Das schwedische Modell. Erfahrungen mit dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer
Heinrich Pehle
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Zusammenfassung
Die Diskussion um die Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts ist nach entsprechenden Absichtserklärungen der Landesregierungen von Hamburg und Bremen wieder aktuell. Die Befürworter solcher Wahlrechtsreformen verweisen zur Entkräftung der Argumente der Reformgegner auf die Praxis verschiedener europäischer Nachbarländer, wobei aufgrund seiner „Vorreiterrolle“ insbesondere Schweden genannt wird. Die Praxis des kommunalen Ausländerwahlrechts in Schweden. Dänemark und den Niederlanden zeigt, daß die Befürchtungen und Einwände der deutschen Reformgegner in den genannten Ländern nicht verifiziert werden können. Allerdings kommt dem kommunalen Wahlrecht für die ausländische Bevölkerung offenbar auch nicht die Bedeutung zu. die ihm häufig zugeschrieben wird. Dies wird z. B.deutlich an der in Schweden von anfangs 60 Prozent (1976) auf mittlerweile 48 Prozent (1985) gesunkenen Wahlbeteiligung der „invandrare“. Das kommunale Wahlrecht für Ausländer erweist sich zwar als sinnvolle Ergänzung der vergleichsweise weit entwickelten Einwandererpolitiken in Schweden, Dänemark und den Niederlanden; den „Königsweg“ zur politischen Integration der ausländischen Bevölkerung vermag es allein jedoch nicht zu weisen.
Bereits seit den siebziger Jahren gibt es eine politische und (verfassungsrechtliche Diskussion darüber, ob den in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Ausländern das Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungskörperschaften gewährt werden soll Neue Brisanz erhielt dieser Streit, nachdem im September 1987 die Hamburger Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und FDP über eine entsprechende Wahlrechtsreform bekannt wurde und auch die Bremer Landesregierung die Absicht erklärte, Ausländern das kommunale Wahlrecht zuzubilligen,
Bei den „Betroffenen“ können sich die Befürworter einer solchen Reform großer Zustimmung sicher sein. Eine Erhebung von Claudia Koch-Arzberger unter Türken, Griechen und Italienern ergab eine Zustimmung von 70 Prozent zur Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts. 20 Prozent der Befragten standen der Frage gleichgültig gegenüber, und nur zehn Prozent sprachen sich dagegen aus. Allerdings wäre nur knapp die Hälfte der Befürworter bereit, zugunsten eines kommunalen Wahlrechts in Deutschland auf die entsprechenden Rechte in der Heimat zu verzichten*).
Unter den deutschen Wahlberechtigten dagegen genießt die Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer keineswegs vergleichbare Popularität. Zwar sind immerhin 54 Prozent der Bundesbürger „dafür“ bzw. „eher dafür“, Bürgern eines EG-Staates, die in einem anderen Land der EG leben, das kommunale Wahlrecht zuzuerkennen Die Ausdehnung des kommunalen Wahlrechts auf ausländische Bürger, die nicht aus den EG-Staaten stammen, lehnen jedoch nach einer repräsentativen Umfrage von Emnid 68 Prozent der Deutschen ab
Die Argumente gegen das kommunale Wahlrecht für Ausländer sind breit gefächert. Sie reichen von verfassungsrechtlichen Bedenken über die Befürchtung, eine derartige Reform begünstige die Übertragung „fremder“ politischer Konflikte auf die Bundesrepublik und fördere die Entstehung von Ausländerparteien, bis hin zu der Annahme, daß Ausländer ohnehin kein echtes Interesse an der (kommunalen) Politik des „Gastlandes“ aufbrächten. Die Befürworter verweisen dagegen auf Vorbilder im europäischen Ausland, insbesondere auf Schweden. Dänemark und die Niederlande. Schweden spielt dabei stets eine herausragende Rolle, weil dort das kommunale Wahlrecht für Ausländer seit 1975 „fast schon Tradition“ hat während Dänemark und die Niederlande entsprechende Regelungen erst 1981 und 1985 einführten.
Können mit dem Hinweis auf das schwedische Experiment wirklich alle Bedenken gegen eine entsprechende Reform in der Bundesrepublik ausgeräumt werden? Um diese Frage zu beantworten, darf die schwedische Wahlrechtsreform nicht isoliert von der allgemeinen schwedischen Einwandererpolitik betrachtet werden Darüber hinaus muß auch der Stellenwert kommunaler Politik in Schweden in die Argumentation einbezogen werden, was von den aktuellen Diskussionsbeiträgen nicht einmal ansatzweise erfüllt wird. Vorab ist jedoch zu klären, inwieweit die ausländerpolitischen Verhältnisse in Schweden und Deutschland überhaupt vergleichbar sind.
I. Schweden als Einwanderungsland
Schweden spielte in der zweiten Hälfte des 19. und bis in das 20. Jahrhundert hinein in der internationalen Migration die Rolle eines typischen „Entsendelandes“ — ca. 1, 2 Millionen Schweden wanderten zwischen 1850 und 1920 vor allem in die USA aus — und wurde erst seit den fünfziger Jahren zum Einwanderungsland. Während 1945 nur rund 35 000 Ausländer in Schweden registriert waren, was einem Anteil von 0, 5 Prozent an der Gesamtbevölkerung entsprach, waren es 1950 bereits knapp 124 000. Während der sechziger Jahre erlebte das Land zwei große Einwanderungswellen. Die erste, die um 1965 ihren Höhepunkt hatte, wurde dominiert von Südeuropäern (vor allem von Jugoslawen, Griechen und Türken), während die zweite zwischen 1968 und 1970 ganz im Zeichen der Finnen stand. Letztere profitierten vom Abkommen der Regierungen Dänemarks, Schwedens, Norwegens und Finnlands über den Gemeinsamen Nordischen Arbeitsmarkt aus dem Jahre 1954, das die völlige Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Skandinavien festschreibt.
Da seit 1967 jeder nichtskandinavische Ausländer, der sich in Schweden niederlassen will, schon vor der Einreise eine Aufenthalts-und Arbeitserlaubnis nachweisen muß und die staatliche Einwanderungsbehörde eine sehr zurückhaltende Praxis bei der Erteilung von Arbeitsbewilligungen übt, ist die Zahl der in Schweden ansässigen Ausländer seit Anfang der siebziger Jahre relativ stabil geblieben. Ende 1985 hatte Schweden 358 Millionen Einwohner. Davon besaßen ca. 389 000, also etwa 4, 7 Prozent, eine ausländische Staatsbürgerschaft 8). Zu der Gruppe der „invandrare" (Einwanderer) werden nach offizieller Lesart allerdings auch diejenigen Einwanderer gerechnet, die mittlerweile die schwedische Staatsbürgerschaft erworben haben. Diese Gruppe umfaßte Ende 1985 352 000 Personen oder 4, 2 Prozent der Bevölkerung Der Einwandereranteil von 8, 9 Prozent an der Gesamtbevölkerung Schwedens gewinnt damit eine mit dem der Bundesrepublik vergleichbare Dimension
Die ethnische Zusammensetzung der Einwanderer in Schweden und in der Bundesrepublik ist jedoch nicht vergleichbar: Den weitaus größten Anteil der in Schweden lebenden Ausländer stellen die Finnen (35, 7 Prozent), gefolgt von Jugoslawen (9, 9 Prozent), Norwegern (6, 8 Prozent). Dänen (6, 4 Prozent), Türken (5, 5 Prozent), Polen (4, 0 Prozent), Deutschen (3, 1 Prozent) und Griechen (2, 4 Prozent). Die ethnische Zusammensetzung der mittlerweile eingebürgerten Einwanderer weist in etwa die gleiche Struktur auf Unter den rund 4. 5 Millionen Ausländern, die Ende 1985 in der Bundesrepublik lebten, sind hingegen die Türken (ca. 32 Prozent) am stärksten vertreten. Jugoslawen (13, 4 Prozent), Italiener Prozent) und Griechen (ca. 7 Prozent) bilden die folgenden, wesentlich kleineren Gruppen. Österreicher, Spanier. Niederländer. Polen und Portugiesen stellen Anteile zwischen zwei und vier Prozent.
1. Die Prinzipien der schwedischen Einwandererpolitik
Eine planvolle Auseinandersetzung des Gesetzgebers und der staatlichen Behörden mit dem Immigrationsproblem läßt sich in der schwedischen Ausländer-oder Einwandererpolitik erst seit 1966 beobachten. Die „Zeit der Unschuld“ 12) wurde damals mit den bereits angesprochenen Maßnahmen zur Kontrolle und Limitierung des Zuzugs nicht-skandinavischer Arbeitskräfte beendet. Begleitet wurde diese Politik von ersten Versuchen, die akuten Anpassungsprobleme der Einwanderer zu überwinden.
Der schwedische Reichstag einigte sich allerdings erst 1975 — im übrigen einstimmig und nach sechsjähriger Arbeit einer Kommission für Einwanderer-fragen — auf ein Gesetz, das die Ziele und Grundsätze der Einwandererpolitik formulierte. Dessen bis heute gültige Prinzipien waren jedoch bereits seit Mitte der sechziger Jahre in der praktischen Politik erkennbar. Sie wurden von der Kommission für Einwandererfragen mit den Schlagworten Gleichheit, Wahlfreiheit und Partnerschaft umschrieben. Möglichst gleiche Rechte und Pflichten wie für die einheimische Bevölkerung, die Möglichkeit der Entscheidung, in welchem Ausmaß die eigene Sprache und Kultur bewahrt und gepflegt oder zugunsten einer umfassenderen Integration aufgegeben werden soll, und die Zusammenarbeit mit den Einheimischen im gesellschaftlichen und politi-sehen Leben sollen die Situation der Ausländer in Schweden bestimmen.
Als Voraussetzung dafür gilt bis heute die Begrenzung der Einwanderung: Wer den Immigranten dieselben ökonomischen und sozialen Vorteile wie der übrigen Bevölkerung gewähren, also ein „Gastarbeiter-System“ mit allen seinen Benachteiligungen vermeiden will, der muß zwangsläufig eine Regulierung der Einwanderung in Kauf nehmen. Erst auf dieser Grundlage — so die schwedische Maxime — ist eine integrationsfreundliche und emanzipatorische Einwandererpolitik sinnvoll und möglich. Die einzelnen „Bausteine“ dieser Politik sollen im folgenden kurz umrissen werden.
Integrationshilfen Bereits im Jahre 1965 wurde allen Einwanderern das Recht eingeräumt, an einem kostenlosen Schwedischunterricht teilzunehmen, der von Erwachsenenbildungsorganisationen der Parteien. Gewerkschaften u. a. abgehalten wird. Die Finanzierung erfolgt über Staatszuschüsse. Seit 1973 sind die schwedischen Arbeitgeber verpflichtet, ausländischen Beschäftigten 240 Stunden bezahlten Urlaub zum Besuch eines Sprachkurses zu gewähren — eine Vorschrift, deren Durchführung häufig genug an der Einstellungspraxis schwedischer Unternehmen scheitert.
Gute Erfahrungen hat man mit einer von einer staatlichen Stiftung herausgegebenen Einwanderer-zeitung gemacht, die seit 1967 in elf Fremdsprachen sowie in leicht verständlichem Schwedisch erscheint. Ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung typischer „Startschwierigkeiten“ ist auch durch den Aufbau eines leistungsfähigen Dolmetscherwesens geleistet worden. Staatliche und private Einrichtungen sind gesetzlich verpflichtet, bei Bedarf einen Dolmetscher beizuziehen. Lokale „Servicebüros“ für Einwanderer vermitteln darüber hinaus kostenlos Dolmetscher, die einer gesetzlichen Schweigepflicht unterliegen und die bei Behördengängen, aber auch bei Verhandlungen mit Privatpersonen (Wohnungsvermieter u. ä.) Hilfe leisten.
Aufenthaltserlaubnis und Einbürgerung Die von der staatlichen Einwanderungsbehörde zu gewährende Arbeitsbewilligung ist für nichtskandinavische Einwanderer — ausgenommen politische Flüchtlinge und nachziehende Familienangehörige — Voraussetzung für die Aufenthaltserlaubnis. Die Arbeitserlaubnis gilt im allgemeinen zunächst für ein Jahr und wird anschließend verlängert Ist ein Ausländer erst einmal zugelassen, darf ihm diese Verlängerung nicht aus Gründen eines etwaigen Arbeitsplatzmangels verwehrt werden. Nach einem Jahr Aufenthalt wird häufig eine ständige Aufenthaltserlaubnis erteilt, d. h. eine Verlängerung ist überflüssig, solange der (die) Betreffende in Schweden ansässig ist.
Nach der seit 1976 gültigen Gesetzgebung können Angehörige skandinavischer Staaten nach zwei Jahren ständigen Aufenthalts in Schweden auf Antrag die schwedische Staatsangehörigkeit erhalten; für die anderen Ausländer beträgt die Frist normalerweise fünf (vor 1976: sieben), für politische Flüchtlinge vier Jahre. Schwedische Sprachkenntnisse müssen nicht nachgewiesen werden.
Diese liberalen Vorschriften bewirken eine im europäischen Vergleich relativ hohe Zahl von Einbürgerungen. Gleichwohl ziehen es die meisten Einwanderer vor. im Besitz ihrer ursprünglichen Staatsangehörigkeit zu bleiben Dies mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, daß nicht wenige Einwanderer längerfristig Remigrationswünsche hegen (insbesondere viele Finnen, aber auch viele Westeuropäer) ist aber zum Teil sicher auch Resultat der Bemühungen um die soziale Gleichstellung der Ausländer.
Soziale Gleichstellung Ausländer haben den gleichen Anspruch auf Sozialleistungen wie schwedische Staatsbürger. Dies gilt für Familiengründungsdarlehen, das Wohn-und Kindergeld und die Sozialhilfe gleichermaßen. Ärztliche und zahnärztliche Behandlung. Krankenhausaufenthalte und krankheitsbedingte Verdienstausfälle sind für alle in Schweden lebenden Personen durch die gesetzliche Krankenversicherung gedeckt. Bei der Rentenversicherung hingegen ist eine völlige Gleichstellung der Einwanderer sehr schwer zu bewerkstelligen. Diese haben zwar Anspruch auf die durch Arbeitgeberabgaben finanzierte Zusatzrente, doch die staatliche Grundrente ist prinzipiell nur schwedischen Staatsbürgern zugänglich. Durch bilaterale Abkommen mit den Heimatländern der Immigranten war es jedoch schon im Jahre 1975 möglich, ca. 90 Prozent der in Schweden arbeitenden Ausländer eine der schwedischen Grundrente entsprechende Alterspension zu sichern.
Auch auf dem Arbeitsmarkt hat man sich um eine rechtliche Gleichstellung der Einwanderer bemüht. Sie können die Dienste der Arbeitsmarktverwaltung. Berufsschulungen. Arbeitslosenunterstüt-* zung und Unfallrenten unbeschränkt in Anspruch nehmen. Darauf sind viele Einwanderer auch dringend angewiesen, ist doch die Arbeitslosenrate unter den Ausländern seit Jahren etwa doppelt so hoch wie bei der schwedischen Bevölkerung. Im Jahresdurchschnitt 1985 lag die Arbeitslosenrate der Gesamtbevölkerung bei 2, 8 Prozent, während sie bei den Ausländern 5, 2 Prozent betrug Insbesondere die „Neuankömmlinge“ — fast ausschließlich politische Flüchtlinge — haben große Schwierigkeiten, Zugang zum schwedischen Arbeitsmarkt zu finden. Aus diesem Grunde sind Ausländer bei staatlich finanzierten Umschulungs-und Weiterbildungsmaßnahmen ebenso überrepräsentiert wie beim staatlichen „Jugendbeschäftigungsprogramm“, das 1984 gestartet wurde und Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren vier Stunden bezahlter Arbeit am Tage garantiert
Einwandererpolitik als Unterstützung von Minderheiten Die bislang skizzierten Maßnahmen lassen die schwedische Einwandererpolitik als außerordentlich integrationsfreundlich erscheinen. Ergänzt Jahren vier Stunden bezahlter Arbeit am Tage garantiert 17).
Einwandererpolitik als Unterstützung von Minderheiten Die bislang skizzierten Maßnahmen lassen die schwedische Einwandererpolitik als außerordentlich integrationsfreundlich erscheinen. Ergänzt wird diese Politik durch die materielle und ideelle Unterstützung ethnischer Minderheiten, die um die Erhaltung ihrer kulturellen Identität bemüht sind. Dies äußert sich u. a.seit 1975 in der Gewährung finanzieller Unterstützung für die mittlerweile über 1 000 Organisationen von Einwanderern. Deren Reichsorganisationen erhalten von der staatlichen Einwandererbehörde jährlich mehrere Millionen Schwedenkronen. Die Einwandererverbände werden seit Jahren als wichtiger Teil des schwedischen Verbändesystems akzeptiert. Dieser Sachverhalt ist von erheblicher politisch-sozialer Relevanz, denn er eröffnet den entsprechenden Vereinigungen formellen und informellen Einfluß auf die Gesetzgebung und die Arbeit der Staatsbehörden 18).
Staatliche Unterstützung wird zudem für Druck und Vertrieb fremdsprachiger Literatur und Zeitungen gewährt; die öffentlichen Bibliotheken erhalten zum Beispiel Mittel zur Anschaffung von Büchern in den wichtigsten Einwanderersprachen. Die bedeutendste Maßnahme zur Aufrechterhaltung der kulturellen Wahlfreiheit der Immigranten und anderer ethnischer Minderheiten ist aber wohl die „Muttersprachenreform“, d. h. das Recht für Einwandererkinder — definiert als solche, deren Mütter oder Väter ausländischer Herkunft sind bzw. nicht Schwedisch als Muttersprache sprechen — auf einen wöchentlich mehrstündigen Unterricht in der Sprache der Eltern. Seit 1976 sind die Schulträger gesetzlich zur Erteilung dieses Unterrichts verpflichtet. Durch diese Maßnahme soll Einwanderern der zweiten Generation der Kontakt mit Sprache und Kultur ihrer Eltern vermittelt und das Phänomen der „doppelten Halbsprachigkeit“ bekämpft werden.
Derzeit wären ca. 100 000 Schüler zur Teilnahme am Muttersprachenunterricht berechtigt, knapp zwei Drittel davon nutzen diese Chance. Der Unterricht wird in beinahe 100 verschiedenen Sprachen erteilt; in mehreren größeren Städten müssen Lehrer für 50 verschiedene Sprachen beschäftigt werden. 2. Das Ausländerwahlrecht und die Bedeutung der kommunalen Ebene in Schweden Die im Jahre 1975 vom schwedischen Reichstag einstimmig beschlossene Wahlrechtsänderung bildet gleichsam einen „Schlußstein“ der schwedischen Einwandererpolitik. Seitdem allen ausländischen Staatsbürgern, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und mindestens drei Jahre in Schweden ansässig sind, das aktive und passive Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungskörperschaften zukommt, sind die einwandererpolitischen Grundsätze der „Gleichheit“ und der „kulturellen Wahl-freiheit“ inhaltlich glaubwürdig, weil gleiches Recht zur politischen Partizipation (zumindest auf kommunaler Ebene) nicht mehr an die Aufgabe der ursprünglichen Staatsangehörigkeit gebunden ist. Es erscheint daher nur konsequent, wenn in Schweden ernsthaft die Ausweitung des Wahlrechts für Ausländer auf die Reichstagswahlen diskutiert wird, vielen also die kommunale Wahlrechtsreform nur als erster Schritt gilt. Bevor nun diese Überlegungen und die Erfahrungen mit den „Einwanderer-Wählern“ und „Einwanderer-Wahlen“ diskutiert werden, soll die Frage nach dem Stellenwert der schwedischen Kommunalwahlen geklärt werden 19).
Schweden hat nach Abschluß zweier tiefgreifender Gebietsreformen in den fünfziger bzw. siebziger Jahren 278 selbständige Kommunen (im Vergleich dazu: ca. 8 500 Gemeinden in der Bundesrepublik nach Abschluß der hiesigen Gemeindegebietsreformen). Neben diesen „Primärkommunen“ existieren noch 23 Bezirksgemeinden („landstingskommuner"), d. h. kommunale Selbstverwaltungskörperschaften, die sich von der Aufgabenstruktur her recht gut mit den bayerischen Bezirken vergleichen lassen.
Die schwedischen Kommunalreformen waren unter dem Vorzeichen einer möglichst effektiven Erledigung der vielfältigen kommunalen Aufgaben in Angriff genommen worden. Ihr Ergebnis war eine wesentliche Statusverbesserung der Kommunen in politischer. administrativer und finanzieller Hinsicht. Auffallend ist dabei die umfassende Kommunalisierung öffentlicher Aufgaben. Sie läßt sich insbesondere zum einen an der Steigerung des Anteils der kommunalen Konsumtionen und Investitionen am Bruttosozialprodukt von elf (1960) auf 24 Prozent (1980) und zum anderen an der Tatsache ablesen, daß die Kommunen im Jahre 1980 nicht weniger als 21 Prozent aller schwedischen Arbeitskräfte beschäftigten.
Die Exp Prozent aller schwedischen Arbeitskräfte beschäftigten.
Die Expansion der kommunalen Aufgaben ist vor allem auf die fortwährende Übertragung öffentlicher Aufgaben vom Zentralstaat auf die Gemeinden mittels Spezialgesetzen zurückzuführen. Der u. a. durch Schul-, Sozialhilfe-, Gesundheits-und Fürsorgegesetze geregelte Aufgabenbereich schwedischer Kommunen läßt sich cum grano salis mit den Pflichtaufgaben der deutschen Gemeinden vergleichen; nur ist er erstens umfassender, und zweitens kommt den schwedischen Gemeinden, was im folgenden noch näher beschrieben werden soll, eine vergleichsweise große Gestaltungsfreiheit bei der Aufgabenerfüllung zu.
Funktionsgewinne der kommunalen Ebene sind für entwickelte Industrienationen nicht untypisch; häufig gehen sie allerdings mit Autonomieverlusten einher. Letzteres läßt sich für Schweden nicht behaupten. Im Gegenteil: Der schwedische Reichstag geht seit spätestens 1975 davon aus, daß sich das „Erfordernis staatlicher Aufsicht und Kontrolle über die Art und Weise, wie die Kommunen ihre Aufgaben erfüllen, verringert hat“ 20). Resultat dieser Politik ist die ersatzlose Streichung staatlicher Genehmigungsvorbehalte und Verwaltungsvorschriften sowie die Umwandlung zweckgebundener staatlicher Finanzzuweisungen in allgemeine Staatszuschüsse.
Der Grad der relativen Autonomie der Kommunen bemißt sich nicht zuletzt an ihrer Finanzausstattung. Diesbezüglich stehen die schwedischen Gemeinden im internationalen Vergleich nicht nur wegen der Abkehr vom System der Zweckzuweisungen sehr gut da, sondern vor allem auch deshalb, weil sie die Höhe der proportionalen kommunalen Einkommenssteuer völlig selbständig festlegen können. Die von privaten und juristischen Personen zu entrichtende Kommunalsteuer beträgt durchschnittlich ca. 29 Prozent des zu versteuernden Einkommens und ist mit einem seit Jahren konstanten Anteil von ca. 43 Prozent an den kommunalen Gesamteinnahmen die wichtigste Finanzquelle der schwedischen Gemeinden. .
Die schwedischen Kommunen sind also alles andere als „bloße Handlanger des Staates“ 21), wie eine der vielen drastischen Formulierungen lautet, mit denen die (angebliche) Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung in der Bundesrepublik beschrieben wird. Die These von der relativ großen Gestaltungsfreiheit der kommunalen Politik in Schweden trifft auch für die Einwandererproblematik zu: „Die Einwandererpolitik bekommt ihre Inhalte durch Reformen und Richtlinien der Staatsorgane, wird durchgeführt unter Mitwirkung zentraler Behörden und Organisationen und verwirklicht auf lokalem Niveau.“
In dieser Formulierung kommt das für Schweden typische Miteinander von Staat und Kommunen — hier hinsichtlich der Einwandererpolitik — zum Ausdruck. Staat und Gemeinden wirken nach schwedischem Selbstverständnis in einem öffentlichen Aufgabenverbund zusammen. Die das deutsche politische Denken noch vielfach prägende Trennung von Staat und Gesellschaft, die die kommunale Sphäre der Gesellschaft zuordnet, hat in Schweden nie gegriffen. Staat, Gesellschaft und Gemeinde werden als zusammengehörige Einheit gedacht, mit der Konsequenz, daß weder der staatliche vom kommunalen Sektor als „wesensmäßig“ unterscheidbar, noch die Aufgabenverteilung als unveränderlich gilt.
Die Formulierung von der Verwirklichung der Einwandererpolitik auf „lokalem Niveau“ verdeutlicht bereits die ausschlaggebende Rolle der Kommunen in Schweden. Sie sind die Hauptträger der „Serviceleistungen“ für Einwanderer und bestimmen damit die Intensität der entsprechenden Maßnahmen. Als Beispiel mag die Einrichtung der „Einwandererbüros“ gelten. Sie dienen der Vermittlung von Dolmetschern.der Beratung von Einwanderern bei individuellen Problemen, der Information der einheimischen Bevölkerung über die Einwanderer und ihre besondere Lage und der Förderung von Kontakten zwischen Ausländem (bzw.deren lokalen Organisationen) und kommunalen Behörden. Die Einrichtung solcher Büros ist den Kommunen freigestellt. Im Jahre 1967 wurde die erste Einrichtung dieser Art ins Leben gerufen, 1980 gab es bereits mehr als 100 Einwandererbüros. Viele Gemeinden gewähren lokalen Einwanderervereinen zudem finanzielle Zuschüsse, stellen Versammlungslokale zur Verfügung bzw. gewähren Mietbeihilfen und richten Einwandererbeiräte ein, wie sie auch in der Bundesrepublik bekannt sind
Wahlberechtigte Ausländer bestimmen also indirekt auch über die Einwandererpolitik ihrer Kommune.deren Grundzüge zwar festliegen, deren Intensität aber von Ort zu Ort variiert. 3. Was steht zur Wahl?
Die Verfassung der Gemeinden Schwedens wird in Kap. 1. § 6 der Reichsverfassung grundsätzlich geregelt. Dieser Paragraph enthält eine dem Art. 28 GG fast gleichlautende Vorgabe, die die Existenz einer gewählten Volksvertretung als oberstes Beschlußorgan der Kommunen verfassungsrechtlich verankert. Die konkrete Ausformung des politisch-administrativen Systems der Gemeinden erfolgte durch das einheitliche Kommunalgesetz vom 1. Juli 1977, das auch für die Bezirksgemeinden gilt.
Die Grundentscheidung für die repräsentative Demokratie in den schwedischen Kommunen äußert sich darin, daß das höchste beschließende Organ der Gemeinderat („kommunfullmäktige“) ist der je nach Einwohnerzahl zwischen 31 und 101 (Stockholm) Mitglieder zählt. Er wird nach den Grundsätzen der Verhältniswahl für eine Amts-dauer von drei Jahren gewählt.
Die Vorbereitung und Ausführung der Beschlüsse des Gemeinderates obliegen einer Ausschußorganisation mit einem Hauptausschuß („kommunstyrelse") an der Spitze. Die Mitglieder sämtlicher Ausschüsse („nämnder"), denen die Leitung und Kontrolle der ihnen jeweils nachgeordneten Verwaltungseinheiten zukommt, werden vom Gemeinderat aus seinen eigenen Reihen oder auch aus der partei-und/oder verbandspolitisch aktiven Bürgerschaft gewählt. Auf Verlangen einer qualifizierten Minderheit muß diese Wahl nach dem Proporzprinzip erfolgen, so daß in allen Kommunen auch die Minderheitsparteien in den Ausschüssen vertreten sind.
Die Kommunalwahlen in Schweden sind stark „reichspolitisch“ dominiert: Die im Reichstag vertretenen Parteien (Sozialdemokraten. Kommunisten, Zentrumspartei, die liberale Volkspartei und die Moderate Sammlungspartei) halten sämtliche kommunalen Mandate. Kommunale Wählergemeinschaften oder reine „Rathausparteien“ sind im Grunde unbekannt. Die starke reichspolitische Prägung der Kommunalpolitik findet ihren Ausdruck auch im gemeinsamen Wahltag für die Reichstags-und Gemeindewahlen. Dadurch soll dem Wähler der Zusammenhang zwischen beiden Politikebenen augenfällig gemacht werden. Die Folge sind beinahe identische Ergebnisse der Parteien in Reichstags-, Gemeinde-und Bezirksratswahlen in den jeweiligen Wahlkreisen. 4. Erfahrungen mit dem Ausländerwahlrecht Bei den ersten „Einwandererwahlen“ im Jahre 1976 erhielten 220 000 Ausländer das Wahlrecht, was einem Anteil von 3, 5 Prozent an der Gesamtwählerschaft entsprach. Die Unterrepräsentation der Ausländer in der Wählerschaft im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung hatte ihre Ursache zum einen darin, daß nicht alle in Schweden ansässigen Ausländer wahlberechtigt sind; zum anderen liegt der Altersdurchschnitt der Einwanderer deutlich unter dem der schwedischen Bevölkerung: Ausländer haben mehr Kinder als Schweden. Folglich ist auch der Anteil der wahlberechtigten Personen unter den Ausländem nicht so hoch wie unter den Einheimischen.
Den Wahlen von 1976 ging eine umfangreiche Informationskampagne in fünfzehn Einwanderer-sprachen voraus, die von Behörden, Parteien und Gewerkschaften getragen wurde. Diese Informationen scheinen Erfolg gehabt zu haben. Jedenfalls ergaben entsprechende Untersuchungen, daß jene Ausländer, die kein oder nur sehr mangelhaft Schwedisch sprachen, ebenso häufig wählten wie jene mit guten Sprachkenntnissen Auffallend ist, daß die ansonsten recht großzügig unterstützten Einwandererverbände keinerlei staatliche Mittel erhielten, die es ihnen erlaubt hätten, ihre Mitglieder über die anstehenden Wahlen zu informieren. Der schwedische Sozialwissenschaftler Tomas Hammar vermutet dahinter die Furcht vor der Entstehung neuer politischer Parteien — Einwanderer-parteien. Diese Furcht erwies sich allerdings als unbegründet: Nur in zwei der damals 277 Gemeinden wurden derartige Versuche unternommen. Ohne Erfolg übrigens, denn die ausländischen Erst-wähler stimmten zu fast 100 Prozent für die fünf im Reichstag vertretenen Parteien.
Welches Ergebnis hatten nun die Kommunalwahlen von 1976 in bezug auf die ausländischen Wähler? Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 60 Prozent im Vergleich zu ca. 90 Prozent bei den schwedischen Wählern, was von der staatlichen Einwandererbehörde als unverhofft hoch angesehen und damit als Erfolg der Reform verbucht wurde In die kommunalen Vertretungskörperschaften wurden ca. 400 Personen mit „Einwandererhintergrund“ gewählt, was einem Anteil von 2, 6 Prozent in den schwedischen Gemeinderäten und Bezirks-tagen entsprach. Diese bei einem Ausländeranteil von 3, 5 Prozent an der Gesamtwählerschaft recht hohe Zahl darf allerdings nicht überbewertet werden. Die Parteien hatten nämlich mit Rücksicht auf die neue Wählergruppe „Ausländer“ vor allem schwedische Staatsbürger in ihre Listen aufgenommen, die schon vor längerer Zeit eingewandert waren und sich zudem parteipolitisch engagiert hatten.
Die Kommunalwahlen des Jahres 1979 standen im Zeichen einer erweiterten Informationsarbeit für die ausländischen Wähler von Seiten der Einwandererbehörde und der Ausländerverbände, die für diesen Zweck staatliche Zuschüsse von insgesamt einer Million Kronen erhielten. In Zusammenarbeit der Einwandererbehörde mit den politischen Parteien erschien zum Beispiel eine Sondernummer der Einwandererzeitung mit parteipolitischen Informationen. Von dieser Aktion und einer Vielzahl anderer Maßnahmen erhoffte man sich eine deutliche Erhöhung der Wahlbeteiligung bei den Ausländem.
Die zweiten Kommunalwahlen mit Beteiligung von Ausländern wurden jedoch wider Erwarten ein „ernster Rückschlag für die schwedische Einwandererpolitik“ Die Wahlbeteiligung der Ausländer sank auf ca. 54 Prozent. Die Ursachen für diesen Rückgang lagen vermutlich an folgenden Punkten: 1. Der Wahl von 1979 fehlte der „Reiz des Neuen“, was sich in geringerer Aufmerksamkeit der Massenmedien für das Phänomen Ausländerbeteiligung an der Kommunalwahl niederschlug. Dies verringerte die Motivation zum Urnengang. 2. Die Aufmerksamkeit der politischen Parteien gegenüber den Ausländern war im Wahlkampf beträchtlich zurückgegangen. Das Ergebnis der vorausgegangenen Kommunalwahlen hatte gezeigt, daß die Zulassung der Einwanderer nichts an den traditionellen Machtpositionen der Parteien in den Kommunen änderte, womit sich ein besonderes Eingehen auf diese Wählergruppe offenbar erübrigte. 51 Prozent der kommunalen Parteiorganisationen gaben bei einer Vor-Wahlbefragung bezeichnenderweise an, keine besonderen Maßnahmen bezüglich der Ausländer zu planen. 3. Die ausländerpolitischen Programme der Parteien waren im Grunde gegeneinander austauschbar; die Parteipolitiker wagten es angesichts der auch in Schweden noch immer latenten Fremden-feindlichkeit nicht, im Wahlkampf ausländerpolitisehe Fragen anzuschneiden. 4. Die Kommunen selbst taten zu wenig, um die ausländischen Bürger für die lokale Politik zu interessieren und sie über die Bedeutung und den technischen Ablauf der Wahlen zu informieren. 160 der 278 schwedischen Kommunen (57, 5 Prozent) hatten in dieser Hinsicht überhaupt nichts unternommen. 5. Viele Immigranten schienen die Meinung zu vertreten, daß sich durch eine Wahlbeteiligung nichts an ihrer konkreten Lebenssituation ändern ließe. 6. Der gemeinsame Wahltag für Reichstag und Gemeindevertretungen verstärkte bei den ausländischen Wählern die Empfindung, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein, da sie nur an den unbedeutenderen Kommunalwahlen teilnehmen durften. Dies mag viele bewogen haben, ganz auf die Wahrnehmung ihres Wahlrechts zu verzichten.
Den Rückschlag, den man mit den Kommunalwahlen von 1979 erlitten hatte, nahm man zum Anlaß, die Aufklärungs-und Informationsarbeit für die Zielgruppe „ausländische Wähler“ vor der nächsten Wahl weiter zu verstärken. Die Initiative dazu ging von der staatlichen Einwanderungsbehörde aus, die nun besonderes Schwergewicht aufeine verbesserte Zusammenarbeit mit den Kommunen, den Einwandererorganisationen und den politischen Parteien legte. Alte Fehler, die man vor allem darin sah. daß man die ausländischen Wähler bislang fast ausschließlich mit schriftlichem Material versorgt hatte — das zudem erst kurz vor dem Wahltermin verschickt worden war —. sollten vermieden werden.
Da also verstärkt Hausbesuche. Informations-und Diskussionsveranstaltungen angeboten werden sollten, mußten erhöhte finanzielle Ressourcen eingesetzt werden. Die schwedische Regierung bewilligte denn auch knapp zehn Millionen Kronen, die wie folgt verteilt wurden: Die politischen Parteien erhielten zweckgebunden insgesamt sieben Millionen Kronen für die „Information von Ausländern“, über eine Million ging an die Informationsprojekte der Einwandererorganisationen, und 1. 5 Millionen Kronen konnte die Einwanderungsbehörde für „parteipolitisch neutrale Informationen zur Gesellschaftspolitik und Wahltechnik“ einsetzen
Das Ergebnis dieser Kampagne war ernüchternd. Die Wahlbeteiligung der Ausländer sank bei den Wahlen von 1982 um weitere 1. 2 Prozent auf 52. 2 Prozent. Die Einwanderungsbehörde wurde bei der Ursachenforschung schnell fündig. Sie verwies schon ein halbes Jahr nach den Wahlen auf die ihrer Ansicht nach entscheidende Schwachstelle, die bei den politischen Parteien zu suchen sei. Diese ließen es — so das Ergebnis der Studie — am „permanenten Kontakt mit den Einwandererwählern" fehlen, nominierten zu wenig ausländische Kandidaten auf ihren Listen und gingen nicht genügend auf die speziellen Bedürfnisse der verschiedenen Ausländergruppen ein.
Für die 1985 anstehenden Kommunalwahlen hatten schwedische Wahlforscher erwartet, daß sich die Wahlbeteiligung der Ausländer bei 52 Prozent stabilisieren, vielleicht sogar wieder ansteigen würde. Daß das Gegenteil eintrat und die Wahlbeteiligung der ausländischen Wählerschaft 1985 nochmals um mehr als vier Prozent auf 48 Prozent sank, wertete der schwedische Wahlforscher Hammar als „eine Art Schock“: „Wenn mehr als die Hälfte des Ausländerelektorats ihre Rechte nicht nutzte, ist dies als Zeichen zu werten, daß das System nicht richtig funktioniert, und auch wenn sich alle Parteien einig sind, daß das Ausländerwahlrecht von Vorteil war, diskutieren sie nun. was . falsch gelaufen'ist und was getan werden kann. Interesse und Partizipationsrate künftig zu steigern.“
Die aktuelle Diskussion über das Wahlrecht und die Wahlbeteiligung von Ausländern hat noch nicht zu neuen Ergebnissen geführt. Die „Problemliste“ entspricht den hier bereits erwähnten Analysen. Ein möglicher Ansatzpunkt zur Steigerung des Interesses der Einwanderer an den Kommunalwahlen ist jedoch augenfällig: Die politischen Parteien müssen sich bemühen, mehr Einwanderer als bisher auf aussichtsreichen Listenplätzen zu berücksichtigen, denn bislang hat das passive Ausländerwahlrecht in Schweden eine eher marginale Rolle gespielt. Derzeit amtieren 108 Personen mit nicht-schwedischer Staatsbürgerschaft als Gemeinde-bzw. Bezirksräte. Ihnen stehen ca. 30 000 schwedische Mandatsträger gegenüber. Auch setzt sich die für 1976 bereits beschriebene Praxis fort, daß die politischen Parteien vorrangig bereits eingebürgerte und faktisch assimilierte Einwanderer nominieren. 1985 wurden 630 solche „Einwandererpolitiker“ gewählt, davon waren die Hälfte gebürtige Finnen
II. Dänemark
Das „schwedische Modell“ wurde in Dänemark in zwei Schritten übernommen. Im Jahre 1977 wurde zunächst die Empfehlung des Nordischen Rates, daß die skandinavischen Länder ihren in den betreffenden Nachbarländern ansässigen Staatsbürgern gegenseitig das kommunale Wahlrecht gewähren sollten, in die Tat umgesetzt. Dadurch wurden ca. 12 000 Zuwanderer erstmals wahlberechtigt; ihr Anteil am Gesamtelektorat entsprach 0, 34 Prozent. Die Wahlbeteiligung der nordischen Migranten Prozent. Die Wahlbeteiligung der nordischen Migranten lag bei 59, 6 Prozent im Vergleich zu einer Gesamtwahlbeteiligung von 73, 2 Prozent 32).
Der zweite Schritt, der vor allem mit den schwedischen Erfahrungen begründet wurde, bestand im Jahre 1980 in der Ausdehnung des aktiven und passiven Kommunalwahlrechts auf sämtliche Einwanderer, die seit mindestens drei Jahren in Dänemark leben.
Die Kommunalwahlen von 1981 eröffneten damit knapp 52 000 Ausländern das Wahlrecht, davon waren ca. 38 000 nicht-nordische Migranten. Insgesamt lebten damals ca. 100 000 Ausländer in Dänemark. Ein knappes Viertel davon stammte aus Skandinavien, ein weiteres aus Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Nur für die Hälfte der ausländischen Staatsbürger wies die Statistik einen nicht zur EG gehörigen Staat oder einem Staat der „Dritten Welt“ als Herkunftsland aus, darunter 15 838 Türken, 7 709 Pakistani und 7 317 Jugoslawen.
Der Anteil der Einwandererwähler am Gesamtelektorat erhöhte sich durch die Reform auf 1, 4 Prozent. Es gab keine Gemeinde, in der er höher als sieben Prozent war. Damit stellte sich parteipolitisch nirgendwo ernsthaft die Machtfrage. 61, 3 Prozent der wahlberechtigten Ausländer gingen (bei einer Gesamtwahlbeteiligung von 73, 3 Prozent) zur Urne, und sie stimmten fast ausnahmslos für die dänischen Parteien.
Die zweiten „Ausländerwahlen“ im Jahre 1985 brachten keine neuen Erfahrungswerte. Die Wahlbeteiligung der Ausländer blieb in etwa konstant, und Ausländerlisten hatten weiterhin — wie in Schweden — keine Chance. Auch wurden kaum Ausländer in die Kommunalparlamente gewählt. Für die wenigen Erfolgreichen gilt die Aussage des einzigen türkischen Mandatsträgers in Dänemark: „Du mußt Dich parteipolitisch binden, wenn Du als Einwanderer gewählt werden willst.“ 33)
III. Die Niederlande
Auch die Einwandererpopulation der Niederlande weist im Vergleich mit derjenigen der Bundesrepublik gewichtige Unterschiede auf. Dies gilt sowohl für ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung als auch hinsichtlich ihrer Zusammensetzung. Die Niederlande zählen ca. 14 Millionen Einwohner, davon haben 550 000 — also vier Prozent — eine ausländische Staatsbürgerschaft. Etwa 350 000 Ausländer stammen aus den Mittelmeerländern, die anderen kommen vor allem aus EG-Staaten 34): „Eine so große und das Bewußtsein über Ausländer dominierende Gruppe wie die Türken in der Bundesrepublik gibt es nicht.“ Zu den genannten ausländischen Staatsbürgern kommen noch etwa 250 000
Einwanderer mit niederländischer Staatsangehörigkeit, die großteils in den siebziger Jahren — insbesondere aus der ehemaligen Kolonie Surinam und den Niederländischen Antillen — in die Niederlande kamen. Die „Zielgruppe“ der niederländischen Minderheitenpolitik umfaßt mithin etwa sechs Prozent der Bevölkerung.
Der Umstand, daß sich die niederländische Bevölkerung frühzeitig an Einwanderer mit vollen staatsbürgerlichen Rechten „gewöhnen“ konnte, mag dazu beigetragen haben, daß sie der Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts recht aufgeschlossen gegenüberstand. Zwei Drittel der Wahl-bevölkerung begrüßten die Wahlrechtsreform nach der seit 1985 alle Ausländer, die mindestens fünf Jahre in den Niederlanden leben und das 18. bzw. 21. Lebensjahr vollendet haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Gemeinderatswahlen haben.
Bei den (alle vier Jahre stattfindenden) Kommunalwahlen von 1986 waren 325 000 Einwandererwähler registriert. Mit einer aufwendigen Kampagne, die die Regierung mit 3. 5 Millionen Gulden finanzierte. wurde versucht, die Ausländer über die Bedeutung und die Technik der Wahlen aufzuklären und sie zur Teilnahme zu bewegen Das Ergebnis dieser Bemühungen war ernüchternd: Nur 40 Prozent der ausländischen Wähler folgten dem Wahl-aufruf. Entsprechend gering fiel ihr Einfluß auf das Wahlergebnis aus. Seit 1986 sitzen in den 697 niederländischen Gemeinden nicht mehr als 25 Gemeinderäte mit ausländischer Staatsbürgerschaft. Ob man dies nun als ersten „Durchbruch“ werten mag oder als Rückschlag für die niederländische Integrationspolitik: Gerade angesichts der engagierten und gründlich vorbereiteten Aufklärungsund Mobilisierungskampagne vor dem Wahlgang ist ein breites Desinteresse der „Mitländer“ (so die niederländische Bezeichnung für die Einwanderer) an den Kommunalwahlen zu konstatieren. Die Integration durch Partizipation ist offenbar auch bei einem günstigen öffentlichen Meinungsklima nur schwer zu realisieren.
IV. Fazit: Was vermögen die Erfahrungen der Nachbarländer zu lehren?
Eine spürbare Veränderung ihrer Lebensverhältnisse — so der schwedische Wahlforscher Hammar — habe sich mit der Gewährung des kommunalen Wahlrechts für die Einwanderer in Schweden nicht ergeben, woraus sich zum Teil auch die über die Jahre kontinuierlich gesunkene Wahlbeteiligung erkläre Dennoch gilt das Modell der schwedischen Einwandererpolitik im internationalen Vergleich weiterhin als vorbildlich. So liegt der eigentliche Wert der dargestellten Wahlrechtsreformen darin, daß sie die „stärker auf Akzeptanz verschiedener Ethnien und gegenseitigen Respekt ausgerichtete Ausländerpolitik“ konsequent weiterführen und damit deren Ernsthaftigkeit dokumentieren.
An diesem Befund kann die allerorten zutagetretende, relativ geringe Attraktivität des kommunalen Wahlrechts für die Reformadressaten nichts ändern. Die Annahme, daß sich die Wahlbeteiligung von Ausländem der der „einheimischen“ Bevölkerung annähern könnte, ist ohnehin unrealistisch. Dagegen spricht zunächst die mangelnde Vertrautheit vieler Einwanderer mit demokratischen Rechten in westlichen Demokratien. Zuberücksichtigen ist auch, daß sich unter den Einwanderern überproportional viele junge und unverheiratete Menschen befinden, die in allen Demokratien eine niedrigere Wahlbeteiligung aufweisen. Dasselbe gilt bekanntlich für die Erstwähler, und auch diese sind unter den ausländischen Stimmberechtigten aufgrund der „Wartezeiten“ auf das Wahlrecht zwangsläufig immer überdurchschnittlich vertreten. Ungewißheit über Zukunftspläne und eventuelle Remigrationsabsichten tun ein übriges, die Wahlbeteiligung zu senken.
Auf der anderen Seite finden die Befürchtungen deutscher Reformgegner, das kommunale Ausländerwahlrecht fördere eine „Radikalisierung“ der Kommunalpolitik, lade zur Gründung von Ausländerparteien bzw. -Wählergemeinschaften ein und eröffne die Gefahr der Übertragung heimischer Konfliktlinien auf die Bundesrepublik, in keinem der drei Beispielländer einen Beleg.
Verschiedentlich geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer zum Trotz handelt es sich hierbei in erster Linie wohl um eine politisch zu beantwortende Frage Wer sie — sei es aus „einwanderungspolitischen“ Erwägungen, sei es unter Berufung auf das grundgesetzliche Demokratiegebot — positiv beantwortet, sollte durch den Blick über die Grenzen allerdings gelernt haben, daß eine Wahlrechtsreform allein die integrationspolitischen Probleme nicht zu lösen vermag. Bereits bestehende Partizipationsmöglichkeiten wie die Ausländerbeiräte könnten in ihrer Wirksamkeit eventuell erhöht werden — obsolet würden sie durch ein Ausländerwahlrecht keineswegs Die Charakterisierung der niederländischen Erfahrungen durch den Sozialwissenschaftler Han Entzinger trifft auch auf Skandinavien zu: „Das Ausländer-wahlrecht ist zwar ein unentbehrliches, aber sicherlich nicht das einzige Element einer umfassenden Integrationspolitik . . ,“ Ein kommunales Wahlrecht für ausländische Staatsbürger könnte in der Bundesrepublik vermittels der „symbolischen Kraft“, die in dieser Frage der Gesetzgebung zu-kommt eine „neue“ Ausländerpolitik, die den „Gastarbeitergedanken“ zugunsten der Einwandererperspektive endgültig aufzugeben hätte, nicht ersetzen, aber ergänzen und glaubwürdig machen.
Heinrich Pehle, Dr. phil., geb. 1952; Wiss. Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Kommunale Entscheidungsstrukturen in Schweden und Deutschland (Beiträge zur KommunalWissenschaft, Band 17), München 1985; Aufsätze zur Kommunal-, Ausländer-und Umweltpolitik.
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