Arbeitsmarktpolitik als Instrument der Beschäftigungspolitik
Ulrich van Suntum
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Zusammenfassung
Trotz einer inzwischen ins siebte Jahr gehenden wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung stagniert die Arbeitslosenzahl in der Bundesrepublik auf hohem Niveau. Vor diesem Hintergrund haben Ansätze an Bedeutung gewonnen, welche die Arbeitslosigkeit mit Mißverhältnissen zwischen angebotener und nach-gefragter Arbeit hinsichtlich Qualifikation, Region, Alter etc. sowie mit sog. Hysteresis-Effekten aufgrund langanhaltender Beschäftigungslosigkeit erklären. Wirtschaftspolitisch hat sich dies in einem verstärkten Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen niedergeschlagen. Der bisherige Erfolg dieser Maßnahmen läßt allerdings Zurückhaltung gegenüber einem Einsatz dieser Instrumente geraten erscheinen. Ein nachhaltiger Erfolg im Hinblick auf das globale Beschäftigungsproblem ist nicht nachweisbar, und die Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt haben nur vergleichsweise wenig von den Maßnahmen profitiert. Zudem ist es zu erheblichen Mitnahmeeffekten gekommen, und negative Effekte auf die Zahl der regulär angebotenen Arbeitsplätze können zumindest nicht ausgeschlossen werden. Auch die zugrundeliegende Arbeitsmarktdiagnose ist nicht unumstritten. Zahlreiche empirische Untersuchungen legen die Vermutung nahe, daß das Beschäftigungsproblem in der Bundesrepublik nicht zuletzt durch zu hohe Löhne und Lohnnebenkosten entstanden ist. Die gesunkene Lohnquote steht hierzu nicht im Widerspruch, da sie — entgegen verbreiteter Auffassung — über das vollbeschäftigungskonforme Lohn-niveau ebensowenig aussagt wie die statistisch ausgewiesene Produktivität oder die Höhe der Lohnstückkosten. Mit der Kompensation einer fehlgeleiteten Tarifpolitik ist die Arbeitsmarktpolitik aber überfordert.
I. Unbefriedigende Beschäftigungsentwicklung
Die 1983 einsetzende wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in der Bundesrepublik dauert nunmehr bereits seit sieben Jahren an; legt man die Konjunkturdiagnose des Sachverständigenrates zugrunde, so ist seitdem der Auslastungsgrad des Produktionspotentials von 93 Prozent kontinuierlich gestiegen und lag 1988 — erstmals seit 1980 — sogar wieder geringfügig über dem vom Sachverständigenrat zugrundegelegten Normalauslastungsgrad von 96, 5 Prozent Auch andere Kennziffern verdeutlichen die günstige konjunkturelle Situation: Die Gewinn-Erlös-Relation der Unternehmen — eine Art gesamtwirtschaftliche Umsatzrendite, die der Sachverständigenrat 1987 als neues Diagnoseinstrument eingeführt hat — hat sich 1988 im siebten Jahr hintereinander verbessert und inzwischen mit 6, 3 Prozent den höchsten Stand seit 1970 Prozent den höchsten Stand seit 1970 erreicht 2). Das in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ausgewiesene Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen ist seit 1982 kontimuierlich schneller gestiegen als das Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit; nach den vorläufigen Sozialproduktsberechnungen des Statistischen Bundesamtes allein im Jahr 1988 um zehn Prozent (gegenüber knapp vier Prozent bei den Lohneinkommen). An diesem Befund ändert sich auch dann grundsätzlich nichts, wenn man das reine Gewinneinkommen berechnet, d. h. ohne Einbeziehung der Vermögenseinkommen von Staat und privaten Haushalten und unter Herausrechnung eines kalkulatorischen Untemehmerlohnes, wie es der Sachverständigenrat 1987 getan hat 3).
Alle einschlägigen Kennziffern weisen mit anderen Worten darauf hin, daß Kapazitätsauslastung und Gewinnentwicklung der Unternehmen derzeit so gut wie seit langem nicht mehr sind; die Arbeitslosigkeit verharrt indessen seit 1983 auf dem hohen Niveau von etwa 2, 25 Mio. Beschäftigungslosen bzw. einer Quote von neun Prozent im Jahres-durchschnitt,und ausweislich der vorliegenden Prognosen wird sich daran auch 1989 nichts wesentliches ändern.
Dieser Befund ist verwirrend, denn er legt die Schlußfolgerung nahe, daß gängige Erklärungsmuster für die Ursachen der Arbeitslosigkeit und die ihnen entsprechenden wirtschaftspolitischen Strategien nicht mehr greifen.
Die angebotsorientierte Strategie, die vom Sachverständigenrat Mitte der siebziger Jahre konzipiert wurde und die inzwischen zumindest ansatzweise auch Eingang in die praktische Wirtschaftspolitik gefunden hat, setzt auf die Verbesserung der Investitionsbedingungen, um auf diese Weise zusätzliehe Arbeitsplätze im privaten Sektor zu schaffen. Offensichtlich hat dies bisher nicht zureichend funktioniert: Es sind zwar vom Tiefpunkt der Beschäftigung Ende 1983 bis Ende 1988 insgesamt gut 900 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden 40 Prozent davon jedoch im Sektor Staat/private Haushalte, also in einem Bereich, dessen Ausweitung nicht unbedingt zu den vorrangigen Zielen der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gehört. Vor allem aber wurde der Zuwachs bei den Arbeitsplätzen praktisch kompensiert durch eine etwa gleich starke Zunahme der Zahl der Arbeitsuchenden, bedingt durch den Eintritt geburtenstarker Jahrgänge in den Arbeitsmarkt, durch die zunehmende Erwerbsquote der Frauen und neuerdings auch durch die Zuwanderung von Aussiedlern und Asylanten. Das Ziel eines Ausgleichs zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage ist daher in den vergangenen sechs Jahren trotz kontinuierlicher Verbesserung der Angebotsbedingungen kaum nähergerückt.
Aber auch nachfrageorientierte Strategien können derzeit offenbar nicht weiterhelfen. Der inzwischen wieder recht hohe Auslastungsgrad des Produktionspotentials läßt es zweifelhaft erscheinen, daß die Ursachen der Arbeitslosigkeit in mangelnder Nachfrage liegen; vielmehr ist zu befürchten, daß entsprechende Stimulierungsmaßnahmen den bereits zu beobachtenden Anstieg der Inflationsrate beschleunigen würden, zumal für die Finanzierung entsprechender Preissteigerungen ein erheblicher Geldmengenüberhang bereitsteht. Auch der kräftige Anstieg der Einfuhren'von durchschnittlich 4, 8 Prozent in realer Rechnung (bzw. 3 Prozent nominal) seit 1983 deutet nicht auf einen Mangel an Nachfrage in der Bundesrepublik hin. Somit läßt sich die Forderung, der Staat müsse durch vermehrte eigene Ausgaben fehlende private Nachfrage ersetzen, derzeit kaum begründen: Entsprechende Ausgabenprogramme dürften lediglich bewirken, daß private Kaufkraft zurückgedrängt wird (etwa im Falle einer Steuerfinanzierung) oder daß die Preise steigen (falls es zur Aktivierung des Geldmengenüberhangs kommt); schlimmstenfalls würde beides geschehen.
Das augenscheinliche Versagen herkömmlicher Rezepturen zur Bewältigung des Beschäftigungsproblems ist nicht ohne Rückwirkungen auf Politik und Wissenschaft geblieben. Dabei hat inzwischen eine — in zweifacher Hinsicht — differenziertere Betrachtungsweise des Arbeitsmarktes an Gewicht gewonnen.
Zum einen werden zunehmend Teilsegmente des Arbeitsmarktes in den Blickpunkt gerückt, geghedert insbesondere nach Regionen und Sektoren sowie nach Alter, Ausbildung und Geschlecht der Betroffenen. Die tief gegliederte Arbeitsmarktstatistik der Bundesanstalt für Arbeit bietet hierfür eine gute Grundlage. Dabei stellt man in der Tat erhebliche Disparitäten fest; so war z. B. 1988 die Arbeitslosenquote in den Arbeitsamtsbezirken Nordrhein-Westfalens mit 11, 1 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Baden-Württemberg 1 Prozent). Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Die Arbeitslosenquote der Frauen war 1986 im Bundesdurchschnitt mit 10, 7 Prozent deutlich höher als die der Männer (7, 4 Prozent), wie Abbildung 1 aufweist 5). Noch größere Disparitäten ergeben sich bei der Betrachtung unterschiedlicher Qualifikationen und Altersgruppen (Abbildung 2). Angesichts dieser Unterschiede liegt es nahe, zumindest einen Teil der Arbeitslosenzahl mit dem Vorliegen sogenannter friktioneller Arbeitslosigkeit (mismatch) zu erklären: Es wird zwar Arbeit angeboten, aber nicht am richtigen Ort, im richtigen Sektor und für die richtige Zielgruppe.
Zum anderen gewinnen dynamische Arbeitsmarkt-modelle an Bedeutung, in denen das Erreichen eines Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage nicht nur von Parametern der Gegenwart (augenblickliche Gewinnsituation, Höhe der Lohnkosten etc.) und auch nicht nur von entsprechenden Zukunftserwartungen, sondern zusätzlich von der Entwicklung dieser und anderer Variablen in der Vergangenheit abhängt. Dabei können sogenannte Hysteresis-Effekte auftreten, wenn es — z. B. infolge eines Ölpreisschocks — zur Freisetzung von Arbeitskräften kommt, welche daraufhin längere Zeit arbeitslos bleiben und den Anschluß an die Berufswelt hinsichtlich Qualifikation oder auch Motivation verlieren Sie werden auch dann kaum vermittelbar bleiben, wenn die Ölpreise wieder auf ihr altes Niveau sinken. Als Hinweis auf das tatsächliche Vorhandensein solcher Hysteresis-Effekte wird vielfach der hohe Anteil von soge-nannten Langzeitarbeitslosen interpretiert, also von solchen Arbeitslosen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung bleiben. Er stieg von knapp 18 Prozent im Jahre 1982 auf knapp 32 Prozent im Jahre 1987. Inzwischen wird er von der Bundesanstalt für Arbeit mit einem Drittel angegeben, davon die Hälfte mit einer Arbeitslosendauer von mehr als zwei Jahren
II. Wachsende Bedeutung der Arbeitsmarktpolitik
Abbildung 7
Abbildung 2: Ausbildungsspezifische Arbeitslosenquoten . Quelle für Grundzahlen: Bundesanstalt für Arbeit.
Abbildung 2: Ausbildungsspezifische Arbeitslosenquoten . Quelle für Grundzahlen: Bundesanstalt für Arbeit.
Mit dem Wandel in den Erklärungsansätzen der Arbeitslosigkeit ging auch ein Wandel hinsichtlich der Therapievorschläge einher; in den Vordergrund des Interesses ist vor allem die Arbeitsmarktpolitik getreten. Hierunter ist nach üblichem Sprachgebrauch derjenige Teil der Beschäftigungspolitik zu verstehen, welcher nicht bei der Verbesserung allgemeiner Rahmenbedingungen ansetzt, sondern mit Hilfe direkter Instrumente wie Arbeitsbeschaffungs-oder Qualifizierungsmaßnahmen, Lohnzuschüssen, Moilitätshilfen etc. in den Arbeitsmarkt eingreift Gesetzliche Grundlage der Arbeits. marktpolitik ist in der Bundesrepublik in erster Linie das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) vom 25. Juni 1969, dessen neunte Novelle am 1. Januar 1989 in Kraft trat Die Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen erfolgt vorwiegend aus dem Etat der Bundesanstalt für Arbeit (BA), die auch mit der Durchführung betraut ist. Der Bundesanstalt steht dabei neben den Arbeitsämtern und ihren Nebenstellen mit dem Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) auch eine eigene wissenschaftliche Forschungsstelle zur Verfügung.
Klammert man die Zahlung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Konkursausfallgeld (sogen, passive Arbeitsmarktpolitik) einmal aus, so umfaßt die aktive Arbeitsmarktpolitik der BA insbesondere folgende Leistungen und Maßnahmen — Unterstützungszahlungen für Arbeitnehmer und Unternehmen zur Überbrückung von saisonal oder konjunkturell bedingten Produktionsausfällen (insbes. Schlechtwettergeld, Kurzarbeitergeld, produktive Winterbauförderung); — Förderung der beruflichen Weiterbildung, Umschulung und beruflichen Rehabilitation durch Übernahme der Kosten sowie eventuelle Zahlung eines Unterhaltsgeldes oder Gewährung entsprechender Darlehen; — Zahlung von Lohnkostenzuschüssen oder entsprechenden Darlehen zwecks Beschäftigung von Arbeitslosen in der Privatwirtschaft (Eingliederungsbeihilfen) oder bei öffentlichen oder gemeinnützigen Arbeitgebern (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ABM). ,
Die Gesamtausgaben der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik betrugen 1988 knapp 49 Mrd. DM oder 2, 3 Prozent des Bruttosozialprodukts; 1970 hatte dieser Anteil noch 0, 6 Prozent betragen. Gut ein Drittel der Gesamtausgaben entfällt dabei auf die aktive Arbeitsmarktpolitik daß dieser Anteil niedriger ist als Anfang der siebziger Jahre (damals betrug er noch über 50 Prozent), kann kaum überraschen, da aufgrund der inzwischen stark gestiegenen Arbeitslosigkeit die passiven Unterstützungszahlungen naturgemäß stark gestiegen sind. Der Anteil der Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik am Bruttosozialprodukt ist gleichwohl zwischen 1965 und 1988 von 0, 15 Prozent auf 0, 8 Prozent gestiegen Der größte Einzelposten war 1988 mit 7 Mrd. DM die Förderung der beruflichen Bildung, gefolgt von ABM (3, 7 Mrd. DM) und beruflicher Rehabilitation (2, 8 Mrd. DM); bis Anfang der siebziger Jahre hatten dagegen noch die Maßnahmen zum Ausgleich saisonaler Schwankungen den weitaus größten Anteil an den Ausgaben der aktiven Arbeitsmarktpolitik gehabt. Insbesondere durch die 1986 gestartete sogenannte Qualifizierungsoffensive haben die ausbildungsbezogenen Maßnahmen im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik an Gewicht gewonnen.
III. Erfolg mit vielen Fragezeichen
Abbildung 8
Tabelle: Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1965— 1988 (Mrd. DM) .Quelle: für Zahlen bis 1986: G. Schmidt (Anm. 10), S. 26;
Tabelle: Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1965— 1988 (Mrd. DM) .Quelle: für Zahlen bis 1986: G. Schmidt (Anm. 10), S. 26;
Wie erfolgreich ist die Arbeitsmarktpolitik gewesen? Hier gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen dem Erfolg für den einzelnen, der etwa aufgrund einer Umschulung einen neuen Arbeitsplatz findet, und dem gesamtwirtschaftlichen Erfolg in Form einer Schaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen. Letzteres wird nur dann erreicht, wenn der Umgeschulte einen Arbeitsplatz besetzt, der sonst nicht hätte besetzt werden können; andernfalls verdrängt er lediglich andere — wenngleich möglicherweise weniger geeignete — Bewerber um diesen Arbeitsplatz. Ein gesamtwirtschaftlich relevanter Beschäftigungseffekt der Qualifizierungspolitik setzt m. a. W. voraus, daß es trotz der 2, 3 Mio. Arbeitslosen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt in Form eines Mangels an geeigneten Arbeitskräften gibt. Dafür spricht, daß es immer wieder zu entsprechenden Klagen der Unternehmen kommt, wenngleich sich diese Klagen auch auf Schwierigkeiten bei der Besetzung gering qualifizierter Stellen beziehen. Dagegen spricht, daß es 1987 gut eine Million Arbeitslose mit abgeschlossener Berufsausbildung gab, darunter 362 000 Facharbeiter und 442 000 Angestellte mit gehobener Tätigkeit Nur wenn davon auszugehen wäre, daß diese zum großen Teil fehlqualifiziert sind, könnte eine Qualifizierungsoffensive ein auch gesamtwirtschaftlich erfolgversprechender Ansatz sein.
Daß Umschulungs-und Weiterbildungsmaßnahmen die Chancen des einzelnen Arbeitslosen erhöhen, wieder eine Beschäftigung zu finden, ist durch zahlreiche Untersuchungen belegt worden. Überwältigend sind die Ergebnisse allerdings nicht. So waren von denjenigen Arbeitslosen, die im Jahre 1982 eine Weiterbildungsmaßnahme im Vollzeitunterricht beendet (und danach keine weitere begonnen) hatten, zwei Jahre später nur 56 Prozent wieder sozialversicherungspflichtig beschäftigt; 19 Prozent waren weiterhin (oder wieder) Leistungsempfänger, für 25 Prozent gab es keinen Nachweis Deutlich höher war die Erfolgsquote mit 81 Prozent bei denjenigen Teilnehmern, die vorher nicht arbeitslos gewesen waren; sie stellten übrigens mit 47 Prozent fast die Hälfte aller Teilnehmer. In der Gruppe der vorher Arbeitslosen waren jeweils diejenigen am erfolgreichsten, die bereits über eine vergleichsweise gute Ausbildung verfügten, und diejenigen, die relativ jung waren. Wenngleich inzwischen — u. a. durch die jüngste Novellierung des AFG — eine stärkere Konzentration der Maßnahmen auf die Arbeitslosen in die Wege geleitet worden ist, wird man sagen müssen, daß letztere — und speziell auch die Problemgruppen unter ihnen — bisher nur relativ wenig von den Weiterbildungsmaßnahmen profitiert haben. Dies wird auch dadurch belegt, daß Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung 1986 und 1987 nur etwa 26 Prozent der Teilnehmer an beruflicher Weiterbildung stellten, obwohl ihr Anteil an den Arbeitslosen fast 50 Prozent beträgt das Geld ist mithin zum großen Teil dem beruflichen Weiterkommen von weniger Bedürftigen zugute gekommen.
Die Erfolgsquote von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in dem Sinne, daß die Teilnehmer über kurz oder lang danach in normale Beschäftigungsverhältnisse eingegliedert werden, wird auf knapp 50 Prozent geschätzt Das ist relativ günstig im Vergleich zu den oben genannten Zahlen, da ja der Zweck von ABM weniger die Vermittlung einer höheren Qualifikation ist als vielmehr die Verhinderung eines Abgleitens in den Status der Unvermittelbarkeit aufgrund von Motivationsverlust, sozialer Ausgrenzung oder gar Sucht oder Kriminalität. Nach vorliegenden Untersuchungen ist allerdings auch bei diesem Instrument der Arbeitsmarktpolitik der Anteil der Langzeitarbeitslosen vergleichsweise gering
Schwerer wiegt jedoch, daß erhebliche Mitnahme-und Substitutionseffekte vermutet werden in dem Sinne, daß die betreffenden (insbesondere öffentlichen) Arbeitgeber die mit diesen Maßnahmen verbundenen Lohnkostenzuschüsse von bis zu 100 Prozent zur Bewältigung von Arbeiten nutzen, für die sie ansonsten „normale“ Beschäftigte einstellen müßten und auch würden. Für die betroffenen Arbeitnehmer bestehen ebenfalls gewisse Mißbrauchsanreize, da sie nach Beendigung der Maßnahme wieder Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, selbst wenn sie vorher bereits auf die nied-rigere und zudem an Bedürftigkeitskriterien geknüpfte Arbeitslosenhilfe verwiesen waren.
Dieses Instrument der Arbeitsmarktpolitik ist daher mit Vorbehalten zu betrachten, selbst wenn die — nicht unumstrittenen — Rechnungen zutreffen sollten, wonach sie sich durch Einsparungen bei der Arbeitslosenunterstützung und durch vermehrte Steuer-und Abgabeneinnahmen weitgehend selbst finanzieren: Es kann nicht der Sinn der Arbeitsmarktpolitik sein, reguläre öffentliche oder private Aufgaben aus den Beiträgen der Arbeitslosenversicherung zu finanzieren, zumal wenn damit die Anreize zum Abschluß normal finanzierter Arbeitsverträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer vermindert werden.
Noch wesentlich ungünstiger fällt die Beurteilung der Lohnsubventionen in Form von Eingliederungsbeihilfen für Arbeitsplätze im Unternehmens-sektor aus. Entsprechende Wirkungsanalysen für den Zeitraum Ende der siebziger Jahre weisen auf sehr hohe Mitnahme-und Substitutionseffekte hin mit der Folge, daß praktisch kein positiver gesamtwirtschaftlicher Beschäftigungseffekt und nur bescheidene Verbesserungen für die Problemgruppen am Arbeitsmarkt entstanden Erhebliche Mitnahmeeffekte bis hin zum ausgesprochenen Mißbrauch wurden auch für die Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld beobachtet; insbesondere die Verlängerung der maximalen Bezugsdauer auf zwei Jahre (bzw. sogar auf drei Jahre für besonders not-leidende Branchen) hat das Kurzarbeitergeld in bedenkliche Nähe zu langfristigen Erhaltungssubventionen rücken lassen
Angesichts dieses empirischen Befundes der bisherigen Arbeitsmarktpolitik müssen die offiziellen Erfolgsausweise des IAB mit deutlichen Fragezeichen versehen werden; danach sind in den Jahren 1984 bis 1987 aufgrund von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zwischen 365 000 und 504 000 Personen zusätzlich beschäftigt worden, bei weitgehender Selbstfinanzierung der Maßnahmen im oben erläuterten Sinne -Offen bleibt dabei, wieviele zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse auch ohne die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen entstanden wären und wieviele normale Arbeitsverhältnisse durch Kurzarbeitergeld, ABM etc. verhindert wurden. Eher irreführend ist der Hinweis auf den hohen Selbstfinanzierungsgrad: Für jede Art von zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätzen gilt, daß sie die öffentlichen Leistungsträger entlasten und zu Mehreinnahmen von Steuern und Sozialabgaben führen, letzteres in um so höherem Ausmaß, je produktiver sie sind. Daher dürfte die Schaffung von privatwirtschaftlich rentablen Arbeitsplätzen im allgemeinen einen höheren Selbstfinanzierungsgrad aufweisen als z. B. die Schaffung von ABM-Arbeitsplätzen, welche erst durch hohe Lohnsubventionen für den betreffenden Arbeitgeber interessant werden.
Problematisch sind auch die Qualifizierungsmaßnahmen im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik, und zwar nicht nur wegen der zumindest zweifelhaften Wirkung im Hinblick auf eine Erhöhung der Gesamtbeschäftigung. Es ist grundsätzlich zu fragen, inwieweit es Aufgabe der Arbeitslosenversicherung sein kann, entsprechende Versäumnisse der Unternehmen oder des einzelnen zu kompensieren bzw. bildungspolitische Fehlleistungen des Staates auszugleichen. Hierin liegt zum einen eine Diskriminierung derjenigen, die eigene Qualifikationsanstrengungen unternommen haben oder deren Qualifikationswünsche in eine Richtung gehen, welche in den Förderrichtlinien der BA nicht vorgesehen sind; vor allem aber dürfte berufliche Weiterqualifikation um so effektiver und erfolgreicher betrieben werden, je mehr sie auf eigener Initiative der Betroffenen beruht und je größer der Druck ist, die hierin investierten Ressourcen später am Markt wieder zu erwirtschaften; nicht umsonst ist dies das Prinzip, auf welchem unsere Wirtschaftsordnung aufgebaut ist. Zumindest die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung von solchen Personen, die sich bereits in einem Beschäftigungsverhältnis befinden, erscheint unter diesem Gesichtspunkt bei den Tarifpartnern besser aufgehoben als beim Staat; die entsprechende Kurskorrektur der 9. Novelle zum AFG war überfällig. Wenn es zudem zutrifft, daß in bestimmten Berufszweigen Arbeitskräftemangel trotz insgesamt hoher Arbeitslosigkeit herrscht, so müßten starke Anreize in der Wirtschaft zur eigenen Ausbildung von Arbeitslosen und Berufsanfängern bestehen. Gegen eventuellen Mißbrauch entsprechender Ausbildungsinvestitionen kann man sich durch Sperrfristen für einen Wechsel des Arbeitsplatzes nach erfolgter Weiterbildung schützen, wie dies auch praktiziert wird.
Die bisherige Arbeitsmarktpolitik hat die Problem-gruppen unter den Arbeitslosen nur teilweise erreicht. Die Erfahrungen in dieser Hinsicht sind desillusionierend: Gerade die schwervermittelbaren Arbeitslosen, insbesondere diejenigen ohne Berufsausbildung, zeigen eine vergleichsweise geringe Motivation zur Inanspruchnahme der arbeitsmarkt-politischen Instrumente, und im Falle der Inanspruchnahme sind ihre Erfolgsquoten im Sinne der späteren Beschäftigung in einem normalen Arbeitsverhältnis vergleichsweise gering Daraus ergibt sich das Dilemma, daß die eigentlich wünschenswerte Konzentration der Mittel auf diese Problem-gruppen die ohnehin nicht sehr hohen Erfolgsquoten der Arbeitsmarktpolitik weiter senken würde. Diese Überlegungen lassen es zweifelhaft erscheinen, daß von einem verstärkten Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente ein nennenswerter Beitrag zur Bewältigung des Beschäftigungsproblems erwartet werden könnte. Eher legen die bisherigen Erfahrungen eine wesentliche Straffung der Instrumente und eine deutlich verbesserte Erfolgs-kontrolle hinsichtlich eventueller Mitnahme-und Substitutionseffekte nahe. Zu prüfen ist aber auch, inwieweit die der Arbeitsmarktpolitik zugrundeliegende Diagnose des Beschäftigungsproblems grundsätzlich überhaupt zutreffend ist.
IV. Problematische Interpretation der Statistik
Abbildung 9
Abbildung 3: Beveridge-Kurve 1977— 1987 (Relation der Arbeitslosenquote und der Quote offener Stellen) .Quoten jeweils berechnet als Anteil an den abhängigen Erwerbspersonen (beschäftigte Arbeitnehmer + Arbeitslose). Eigene Berechnungen, Quelle für Grundzahlen: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1988/89, Tab. 18 im Anhang.
Abbildung 3: Beveridge-Kurve 1977— 1987 (Relation der Arbeitslosenquote und der Quote offener Stellen) .Quoten jeweils berechnet als Anteil an den abhängigen Erwerbspersonen (beschäftigte Arbeitnehmer + Arbeitslose). Eigene Berechnungen, Quelle für Grundzahlen: Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1988/89, Tab. 18 im Anhang.
Es kommt nicht von ungefähr, daß der Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente vor allem von denen befürwortet wird, die sich besonders intensiv mit der empirischen Analyse des Beschäftigungsproblems befassen. Denn je tiefer man in diese Analyse einsteigt, desto differenzierter wird das Bild und desto näher liegt somit prima facie der Einsatz differenzierter Instrumente, wie sie die Arbeitsmarktpolitik anbietet. Ungleiche und auch wechselnde Beschäftigungschancen je nach Alter, Qualifikation, Wohnort etc. gehören indessen zum Wesen einer dynamischen Wirtschaft. Sie sind selbst bei Vollbeschäftigung vorhanden, wie sie bis Arifang der siebziger Jahre herrschte; jedoch wurden sie damals von der allgemeinen Übemachfrage nach Arbeitskräften überdeckt, während sie um so offener zutage traten, je mehr sich der Arbeitsmarkt zum Käufermarkt wandelte. So gesehen wäre die Diskrepanz zwischen der Struktur der angebotenen und der Struktur der nachgefragten Arbeitskräfte möglicherweise nicht die Ursache, sondern nur ein Symptom der insgesamt hohen Arbeitslosigkeit — welche ihrerseits durch andere, gegebenenfalls nur wenige zentrale Fehlentwicklungen zu erklären wäre Es ist einleuchtend, daß in diesem Fall die Arbeitsmarktpolitik als Ursachentherapie schon im Ansatz verfehlt wäre.
Haben wir Grund zu der Annahme, daß diese Sichtweise des Problems zutreffend ist? Das ist in der Tat der Fall. Zunächst fällt auf, daß die Zahl der offenen Stellen wesentlich geringer ist als die Zahl der Arbeitslosen; im Jahresdurchschnitt 1987 betrug sie 171 000 bei 2, 23 Millionen Arbeitslosen. Wären Fehlqualifikationen, Mobilitätshemmnisse etc. tatsächlich ein maßgeblicher Grund für die hohe Arbeitslosigkeit, so wäre eine wesentlich höhere Zahl von offenen Stellen zu erwarten, wenngleich dabei zu berücksichtigen ist, daß für offene Stellen keine Meldepflicht beim Arbeitsamt besteht und daß ihre tatsächliche Zahl daher deutlich höher Hegen dürfte, als es in den offiziellen Statistiken ausgewiesen wird
Aussagekräftiger ist deshalb ein Vergleich von Arbeitslosenquote und der Quote offener Stellen im Zeitverlauf, wie er üblicherweise mit dem Instrument der Beveridge-Kurve angestellt wird (vgl. Abbildung 3). Für den vergangenen Zehnjahreszeitraum lassen sich daraus folgende Überlegungen ableiten — Der gesamte Zeitraum war durch eine wesentlich unter der Arbeitslosenquote Hegende Quote ausgewiesener offener Stellen gekennzeichnet. — Die Beveridge-Kurve hat sich tendenziell etwas nach außen verschoben; so lag in der zweiten Hälfte der achtzigerJahre die Quote der offenen Stellen in der gleichen Größenordnung wie Anfang der achtziger Jahre, war aber mit einer höheren Arbeitslosenquote verbunden. Dies könnte auf eine steigende Bedeutung der Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit hindeuten. — Die Quote der offenen Stellen lag aber auch 1987 noch wesentlich unter den Werten bis 1981; dies spricht gegen die These, ein wesentlicher Teil der Arbeitslosigkeit sei durch solche Diskrepanzen zu erklären und könne durch entsprechende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen beseitigt werden.
Aufschlußreich ist ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepu-blik. Ähnlich wie in fast allen großen Industrieländern entwickelte sie sich in zwei großen Schüben jeweils zur Mitte der siebziger Jahre und Zu Beginn der achtziger Jahre: Zwischen 1973 und 1975 vervierfachte sich die Zahl der Arbeitslosen in .der Bundesrepublik und überschritt 1975 im Jahres-durchschnitt erstmals seit 1954 wieder die Millionengrenze. In den Jahren 1981 bis 1983 kam es nach vorübergehender leichter Besserung dann zu dem zweiten Schub, der die Zahl der Arbeitslosen auf etwa 2, 3 Millionen steigen Heß, wo sie bis heute verharrt.
Dieses zeitliche Profil läßt die These einer Multi-kausalität des Beschäftigungsproblems im Sinne der Summierung von zahlreichen, prinzipiell voneinander trennbaren Einzelursachen wenig plausibel erscheinen. Vielmehr hat es offenkundig zentrale Fehlentwicklungen gegeben, die den sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenzahl nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in allen wichtigen Industriestaaten verursacht haben. Es fällt nicht schwer, solche Fehlentwicklungen auszumachen Sie lagen zum einen in den beiden Ölkrisen Anfang der siebziger Jahre und Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre, welche zu einer schockartigen Verteuerung wichtiger Rohstoffe und zu einer massiven Umverteilung des inländischen Verteilungsspielraums zugunsten der erdölproduzierenden Länder führten. Zum anderen war dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in beiden Zeitphasen jeweils ein starker Anstieg der Inflationsrate vorausgegangen, dem die Notenbanken — speziell auch die Bundesbank — durch geldpolitischen Restriktionskurs mit der Folge hoher Zinsen und einer weiteren Verringerung des (nominalen) Verteilungsspielraums entgegenzuwirken versuchten. Dies ging in beiden Phasen zu Lasten der Unternehmensgewinne: Die Gewinn-Erlös-Relation erreichte 1975 einen ersten Tiefpunkt mit 3, 65 Prozent, was gegenüber 1968 beinahe eine Halbierung bedeutete, und sie sank — nach vorübergehender Erholung — in den Jahren 1981/82 auf Werte von nur noch knapp über drei Prozent
V. Die Rolle der Tarifpolitik
Abbildung 10
Index der tariflichen Stundenlöhne der Arbeiter in der gewerblichen Wirtschaft und bei Gebietskörperschaften. Deflationiert mit dem Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte.
Eigene Berechnungen, Quelle für Grundzahlen: Statistisches Bundesamt.
Index der tariflichen Stundenlöhne der Arbeiter in der gewerblichen Wirtschaft und bei Gebietskörperschaften. Deflationiert mit dem Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte.
Eigene Berechnungen, Quelle für Grundzahlen: Statistisches Bundesamt.
Vor allem in den siebziger Jahren wird man der Tarifpolitik einen maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung zurechnen müssen. So stiegen die tariflichen Stundenlöhne für Arbeiter real — d. h. bereinigt um den Anstieg der Lebenshaltungskosten — noch in den Jahren 1972— 1974 um jeweils durchschnittlich 3, 7 Prozent, trotz des inzwischen eingetretenen Beschäftigungseinbruchs und trotz der Tatsache, daß sie bereits in den beiden Jahren zuvor reale Steigerungsraten von 9, 3 bzw. 8, 2 Prozent erreicht hatten (Abbildung 4). Auch in den folgenden Jahren setzten die Gewerkschaften ungeachtet der schlechten Arbeitsmarktlage kontinuierlich weitere Reallohnsteigerungen durch. Dagegen war der neuerliche Beschäftigungseinbruch Anfang der achtziger Jahre von einer fünfjährigen Reallohnpause begleitet; sie wurde mit der rückläufigen Inflationsrate und der sich bessernden Konjunkturjedoch bereits 1985 wieder beendet, obwohl der inzwischen (seit 1983) eingetretene Beschäftigungsanstieg noch keineswegs kräftig genug war, um die Arbeitslosigkeit nennenswert zu reduzieren.
Ist also mangelnde Rücksichtnahme der Tarifpolitik auf enger werdende Verteilungsspielräume in der Vergangenheit und daraus resultierend ein zu hohes Reallohnniveau in der Gegenwart die eigentliche Ursache des Beschäftigungsproblems? Es gibt eine Reihe von empirischen Untersuchungen, welche diese These für die Bundesrepublik stützen Auch aus der Sicht der ökonomischen Theorie hegt sie nahe, denn wenn weder Nachfragemangel herrscht noch eine insgesamt unbefriedigende Gewinnentwicklung diagnostiziert werden kann, dann bietet sich als Erklärung für die mangelnde Räumung des Arbeitsmarktes prima facie ein zu hoher Preis der Arbeit an. Dabei sind keineswegs nur die direkten Lohnkosten relevant, sondern vor allem auch die Lohnnebenkosten, welche inzwischen im Schnitt fast 84 Prozent der direkten Lohnkosten ausmachen, und nicht zuletzt auch die indirekten Kosten, die den Unternehmen durch Regulierungen des Arbeitsmarktes (Kündigungsschutz, Sozialplanverpflichtungen, Quotenregelungen etc.) entstehen. Daß die Unternehmen derzeit gut verdienen, steht zu der zurückhaltenden Einstellungspra-xis nicht unbedingt im Widerspruch, denn Mehr-produktion und entsprechende Gewinne lassen sich auch durch den Mehreinsatz anderer Produktionsfaktoren — Kapital und Vorleistungen aus dem Ausland — realisieren; tatsächlich zeigt eine nähere Analyse der Gewinn-Erlös-Relation, daß ihre Verbesserung in den letzten Jahren im wesentlichen auf die Verbilligung dieser Produktionsfaktoren, weniger auf eine Verbilligung des Faktors Arbeit zurückging
Vielfach wird die Auffassung vertreten, Reallohn-steigerungen seien solange im großen und ganzen vertretbar, wie sie sich etwa im Rahmen des Produktivitätsfortschritts halten. Die dahinterstehende Idee der produktivitätsorientierten — bzw. kostenniveauneutralen — Lohnpolitik wurde in der Bundesrepublik vor allem vom Sachverständigenrat vertreten In der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion wurden jedoch schon frühzeitig gewichtige Einwände gegen dieses Konzept erhoben, und bis heute ist seine theoretische Fundierung als Leitlinie für eine vollbeschäftigungskonforme Lohn-politik nicht geleistet worden Eine nähere Beschäftigung mit dem Konzept weckt vielmehr den Verdacht, daß es sich bei seiner Propagierung um den vielleicht verhängnisvollsten Fehler der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung in der Geschichte der Bundesrepublik handeln könnte.
Die Problematik dieses Konzepts in bezug auf seine beschäftigungspolitischen Implikationen liegt zum einen darin, daß keineswegs der gesamte, statistisch gemessene Produktivitätszuwachs als technischer Fortschritt interpretiert werden kann. Die Arbeitsproduktivität steigt z. B. auch dann, wenn der Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz gesteigert wird, was in der Vergangenheit in starkem Ausmaß der Fall war Dadurch entstehen aber zusätzliche Abschreibungs-und Verzinsungskosten, welche zunächst einmal abgegolten werden müssen; die Annahme, der dann noch verbleibende Spielraum zur Erhöhung des vollbeschäftigungskonformen Lohn-Satzes entspreche gerade der Rate des rechnerischen Produktivitätszuwachses, erscheint a priori nicht gerechtfertigt.
Rein rechnerisch ergibt sich eine Steigerung der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität auch dann, wenn im Zuge eines allgemeinen Beschäftigungsrückgangs vor allem die weniger produktiven Arbeitsplätze abgebaut werden Der hohe Anteil der Arbeitslosen mit geringer Qualifikation und die jahrelang geübte Praxis, bei Tarifverhandlungen Sockelbeträge für die unteren Lohngruppen zu vereinbaren bzw. diese Lohngruppen ganz zu streichen — wodurch die Arbeitskosten für diese Tätigkeiten so'teuer wurden, daß sich gerade hier der Ersatz von Arbeit durch Kapital (Maschinen) lohnte —, sprechen dafür, daß dies in der Vergangenheit tatsächlich der Fall war. Auch in diesem Fall spiegelt der Produktivitätszuwachs keinen verteilbaren technischen Fortschritt wider, und selbst wenn die Lohnstückkosten konstant bleiben (weil die durchschnittliche Arbeitsproduktivität genau so stark steigt wie die durchschnittliche Entlohnung der im Arbeitsprozeß verbleibenden Arbeitnehmer), so bietet dies keinerlei Anreiz für die Wiederbeschäftigung der freigesetzten Arbeitskräfte.
Selbst dann, wenn der statistisch gemessene Produktivitätszuwachs tatsächlich auf technischen Fortschritt zurückgeht, kommt es entscheidend darauf an, ob es sich um primär arbeits-oder kapital-sparenden technischen Fortschritt handelt. Nur unter sehr speziellen Voraussetzungen entspricht die mögliche Steigerungsrate des vollbeschäftigungskonformen Lohnsatzes gerade der Steigerungsrate der Arbeitsproduktivität.
Die Pointe bei alledem ist, daß sowohl die Erhöhung der Kapitalintensität als auch der arbeitsparende technische Fortschritt selber wiederum von einer expansiven Lohnpolitik begünstigt wird. Diese schafft sich also ihre (scheinbare) Rechtfertigung quasi selbst, während umgekehrt eine zurückhaltende Lohnpolitik — wie sie etwa in den USA betrieben wurde — tendenziell auch die statistisch ausgewiesene Produktivität senkt, ohne daß dies in irgendeiner Weise auf technische Rückständigkeit der dortigen Unternehmen schließen Heße.
Das Konzept produktivitätsorientierter Lohnpolitik ist m. a. W. mit dem Risiko gravierender Fehlinterpretationen behaftet. Und die Folgen einer solcherart fehlgeleiteten Lohnpolitik lassen sich auch durch einen Kurswechsel wie in den frühen achtziger Jahren nicht ohne weiteres rückgängig machen. Es können Hysteresis-Effekte der Art auftreten, daß auch die Rückkehr zu dem „eigentlich“ vollbeschäftigungskonformen Lohnniveau nun nicht mehr ausreicht, um das Beschäftigungsproblem zu lösen, weil kapitalintensives Produzieren inzwischen billiger geworden ist.
VI. Schlußfolgerung
Die Bewertung der Arbeitsmarktpolitik hängt entscheidend davon ab, welche Ursachenanalyse des Beschäftigungsproblems man zugrundelegt. Die zuletzt diskutierte Argumentation ist noch kein Beweis dafür, daß die Ursache des Beschäftigungsproblems in zu hohen Löhnen Hegt. Aber sie bietet eine schlüssige Gegenthese zu den Erklärungen/welche die Befürworter einer forcierten Arbeitsmarktpolitik für die Ursachen des Beschäftigungsproblems heranziehen, während sie die Relevanz der Lohnhöhe überwiegend in Frage stellen. Weder die seit 1981 stark gesunkene Lohnquote noch die vergleichsweise moderate Steigerung der Lohnstückkosten in den achtziger Jahren sind ein hinreichender Beleg dafür, daß die Tarifpolitik ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung gerecht geworden ist, denn beide Kennziffern beruhen letztlich auf rein rechnerischen Produktivitätszuwächsen. Damit aber läuft die Arbeitsmarktpolitik Gefahr, für die Korrektur tarifpolitischer Fehlentwicklungen herhalten zu müssen. Es kann nicht sinnvoll sein, mit Hilfe von Lohnzuschüssen'ein zu teuer gewordenes Arbeitskräfteangebot künstlich zu verbilligen und bereits vorab verteilte Produktivitätszuwächse durch beitragsfinanzierte Qualifizierungsmaßnahmen quasi erst nachträglich zu rechtfertigen. Vor den verstärkten Einsatz arbeitsmarkt-politischer Instrumente hat daher neben der Erfolgskontrolle vergangener Maßnahmen eine überzeugende — und von politischer Rücksichtnahme freie — Ursachenanalyse des Beschäftigungsproblems zu treten.
Ulrich van Suntum, Dr. rer. oec., geb. 1954; von 1977 bis 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum; 1984 Habilitation; seit 1985 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum; 1987/88 Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; zur Zeit Vertretung des Lehrstuhls für wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Regionalpolitik in der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1981; (Hrsg. zus. mit V. Nienhaus) Grundlagen und Erneuerung der Marktwirtschaft, Baden-Baden 1988; Artikel zu Themen der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik sowie zur Dogmengeschichte.
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