vereinten Nationen nicht mehr allein militärische Sicherheit, sondern im Sinne der Atlantik-Charta auch Schutz vor materieller Not und politischer, religiöser oder rassischer Verfolgung. Diese Ausweitung des in der Zwischenkriegszeit arg strapazierten Sicherheitsbegriffs auf den wirtschaftlich-sozialen und den kulturell-humanitären Sektor bezeugt einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel, der allerdings damals keineswegs allgemein war und der auch heute vielerorts erst noch nachvollzogen werden muß. Er wurzelte in dem Schlüsselerlebnis, daß die Auflösung der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge, wie sie unter dem Druck der Großen Krise erfolgte, letztlich auch die gesamte internationale politische Ordnung zum Einsturz gebracht hatte Diese historische Lehre veranlaßte die nachdrückliche Betonung ökonomischer, sozialer und menschenrechtlicher Belange in der UNO-Charta, die Einrichtung des Wirtschafts-und Sozialrats als eines eigenen Hauptorgans sowie die Schaffung zahlreicher zusätzlicher Neben-und Sonderorganisationen Damit traten auch ein Element der Be-wegung und der Wille zur Veränderung und Reform in den Vordergrund, wie sie dem allzusehr am Status quo ausgerichteten Völkerbund fremd geblieben waren. 1. Der Völkerbund Die Genfer Liga hatte sich nicht völlig unempfindlich gegenüber wirtschaftlichen Problemstellungen gezeigt, konnte aber keine langfristige und planvolle Wirksamkeit auf diesem Felde entfalten. Die lediglich beobachtende Haltung der Nordamerikaner und die strikte Weigerung der Franzosen, internationale Organisationen in die Diskussion von Kernfragen der Wirtschafts-und Finanzordnung wie Reparationen und interalliierte Kriegsschulden einzuschalten, beschränkten den Völkerbund auf Not-und Aushilfsmaßnahmen, die selten über ein Kurieren an Symptomen hinausgingen. Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen stellte die Liga gelegentlich ihre Nützlichkeit unter Beweis und veranschaulichte, was noch mehr ins Gewicht fiel, daß es prinzipiell möglich war, kostspielige politische und ökonomische Rivalitäten durch neue Formen staatenübergreifender Zusammenarbeit zu mäßigen. Hierher gehört das entschlossene Eingreifen zugunsten der vom wirtschaftlichen Ruin bedrohten „Nachfolgestaaten“ Österreich und Ungarn in den Jahren 1922 und 1924, das eine zumindest vorübergehende Stabilisierung des gesamten, politisch so unheilvoll zersplitterten Donau-raumes bewirkte. Bei dieser Gelegenheit nahm sich eine internationale Organisation erstmals in offener und regulärer Weise interner Wirtschaftsfragen wie Haushaltsausgleich, Inflationsbekämpfung, Exportförde11 rung und Kreditgewährung an und ernannte Finanzfachleute als Kommissare, die vor Ort die Erfüllung der vereinbarten Bedingungen überwachten
In eine ähnliche Richtung zielte das Bemühen, das deutsch-polnische Verhältnis, das schwer unter den Folgen der Grenzziehung litt, durch eine partielle Verklammerung der wirtschaftlichen Interessen beider Länder zu entkrampfen. So sollte der paritätisch mit Polen und Deutschen besetzte und von einem Neutralen geleitete Danziger „Hafenausschuß" die Prosperität der Freien Stadt zum beiderseitigen Vorteil sichern. Auch die Oberschlesien-Konvention von 1922, die den Teilungsbeschluß ergänzte, war dazu bestimmt, einen heilsamen Zwang zur Kooperation auszuüben und das Gefühl gemeinsamer Verantwortlichkeit für das Schicksal des Industriegebiets und seiner Menschen zu wekken. Beide Regelungen bewährten sich über eine Reihe von Jahren, obgleich Polen wie Deutsche sie für „unnatürlich" hielten
Auf hartnäckigen Widerstand stieß der Völkerbund allerdings immer dann, wenn er zu den Wurzeln der Nachkriegsmalaise vordringen und die Analysen seiner technischen Kommissionen in Taten umsetzen wollte. Alle Anstrengungen, die seit der ersten Weltwirtschaftskonferenz von 1927 unternommen wurden, um der verhängnisvollen Einschränkung des freien Welthandels durch Schutzzölle und andere Formen des Protektionismus Einhalt zu gebieten, scheiterten an dem kurzsichtigen, nur aufs eigene wirtschaftliche Überleben bedachten Egoismus der Mitgliedstaaten Das Unvermögen der Londoner World Monetary and Economic Conference von 1933, als Voraussetzung für eine allgemeine Wiederbelebung den Abwertungswettlauf zu stoppen und das internationale Währungssystem zu stabilisieren, kündigte im Zusammenhang mit dem Dahinsiechen der Abrüstungskonferenz in Genf die engültige Flucht in Nationalismus, Bilateralismus und Autarkismus an In der Folgezeit verlager-ten sich die Völkerbundsaktivitäten zwangsläufig in die technischen Nebenorgane und angegliederten Institutionen, die Forschung betrieben und — wie die Organisation für Gesundheitswesen — unterhalb der Regierungsebene den Menschen praktische Hilfe zukommen ließen 2. Die UNO Den Vereinten Nationen wurde von vornherein ein höheres Maß an Mitverantwortung in wirtschaftlichen und sozialen Belangen eingeräumt, auch wenn die Gründer zunächst nur an die Beseitigung der Kriegsschäden dachten. Ihrem Auftrag entsprechend, konnte die neue Weltorganisation sogleich über Finanzmittel verfügen, die in keinem Verhältnis zu dem bescheidenen Völkerbundsbudget standen, und die in der Folgezeit proportional sogar schneller wuchsen als die nationalen Haushalte Die gegen Ende der Völkerbundsära bevorzugte Methode, wichtige Arbeiten eigens konstituierten Nebenorganen und autonomen, nur locker an die Hauptorgane angebundenen „specialized agencies" zu übertragen, ist dabei allerdings beibehalten worden. Die Folge war, daß die Zahl dieser Einrichtungen, die über einen jeweils eigenen Beamtenapparat, ein eigenes Budget, eigene Organisationstrukturen und Verfahrensregeln verfügen, im Zuge des technischen Fortschritts und der weltwirtschaftlichen Verflechtung sprunghaft zunahm. Das hervorstechende Merkmal der Nachkriegszeit ist deshalb die Auffächerung der UNO in ein dezentralisiertes, sich immer weiter untergliederndes und verzweigendes Netzwerk von Institutionen, das, einer „stillen Revolution" vergleichbar, in fast alle Bereiche menschlichen Handelns eindringt
Manche Einrichtung, so die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), konnte im Rahmen dieses UNO-Systems bruchlos fortwirken andere dienten als Anregung und sind ausgebaut und auf ein breiteres Fundament gestellt worden. Ein Beispiel liefert die Kulturarbeit, die in der „Organisation für Geistige Zusammenarbeit" des Völkerbunds begann und heute von der UNESCO und vom Kinderhilfswerk UNICEF unter egalitärem Vorzeichen und stärker an gesellschaftlichen Grundbedürfnissen wie Alphabetisierung, Schul-und Berufsschulerziehung ausgerichtet, weltweit geleistet wird Ähnliches gilt für das gesamte Sozial-und Menschenrechtswesen, dem sich der Völkerbund durch die arbeitsrechtlichen Konventionen der ILO, die Flüchtlingshilfe und den Kampf gegen Drogenmißbrauch und Menschenhandel ebenfalls bereits zugewandt hatte Die „Universal Declaration of Human Rights" von 1948 und nachfolgende Sonderkonventionen verleihen allen diesen Aktivitäten eine juristische Grundlage und einen hohen moralischen Rang. Gewiß zeigt die mühevolle Tätigkeit der UNO-Menschenrechtskommission, welch große Kluft sich gerade hier zwischen den feierlichen Zusicherungen und der bedrückenden Praxis vieler Länder auftut. Dennoch erscheint es bedeutsam, daß die internationale Gemeinschaft auch in diesem Bereich aus freien Stücken und durch freie Übereinkunft Recht gesetzt und damit Standards geschaffen hat, an denen sich jede Regierung messen lassen muß
Andere Aufgaben sind durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung erheblich erweitert worden oder haben sich der UNO völlig neu gestellt. In die erste Gruppe fallen die Beschäftigung mit den modernen Kommunikationsmitteln, die Regulierung des Luft-und Seetransportwesens und der Weltwetterdienst, zur zweiten gehören so wichtige Komplexe wie Bevölkerungspolitik, Umweltschutz, Energiesicherung und die Nutzung von Weltraum und Meeresboden als gemeinschaftlicher Besitz der Menschheit
Der hohe Stellenwert, den ökonomische Belange — im engeren und im weiteren Sinne — genießen, verdeutlicht, daß die Wirtschafts-und Sozialpolitik tatsächlich zum integralen Bestandteil der Sicherheitsproblematik geworden ist. Ende der fünfziger Jahre verbreitete sich die Einsicht, daß die Funktionsfähigkeit des Weltwährungs-und Welthandelssystems langfristig nur zu gewährleisten sein werde, wenn es gelinge, das bedrohliche Ungleichgewicht zwischen den reichen Industrienationen und den vornehmlich auf der südlichen Halbkugel angesiedelten armen Ländern zu vermindern und möglichst vollständig abzubauen. Seither rückte die Entwicklungspolitik ins Zentrum der Überlegungen und beanspruchte in steigendem Maße die Aufmerksamkeit und die Mittel nahezu aller UNO-Einrichtungen. Die 1946 gegründete Weltbank, die sich als erste speziell um die Bedürfnisse der Entwicklungsländer kümmerte, erhielt nach und nach Unterstützung durch eine Reihe zusätzlicher Institutionen wie die International Finance Corporation (IFC), die International Development Agency (IDA), das United Nations Development Program (UNDP), die United Nations Industrial Development Organization (UNIDO) und schließlich die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD). Parallel hierzu wurden die Zollkonferenz GATT und der Internationale Währungsfonds (IMF), die sich ursprünglich vor allem den Handels-und Finanzproblemen der Industriestaaten gewidmet hatten, durch die Zunahme ihrer Mitglieder auf weit über hundert immer stärker in die Entwicklungspolitik hineingezogen
In der gegenwärtigen Situation, in der die zweifelsfrei erzielten Entwicklungserfolge durch die akuten Finanznöte zahlreicher Länder, die Stagnation des Welthandels und einen aufkommenden Protektionismus gefährdet sind treten allerdings auch beträchtliche Konstruktionsmängel dieses vielgestaltigen UNO-Systems zutage. Die Vorteile der Dezentralisation und Spezialisierung — eine gewisse Unabhängigkeit von den politischen Konstellationen in der Generalversammlung, die Mitarbeit von Ländern, die erst zu einem späteren Zeitpunkt Vollmitglieder wurden (dazu zählt auch die Bundesrepublik Deutschland, die 1973 zusammen mit der DDR in die UNO aufgenommen wurde) größere Eigeninitiative der Organisationen und optimale Ausnutzung des technischen Sachverstands — müssen mit Unübersichtlichkeit, Kompetenzenwirrwarr und entsprechenden Koordinierungsschwierigkeiten erkauft werden
Da eine starke Zentralinstanz fehlt, besteht die Gefahr, daß der „Nord-Süd-Dialog", von dem sich die Staaten der „Dritten Welt" eine gerechtere, ihre Belange besser berücksichtigende Weltwirtschaftsordnung erhoffen, in verschiedenen UNO-Gremien gleichzeitig, aber in keinem wirklich autoritativ und verbindlich geführt werden wird. Dies wiederum könnte den Industrienationen, die sich ohnehin häufig auf die Anklagebank versetzt und majorisiert fühlen, zum Vorwand dienen, um die entscheidenden politischen Verhandlungen außerhalb der Weltorganisation zu führen. Damit würde die UNO, die über die reichhaltigsten Erfahrungen auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik verfügt und bei der die Informationen aus allen Teilsystemen zusammenlaufen, wieder in eine Beobachter-rolle zurückgedrängt. Die augenblickliche Krise läßt erkennen, daß einige entwickelte Länder angesichts eigener Haushaltssorgen ihr Engagement in den internationalen Gremien drosseln und bilateralen oder multilateralen Verhandlungen den Vorzug geben.
Trotz dieser Einschränkungen wird man in der Gewichtsverlagerung von den eigentlich politischen Organen hin zu den mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen befaßten, dabei aber keineswegs völlig „unpolitischen" Neben-und Sonderorganisationen das markanteste Unterscheidungsmerkmal zwischen Vereinten Nationen und Völkerbund sehen müssen. Es bewahrheitet sich, daß die Zusammenarbeit dort am leichtesten fällt und die fruchtbarsten Resultate zeitigt, wo der Druck gemeinsamer Nöte und Bedürfnisse ideologisehe Streitigkeiten hinter pragmatische Erwägungen zurücktreten läßt. In weit höherem Maße, als dies dem Völkerbund je gelingen konnte, beeinflussen und verändern die UN-Organisationen deshalb das alltägliche Leben der Menschen — eine Tatsache übrigens, die von den Betroffenen nicht immer deutlich wahrgenommen wird.
Andererseits heißt „internationale Organisation" im ökonomischen Bereich ebensowenig „Weltregierung" wie im politischen und militärischen. Fundamentale Widersprüche zwischen den nunmehr „drei Welten" bestehen fort, und die Zusammenarbeit auf zahlreichen Sachgebieten kann die politischen Grundeinstellungen wenn überhaupt, dann nur sehr langfristig verändern. Die UNO legt Verhaltensregeln und moralisch-ethische Standards fest, sie bündelt die Anstrengungen einzelner Staaten zu gemeinsamen Programmen und bietet Informationen, Dienstleistungen sowie technischen und finanziellen Beistand an. Dabei bleibt sie aber auf das freiwillige Einverständnis der Regierungen angewiesen, das sie von Fall zu Fall durch Autorität, Sachverstand und Überzeugungskraft herbeiführen muß. Fraglos sind die UNO-Gremien an der Überwachung und Steuerung der Kapital-und Warenströme und damit an der Verteilung des Weltsozialprodukts beteiligt Sie wirken aber nur komplementär zu den Marktkräften und ersetzen weder die Wirtschaftspolitik der Regierungen noch die private Initiative. Gegenwärtig spricht deshalb nur wenig für die teils erhoffte, teils befürchtete Heraufkunft einer über die UNO zentral gelenkten „Weltplanwirtschaft“.
IV. Schlußbetrachtung
Völkerbund und Vereinte Nationen haben neue Formen der Bürokratie und der Diplomatie geschaffen. Darüber hinaus bildeten sie Kristallisationspunkte für eine „öffentliche Weltmeinung", deren Einfluß auf die Geschicke der Menschheit heute nicht mehr zu leugnen ist. Mit der Herausbildung eines Beamtentums, das einen eigenen „esprit de corps" entwickelt und sich einem den partiku- laren Interessen der Staaten übergeordneten Gemeinwohl verpflichtet fühlt, hat der Trend zur Bürokratisierung, der den neuzeitlichen Staat kennzeichnet, auf die internationale Ebene übergegriffen Zur Kehrseite dieses auf Ordnung, Berechenbarkeit, Kontinuität und Regelmäßigkeit angelegten Trends gehört die enorme Vergrößerung der Behörden-apparate, die oft in keinem rechten Verhältnis zu der Leistungssteigerung zu stehen scheint Auch fördert die Bürokratisierung eher den Hang zur Routine als zu so dringend erforderlichen Eigenschaften wie Initiative, Beweglichkeit und Erfindungsgabe. Insbesondere droht sie die Weltorganisation aber immer strikteren „Sachzwängen" zu unterwerfen und sie auf diese Weise dem gewöhnlichen Bürger zu entfremden, um dessen lebendige Mitarbeit und moralische Unterstützung schon der Völkerbund gerungen hatte. Nur wenn die UNO in dieser Hinsicht zu periodischen Reformen und Kurskorrekturen fähig bleibt, wird sie sich vor Erstarrung und Leerlauf hüten können.
Entgegen den hochgesteckten Erwartungen mancher seiner Befürworter hat der Völkerbund die internationale diplomatische Szenerie nicht grundlegend verändert. Eine abrupte Ablösung der „alten", aristokratischen, volks-fernen Geheimdiplomatie durch die „neue", offene, demokratische Diplomatie fand nicht statt. Die Wandlungen vollzogen sich über längere Zeiträume, und manche Tradition lebt noch in der heutigen Praxis fort. Tatsächlich ist der Befund keineswegs eindeutig, denn während sich die Regierungen bemühen, ihre Konferenz-, Reise-und Gipfeldiplomatie als zunehmend offen darzustellen, nimmt die UNO gelegentlich das moralische Recht in Anspruch, Krisenverhütung unter dem Schlagwort der „preventive diplomacy" vertraulich zu betreiben.
Insgesamt gesehen haben Völkerbund und Vereinte Nationen aber zwei Entwicklungslinien verstärkt, die für den breiten Modernisierungsprozeß charakteristisch sind, den die Diplomatie im 20. Jahrhundert durchlief Zum einen hat sich der Aufgabenbereich der Diplomatie erheblich erweitert und wirtschaftliche, soziale, kulturelle und wissenschaftliche Belange einbezogen. Dies kommt in der fortlaufenden Differenzierung und Spezialisierung des diplomatischen Dienstes zum Ausdruck und spiegelt sich im umfassenden Katalog der Themen, mit denen sich internationale Organisationen heute befassen. Zum anderen haben multilaterale und internationale Formen des diplomatischen Verkehrs gegenüber den früher vorherrschenden bilateralen allgemein an Bedeutung gewonnen Die zweiseitigen Beziehungen bilden zwar nach wie vor das Fundament, auf dem die Staatengemeinschaft ruht. Mehr und mehr Probleme sind jedoch ihrer Natur nach nicht mehr bilateral zu bewältigen und verlangen deshalb nach alternativen Lösungen, sei es im regionalen oder im internationalen Rahmen. Nirgends wird der hieraus resultierende Stil-wandel der Diplomatie besser sichtbar als in Organisationen wie GATT und UNCTAD, wo die Nationen kaum mehr individuell, sondern vielmehr als Mitglieder von Staatengruppen auftreten und Gruppeninteressen verfechten Indem die UNO also der sterilen Konfrontation entgegenwirkt und dafür sorgt, daß dieser Prozeß der kompetitiven, wettbewerbs-mäßigen Entscheidungsfindung in dauerhaften und regulären Bahnen verläuft, hat sie die moderne Diplomatie um eine zusätzliche Dimension bereichert und ist im gleichen Zuge zu ihrem festen, unverzichtbaren Bestandteil geworden.
Ähnlich wie sich im 17. und 18. Jahrhundert, zuerst in England, dann auch auf dem Kontinent, eine „bürgerliche Öffentlichkeit" herausbildete, die der jeweiligen Staatsmacht kritisch entgegentrat, erlebt dieses Jahrhundert parallel zu den Fortschritten der Kommunikationstechnik die Entstehung einer die Staatsgrenzen mißachtenden „Weltöffentlichkeit". Von den schwerwiegenden Einschränkungen, denen die freie Meinungsäußerung in großen Teilen der Welt bis heute unterliegt, scheint diese Entwicklung nur gebremst, nicht aber aufgehalten werden zu können.
Schon der Völkerbund versuchte, über die verschiedenen privaten Friedensgesellschaften und League of Nations Societies mit dieser neuen Öffentlichkeit Fühlung zu halten, und wollte ihr moralisches Gewicht für seine Zwecke nutzbar machen In der Zwischenkriegszeit erwiesen sich diese Ansätze jedoch als zu schwach, um dem wiederaufflammenden Nationalismus Paroli zu bieten. Die heute weltweit erhobenen Forderungen nach Friedenssicherung, Rüstungsbegrenzung, solidarischer Hilfe für die armen Völker, Schutz der natürlichen Umwelt, sparsamer und sinnvoller Nutzung der Bodenschätze und Energiequellen und Gewährleistung der grundlegenden Menschenrechte stehen weitestgehend im Einklang mit den Zielsetzungen der UNO-Charta. Speziell in der Abrüstungsfrage scheint der öffentliche Druck auf die Regierungen, den die UNO 1982 durch die Einberufung einer Sondervollversammlung verstärkt hat inzwischen zumindest psychologische Wirkung zu zeitigen. Als Transmissionsriemen zwischen öffentlicher Meinung und Weltorganisation dienen nicht mehr allein die Medien und nationale Einrichtungen wie etwa die „Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen". Unterdessen ist eine Vielzahl von „international non-government organizations" hinzugekommen, die im Sinne der UNO arbeiten und immer häufiger sogar beratenden Status erhalten Hier deutet sich eine Ergänzung von ideellem Engagement und praktischer Wirksamkeit an, die man ebenfalls zu den strukturellen Verbesserungen gegenüber der Völkerbundsperiode zählen darf.
Von der engen Verklammerung zwischen den Institutionen des UNO-Systems und einer demokratisch gebildeten Weltmeinung dürfte es jedenfalls in hohem Maße abhängen, ob aus dem Prinzip der internationalen Organisation künftig eine neue Form von „world government" erwachsen wird, die weniger auf Zwang und Sanktionen als auf Konformitätsdruck, wechselseitigem Nutzen und vernunftsgemäßer Konsensbildung gründet.
Jürgen Heideking, Dr. phil., geb. 1947, Hochschulassistent am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen; derzeit Forschungsaufenthalt in den USA als Habilitationsstipendiat der Alexander v. Humboldt-Stiftung. Veröffentlichung u. a.: Areopag der Diplomaten. Die Pariser Botschafterkonferenz der alliierten Hauptmächte und die Probleme der europäischen Politik, 1920— 1931, 1979.
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