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Die Wirkungen politischer Skandale | APuZ 7/1990 | bpb.de

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APuZ 7/1990 Artikel 1 Die Wirkungen politischer Skandale Verwaltungsskandale Zur Korruption in der öffentlichen Verwaltung Wie demokratisch ist unsere Verwaltung? Entwicklung der Politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland

Die Wirkungen politischer Skandale

Sighard Neckel

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Häufung politischer Skandale in den achtziger Jahren wirft die Frage nach ihren Wirkungen auf. Will man allerdings die Folgen politischer Skandale für das Institutionensystem und die Gesellschaft abschätzen, muß man zunächst die Ursachen von Skandalen in der Politik näher bestimmen. Der Beitrag schlägt vor, politische Skandale als öffentlich ausgetragene Konflikte um die Geltung von Normen zu verstehen, Als solche bedürfen Skandale gesellschaftlicher Voraussetzungen, von denen die drei wesentlichen genannt werden: Normbindung politischen Handelns, Machtkonkurrenz, Öffentlichkeit. Nach einer Darstellung dessen, was in der Politik demokratischer Gesellschaften typischerweise als Normverletzung und damit als potentiell skandalträchtig gelten kann, werden Gründe für die Zunahme politischer Skandale im letzten Jahrzehnt der Bundesrepublik genannt. Die Skandaldichte der heutigen Politik verdankt sich dem Umstand, daß gleichzeitig der Legitimationsbedarf staatlichen Handelns und die politische Machtkonkurrenz gewachsen sind. In diesem Zusammenhang sind die Wirkungen politischer Skandale dadurch bestimmt, Verstärker schon vorhandener Wandlungsprozesse zu sein. Skandale mobilisieren Werte innerhalb des Politikbereichs, holen politisches Handeln auf den Boden geltender Normen zurück oder bereiten ein neues Wertebewußtsein vor. Als Ausdruck veränderter normativer Erwartungen an die Politik stellen sie die politischen Institutionen unter Druck, den gesellschaftlichen Wandel in sich selbst nachzuvollziehen. Dabei hinkt die institutioneile Skandalverarbeitung der Gesellschaft hinterher. Skandale können daher auch als Krisenphänomene alter Legitimationsmuster, als Signale politischer Umbrüche verstanden werden.

Im Juli 1847 schrieb der junge Friedrich Engels in einem Artikel für die englische Chartistenzeitung „The Northern Star“, der er zu dieser Zeit regelmäßig über die französische Innenpolitik berichtete: „Die englische Bühne täte besser daran, , The School for Scandal‘ vom Spielplan abzusetzen, denn die größte Schule dieser Art ist tatsächlich in Paris, in der Kammer der Deputierten errichtet worden. Die Menge an skandalösem Tatsachenmaterial, das dort während der letzten vier oder fünf Wochen gesammelt und vorgebracht wurde, ist wahrlich in den Annalen parlamentarischer Diskussion ohne Beispiel . . . Hier geschehen Dinge, deren sich sogar die britischen Gauner schämen würden.“

Am Ende der französischen Julimonarchie saß Ministerpräsident Franfois Guizot einer Regierung vor, die — nach einem Wort Tocquevilles — einer korrupten Aktiengesellschaft gleichkam, die ihre Gläubiger bestach. Das Finanzbürgertum hatte die wichtigsten Regierungsämter besetzt und sorgte nun nach der Parole „Enrichissez-vous" (Bereichert euch!) für die Wohlfahrt der eigenen Klientel. Zu dieser Klientel gehörte auch ein einflußreicher Zeitungsverleger, der — obwohl selbst jahrelang für seine Unterstützung der Regierungspolitik gut honoriert — eine Skandalgeschichte nach der anderen gegen die Regierung lancierte, um Guizot für weitergehende Forderungen gefügig zu machen. Auch wurde eine Veränderung der Regierungspolitik verlangt, und Guizot lehnte dies ab. Die Zeitung „La Presse“ verbreitete daraufhin, am Ende einer langen Reihe von Bestechungen habe die Regierung die Würde eines Sitzes in der Kammer des Hoch-adels für 80 000 Franc verkauft, ohne sich aber an ihr Versprechen auch gehalten zu haben! All dies beriet nun die Deputiertenkammer, die sich in ihrer Mehrheit hinter Guizot stellte, ihn (und damit sich selbst) politisch amnestierte und „zur Tagesordnung überging“.

Für Engels stand außer Frage, daß Guizot die Skandale letztlich nicht überstehen könnte und er sehr bald, in ein paar Wochen schon, zurücktreten müßte. Dies tat er nicht — er wurde gestürzt, acht Monate später: durch die Revolution.

L Skandal und Machtverfall

Die wenigsten Skandale, von denen wir wissen, endeten in einer Revolution, und auch dieser war einer, der — ähnlich der Halsbandaffäre der Königin Marie Antoinette 62 Jahre zuvor — den Sturz eines Regimes eher ankündigte, als ihn tatsächlich auszulösen. Die schlechten Ernten seit 1845 und die wirtschaftliche Depression, diverse Aufstände und der politische Ausschluß von Kleinbourgeoisie und Arbeiterklasse standen an der Wiege des 24. Februars 1848 in Paris — und nicht die Tatsache, daß sich die Herren untereinander bestachen. Und doch steuerte der Skandal seinen Teil zum Niedergang bei. Das Großbürgertum, das seit 1830 die Politik bestimmte und anderen Klassen das Wahlrecht vor-enthielt, war sichtbar dabei, sich als neue politische Klasse selbst zugrunde zu richten.

In der Affäre Guizot tauchen zwar Elemente auf, die auch den Ablauf heutiger Skandale bestimmen, doch vor allem eines scheint sich gründlich gewandelt zu haben: An den Skandal als den Vorboten einer Revolution glaubt heute keiner mehr. Eher sind wir durch die jüngsten Ereignisse in der Sowjetunion und der DDR darüber belehrt worden, daß Skandale weniger als Ursachen denn als Wirkungen von Revolutionen auftreten, wenn aufgrund geänderter Machtverhältnisse nun gesellschaftliche Mißstände und Verhaltensweisen von Politikern als skandalös definiert und dann auch verfolgt werden können, die zuvor im Schattenreich der Machtausübung stillschweigend existierten.

Wer einen „Friedensstaat“ begründet haben will und mit Hilfe verdeckter Staatsfirmen Waffen an überdies politisch verfemte Regime verschiebt, wer sich auf das sozialistische Ideal der Gleichheit beruft und das Volkseigentum in seine privaten Taschen transferiert, der legt eine Inkonsistenz zwischen Anspruch und tatsächlichem Verhalten an den Tag, wie sie für alle Skandale typisch ist. Die in der Sowjetunion und in der DDR derzeitig verhandelten Skandalfälle sind Resultate nicht einer Veränderung der Moral, sondern veränderter Macht-3 Verhältnisse. Der Politik Gorbatschows dienen sie dazu, die Bevölkerung für seine Perestroika zu mobilisieren, die Gegner im eigenen Apparat auszuschalten, den Abfluß dringend benötigter ökonomischer Werte in die dunklen Kanäle der usbekischen Baumwollmafia und anderer illegaler Korporationen zu verhindern. Daß in der DDR nunmehr zum Skandal erklärt wird, was ganz so unbekannt schon vorher nicht war, hat die Funktion, den Nachweis der moralischen Verkommenheit einem Regime gleichsam nachzuliefern, das sich ideologisch und historisch auf nichts so sehr stützte wie auf die Moral.

Über eine von drei Voraussetzungen von Skandalen verfügte man also schon: die Bindung staatlichen Handelns an allgemeine Normen, gegen die ein konkretes Verhalten dann skandalös abfallen kann. Wenn auch das Verfassungsprivileg der kommunistischen Parteien die Normbindung der Politik ideologisch begrenzte und das Fehlen einer Gewaltenteilung eine Normkontrolle kaum zuließ, so regierte die Bürokratie doch vor dem Hintergrund moralischer Werte, die man schließlich gegen sie selbst gewendet hat.

Möglich geworden sind die Skandalkonjunkturen in der Sowjetunion und der DDR aber nur, weil nunmehr in diesen Ländern zwei weitere Faktoren er-stritten worden sind, ohne die es nirgendwo Skandale geben kann: Machtkonkurrenz und Öffentlichkeit.

II. Gesellschaftliche Voraussetzungen politischer Skandale

Der Rückfall einer politischen Elite hinter die selbstgesetzten programmatischen und moralischen Ansprüche — wie sie etwa durch die Werte der Demokratie, des Humanismus, des Gemeinwohls, der Wohlfahrt oder der Gleichheit repräsentiert werden — läßt sich erst dann zum Skandal machen, wenn konkurrierende politische Gruppen in einer Gesellschaft über genügend Machtchancen verfügen, aufgrund von Normverletzungen den Fortbestand einer legitimen Herrschaft erfolgreich bestreiten zu können. Diese Machtchancen ergeben sich erst dann, wenn sich die politischen Eliten dem Votum von Wahlbürgem zu stellen haben, die über die Rechtfertigung eines Machtanspruches frei entscheiden. Machtkonkurrenten können dann dafür werben, den Herrschenden die Legitimation zu entziehen. Dafür bedarf es des freien Zugangs zu öffentlichen Medien, um skandalöse Vorfälle überhaupt bekanntzumachen. Was im Geheimen verborgen bleibt, wird kein Skandal. Dies wissen vor allem die Politiker genau, die daher keine Anstrengungen scheuen. Taten zu verbergen, von denen sie selbst annehmen, daß sie öffentlich nicht zu rechtfertigen wären. In Skandalen dokumentiert sich das Grundproblem der Rechtfertigung politischer Macht, das sich in ganz unterschiedlicher Ausprägung überall dort einstellt, wo Macht an Normen gebunden und zwischen Parteien umstritten ist.

Skandale sind damit so alt wie die Politik selbst auch wenn sich ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen vollständig erst in den modernen Demokratien herausgebildet haben. Schon immer waren die Herrscher an einen sittlichen Verhaltenskodex gebunden, wenn sie nicht gerade mit nackter Gewalt regierten, und Herrschaftsansprüche jedweder Art — der erste Diener Gottes, der zuverlässige Beschützer der Gefolgschaft, der gerechte SachVerwalter der Herrschaft des Volkes, der uneigennützige Diener des Gemeinwohls zu sein — laufen nicht erst seit heute Gefahr, durch die Realität dementiert zu werden.

Wo Machtkonkurrenz vorhanden ist, schleicht sich zumeist auch eine weitere strukturelle Bedingung von politischen Skandalen in das gesellschaftliche Leben ein. Soziale Gruppen oder politische Parteien, die um die Macht konkurrieren, tun dies entweder im Namen von Werten, die zwischen allen geteilt werden und um deren beste Verwirklichung ein Wettstreit entbrennt; oder aber sie repräsentieren unterschiedliche Wertorientierungen, die miteinander konfrontiert werden. Skandale entzünden sich dann nicht allein an einem Rückfall hinter allgemeine Normen, sondern vor allem auch im Wert-konflikt der verschiedenen politischen Kräfte. Für die einen ist skandalös, was andere schon immer für ganz normal gehalten haben. Was als Skandal zu betrachten ist, wird damit selbst Gegenstand des politischen Streits.

Daß ein Politiker nicht versuchen darf, seinen Mitbewerber um ein Amt mit kriminellen Methoden zu ruinieren, daß der politischen Willensbildung der Parteien und der Gewissensprüfung der Abgeordneten nicht durch Schmiergelder nachgeholfen werden sollte — darüber besteht in der Gesellschaft normativer Konsens, jedenfalls darf niemand offen das Gegenteil behaupten, will er nicht selbst für einen Skandal kandidieren. Ob allerdings SS-Gräber den geeigneten Hintergrund eines Staatsaktes abgeben, der Terrorismus auch mit selbstgelegten Bomben bekämpft werden darf, es das Staatsinteresse gebietet, Waffenpläne an Südafrika zu verkaufen, ob staatliche Behörden nach Tschernobyl ihrer Informationspflicht nachgekommen sind, die Mem-minger Abtreibungsprozesse eine richterliche Anmaßung waren — all dies sind Fragen, deren Skandalfähigkeit in der öffentlichen Meinung nicht einfach schon feststeht, sondern errungen werden muß.

III. Was ist politisch skandalös?

Will man die gesellschaftliche Bedeutung von politischen Skandalen erfassen, muß man zuerst näher bestimmen, was unter einem Skandal zu verstehen ist. Fünf allgemeine Charakterisierungen aus soziologischer Sicht sollen hier genannt werden — Skandale sind öffentlich ausgetragene Konflikte um die Geltung sozialer Normen, verursacht durch die Enthüllung von Verfehlungen oder Normverletzungen von allgemeinem Interesse. Skandale werden regelmäßig dann ausgelöst, wenn öffentlich bekannt wird, daß Politiker, staatliche Institutionen, Verbände, Organisationen oder Parteien Normen verletzen, für deren Gewährleistung sie selbst sich als prädestiniert bezeichnen. Hintergrund dieser Skandale sind immer normative Selbstbindungen allgemeiner oder spezifischer Natur; letztere vor allem bei gesellschaftlichen Organisationen, wenn deren besondere Wertideale, auf die sie sich berufen, durch das Handeln ihrer eigenen Funktionäre in das Gegenteil verkehrt werden. So erging es z. B.den Gewerkschaften mit den Fällen Neue Heimat und co op, die das Organisationsideal der Gemein-wirtschaft denunzierten und die Solidarnormen der Arbeiterbewegung verletzten; so erging es 1971 diversen Bundesligaclubs, die ihre Spiele kaufen ließen und damit das Gebot der sportlichen Fairneß über Bord warfen; so ergeht es Pharmakonzemen, die Pillen verkaufen, von denen man krank wird, oder kirchlichen Würdeträgem, denen unsittliches Verhalten nachgesagt wird. — Im politischen Raum liegt den normativen Selbst-bindungen die allgemeine Verpflichtung des politischen Personals auf demokratische Verfahrensnormen zugrunde. Dies betrifft im Kem die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Das demokratische Gemeinwesen versteht sich als eines, das den privaten Interessen einzelner entzogen ist, weil dies dem Ziel des allgemeinen Wohls zuwiderliefe. Daher vergibt die Demokratie die Machtchancen politischer Ämter nur unter der Bedingung unpersönlicher Pflichterfüllung. Man mag dies für eine ganz unwahrscheinliche Konstellation halten — Tatsache jedoch, daß politische müde Amtsträger nie werden, sich selbst in dieser Weise darzustellen, im Notfall durch ein Ehrenwort Jede private Nutzung von Chancen, die der Souverän nur unter der Auflage privater Zurückhaltung erteilt, stellt damit einen potentiell skandalösen Mißbrauch politischer Macht dar. In diese Rubrik fällt die Korruption, der Amtsmißbrauch zum persönlichen Vorteil, die Umgehung oder die Verletzung von Gesetzen, für deren Einhaltung man selbst zu sorgen hat. Wo immer die politische Macht auf Kosten der an sie gebundenen Verfahrensregeln regiert die Machtinstmmente für illegitime Vorteile mißbraucht und öffentliche Ämter für private Zwecke in Dienst nimmt, offenbaren Skandale politisch nicht legitimierbare Vorgänge, die am Geltungsanspruch des demokratischen Gemeinwesens selbst kratzen. — Politische Skandale sind eine Sanktionsform ungerechtfertigter sozialer Ungleichheit. Alle Ungleichheit in unserer Gesellschaft versteht sich als solche, die — jedenfalls der Ideologie nach — auf Leistungsdifferenzen beruht. Dies betrifft die Verfügung über materielle Ressourcen, Wissen und positionale Macht (Autorität), um nur die drei wichtigsten Quellen sozialer Ungleichheit zu nennen Eine Ungleichheit, die sich aus den Vorteilen ergibt, die man anderen gegenüber aus der bloßen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, aus „Beziehungen“ erhält, vermag sich vor dem Hintergrund der offiziell geltenden Normen von Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit jedoch nicht zu legitimieren. Privatleute können sich dies leisten, Politiker nicht, weil sie auch in ihrer privaten Lebensführung auf die Offizialnormen verpflichtet sind. Wo sich Politiker zusammen mit anderen Spitzen der Gesellschaft (oder der Unterwelt) zu solchen informellen Gruppen versammeln, die ihnen exklusive Chancen und Erwerbsmöglichkeiten eröffnen, wo sie über Geschenke und Protektion Netzwerke knüpfen, sich Vorteile verschaffen und Aufträge entgegennehmen, die durch das Wahlvolk nicht legitimiert sind, schrammen sie immer schon hart am Skandal entlang. Erfolgreiche Skandale holen Politiker auf den Status des Privatmanns zurück, stellen, wenn auch nicht die soziale, so doch die politische Egalität wieder her.

— In Skandalen testen politische Institutionen die Geltung ihrer eigenen Normen durch exemplarische Sanktion ihrer Verletzung, ohne jedoch über die Themen, Verlaufsformen und Resultate dieser Normkontrolleallein verfügen zu können. Politische Skandale stellen also Ereignisse dar, um deren Auslösung, Themen und Abläufe verschiedene Kräfte in der Gesellschaft konkurrieren. Sie müssen als Konflikte um die Einhaltung moralischer Handlungsnormen zwischen verschiedenen Machtgruppen einer Gesellschaft verstanden werden, die ihrer Beurteilung des politischen Handelns unterschiedliche Wertmaßstäbe zugrundelegen. Skandale sind Wertkonflikte, in deren Verlauf sich um die Beurteilung der inkriminierten Handlungen oder Zustände Wertgemeinschaften oder -koalitionen herausbilden können. Erfolg ist dabei einer Wertgemeinschaft zumeist nur dann beschieden, wenn die jeweils beanspruchten Wertmaßstäbe an moralische Normen anschließen, die von keiner Seite — jedenfalls öffentlich — bestritten werden können, die betreffenden Wertmaßstäbe also in der moralischen Ordnung einer Gesellschaft hinreichend verankert sind. Moralische Ordnungen aber sind nichts anderes als die Bestimmung von Verpflichtungen und die Verwirklichung von Rechten. Beides steckt den Rahmen ab, in dem politische Herrschaft ausgeübt werden kann, sie legitimerweise noch mit Zustimmung rechnen darf.

Der Skandal ist eine Form, in der zwischen verschiedenen Machtgruppen einer Gesellschaft der aktuell geltende Rahmen moralisch verpflichtender Handlungsnormen praktisch ausgehandelt wird. Nach welchen moralischen Normen die Politik zu gestalten sei und wieviel Abweichung von ihnen im praktischen Geschäft der Politik noch geduldet werden kann, sind typische Themen eines jeden Skandals. Konkurrierenden Machtgruppen geben sie die Chance, jene demokratische Regel aufzukündigen, nach der die politische Autorität, wenn sie durch Wahlen dazu bestimmt wurde, jedenfalls solange als legitim anzusehen ist, bis sie wiederum durch Wahlen abgelöst wurde. Wer einen Skandal ausruft, gibt damit das Zeichen der intermittierenden Legitimitätsbestreitung der politischen Autorität aus. — Das Auftreten politischer Skandale wird um so wahrscheinlicher, je stärker zumindest latente politische Spannungen in einer Gesellschaft schon vorhanden und Wertkonflikte angewachsen sind. Dann nämlich haben konkurrierende Machtgruppen sehr viel größere Chancen, den Definitionskampf, ob ein Skandal überhaupt vorliegt und worin er besteht, auch gewinnen zu können. Skandalös sind ja bestimmte Vorgänge nicht schon aus sich selbst heraus. Sie müssen als solche erst typisiert werden. Dies gelingt um so eher, je stärker das skandalierte Geschehen plötzlich und sinnfällig verdichten kann, was bis dahin als Unbehagen und Kritik an Mißständen in der Gesellschaft zwar schon vorhanden, aber noch nicht durch ein Ereignis konzentriert und gebündelt war.

Gesellschaften, in denen ein nationaler Konsens fraglos gegeben ist, kennen ebenso wenig eine Häufung politischer Skandale wie jene Gesellschaften, in denen konkurrierende Parteien kaum reelle Machtchancen haben. Wo — um nur ein Beispiel zu nennen — eine politische Opposition den Wert nationaler Verteidigung fraglos mit der Regierung teilt, wird sie Schwierigkeiten haben, Taten skandalieren zu können, die im Namen der nationalen Verteidigung verübt worden sind. Dies erklärt z. B., warum das Versenken des Greenpeace-Schif-fes „Rainbow Warrior", bei dem ein Besatzungsmitglied getötet wurde, in Frankreich nicht zu einem wirklich großen Skandal werden konnte und warum Rüstungsskandale in der Bundesrepublik erst dann nicht mehr im Sande verliefen, nachdem man am Wert der Abschreckung zu zweifeln begann.

IV. Die Skandaldichte der Politik

In der Bundesrepublik Deutschland herrscht an den Voraussetzungen politischer Skandale (Normbindung, Machtkonkurrenz. Öffentlichkeit) kein Man-gel, aber auch nicht an den Interessen, um des eigenen Vorteils willen Normen und Öffentlichkeit zu unterlaufen. Folglich sind wir mit Skandalen nicht gerade unterversorgt. Die achtziger Jahre haben eine wahre Skandalkonjunktur hervorgetrieben, der gegenüber in der öffentlichen Meinung eine mittlerweile eher lakonische Stimmung herrscht. Die Häufung von Skandalen scheint stichhaltiger Beweis für deren Wirkungslosigkeit zu sein, denn warum sonst wiederholten sie sich so oft, wenn sie an den ihnen zugrundeliegenden Mißständen tatsächlich etwas änderten?

Demgegenüber will ich hier die These vertreten, daß die Zeiten, in denen Skandale nichts geändert haben, vorbei sind, weil die Zeiten, in denen sich nichts änderte, selbst vorüber sind. In den fünfziger und sechziger Jahren dieser Republik hätte es nicht weniger Anlässe für Skandale gegeben als gegenwärtig — im Gegenteil. Einige fanden auch statt, doch mit Ausnahme der Spiegel-Affäre kaum je mit wirklichen Konsequenzen. Vom Eifer des Wiederaufbaus und dem Antikommunismus als Staatsdoktrin verdeckt, konnten ehemalige Mitglieder der NSDAP ihre politischen Karrieren starten, Politiker sich von der Wirtschaft bestechen lassen, wie einige Skandale vor allem aus der Rüstungsbranche (HS-30, Starfighter, Fibag) belegten — immer mit dem Namen eines Politikers verbunden, der immerhin bis 1988 aktiv war. Öffentliches Aufsehen erregten in dieser auch sexuell verklemmten Zeit vor allem die Sittenskandale, in die „politische Sauber-männer“ . verwickelt waren: der Montesi-Skandal 1953 in Italien, 1961 der Profumo-Skandal in England. hierzulande die Affäre um die Bekannten von Rosemarie Nitribitt im Jahre 1957

Mit Sex ist heute kaum noch einer skandalierbar, wie zuletzt Manfred Wörner und Uwe Barschel erfahren mußten. Dafür sind in den achtziger Jahren Vorgänge in die Skandalarenen zurückgeholt worden, die lange jedenfalls mehrheitlich toleriert wurden. Beginnend 1978 mit dem erzwungenen Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Filbinger bis hin zur Demission von Werner Höfer ist das Verhalten in der NS-Zeit wieder skandalfähig geworden. Auch die Anlässe jüngerer Korruptions-und Personalskandale (z. B. Flick, Spielbankenaffäre in Niedersachsen, Lummers Rücktritt in Berlin) gehen in die siebziger Jahre zurück, bis sie in den achtzigem von der politischen Öffentlichkeit aufgegriffen worden sind. Vier Gründe lassen sich für das Anwachsen der öffentlichen Skandalbereitschaft nennen:

-Der Wirkungsbereich staatlichen Handelns hat sich zunehmend ausgeweitet. Der Staat organisiert die öffentliche Wohlfahrt, die Rahmenbedingungen der Ökonomie und die technische, soziale und ökologische Risikoverwaltung. Regelverstöße in all diesen Gebieten erreichen damit sehr schnell die Sphäre der skandalfähigen politischen Verantwor-fung. Im Resultat ist die Politik in höherem Maße als früher an gesellschaftlichen Skandalen mitbetei-ligt: Verstrahlte Molke, versiebte Subventionen, vernachlässigte Aufsichtspflichten werden zu typischen Anlässen, gesteigert noch durch unübersichtlich gewordene Instanzenzüge, zwischen denen die politische Verantwortung hin und her geschoben wird. Im kleinen Grenzverkehr zwischen Politik und Wirtschaft stellt sich ein strukturelles Problem, ist in der einen Sphäre doch verboten, was in der anderen prämiert wird: Eigennutz. Wo immer aber sich im politischen Handeln Wertsphären überlagern, ist der Skandal nicht weit. Der Druck gut organisierter Interessen auf die Politik und deren Verfilzung vor allem mit der ökonomischen Macht hat dabei nicht gerade abgenommen. Die Verschränkung politischer und ökonomischer Interessen hat die Skandalträchtigkeit staatlichen Handelns auch deshalb gesteigert, weil gleichzeitig die öffentliche Wohlfahrt reduziert worden ist. Dies weckt das Sensorium des Ungerechtigkeitsempfindens, begrenzt den Duldungsbereich der alltäglichen Korruption und läßt den Ruf nach „bürokratischer Moralität“ im allgemeinen Interesse immer lauter werden. — Politisches Handeln hat heute einen höheren Legitimationsbedarf, weil die öffentliche Sensibili-tät für die Inhalte und Formen politischer Machtausübung erheblich zugenommen hat. Soziale Bewegungen und ein verbreiteter „Wertwandel“, der besser als zunehmender Wertedissens zu beschreiben ist, haben vorher selbstverständlichen Annahmen staatlicher Politik ihre Grundlage entzogen. Private Themen wurden in öffentliche transformiert (Frauenbewegung), öffentliche Themen zum persönlichen Anliegen gemacht (Ökologie, Frieden). Politische Teilöffentlichkeiten haben durch Aufklärungsarbeit die soziale Bereitschaft für Skandale erheblich gesteigert. Indem sie gesellschaftliche Themen kontrovers machen, präparieren sie fortwährend die potentiellen Anlässe für Skandale.

Unterstützt und angetrieben werden sie dabei von den kritischen Medien. Der investigative Journalismus befindet sich selten im Lager des Konformismus. Seine Arbeit wird auch in der Bundesrepublik von Bewegungsmilieus, kritischen Fachleuten und machtskeptischen Bürgern unterstützt und von einem entsprechenden Publikum getragen. Auch dies hat die Kontexte vermehrt, in denen das Handeln oder Unterlassen von Politikern skandalfähig geworden ist. Das allgemein wachsende Interesse an gesellschaftlicher Beteiligung läßt jede Form politischer Exklusivität als illegitim erscheinen, der Wert der Gleichheit gleicher Rechte hat sich mittlerweile zum Mentalitätsbestand der Gesellschaft verfestigt — das bekommen die Politiker zu spüren. Wo die Ergebnisse der Politik viele nicht mehr befriedigen können, wächst auch die Kritik an den Verfahren und Methoden, durch die sie zustande gekommen sind. Rechtsstaatlichkeit, Verhältnismäßigkeit, „Basisnähe“, Selbstbeschränkung werden als Forderungen erhoben, jede staatliche „Sondermoral“ einer beißenden Kritik unterzogen.

— Mit der Vervielfältigung politisch kontroverser Machtlager in der Gesellschaft ist auch die Teilnehmerzahl am Definitionskampf, was ein Skandal genannt werden soll, gestiegen. Neue politische Akteure wie die GRÜNEN sind in den Institutionen präsent, verursachen dort Störungen und sind im Krisen-und Konfliktfall auf Staatsräson schwer zu verpflichten. Der politische Skandal stellt ihnen Techniken bereit, eine bisher nur minoritär formulierte Kritik an politischen Ereignissen oder Zuständen durch exemplarische Verdeutlichung zu popularisieren. Daher sind sie an der Technik des Skandals interessiert und verwenden sie für ihre Themen: Ökologie, Abrüstung, „Basisdemokratie“. Darin werden sie von relevanten Teilen der Bevölkerung normativ getragen, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Skandale um vergiftete Lebensmittel oder die „politische Landschaftspflege“ des Flick-Konzerns für grüne Themen und die eigene Funktionszuschreibung des „Aufpassers“ gewonnen werden konnten. Die Bereitschaft zum politischen Skandal wird dabei von einer gesellschaftlichen Entwicklung getragen, die heutzutage Enthüllungen auch in „sensiblen Bereichen“ wahrscheinlicher macht. In allen gesellschaftlichen Organisationen, in Firmen, Verbänden, Behörden, gehen intern die fraglosen Loyalitätsbindungen des Personals eher zurück Regelverstöße im Binnenraum von Organisationen dringen dadurch häufiger nach „außen“ durch, wo sie dem politischen Zugriff offenstehen. — In Zeiten einer schwieriger gewordenen Legitimationsbeschaffung setzen Politiker und Parteien immer häufiger auf die Karte einer symbolischen Politik, die mit um so größerem moralischen Aufwand („Glaubwürdigkeit“) auftritt, je tiefer man den Stachel des Zweifels im Fleisch der Bevölkerung wähnt. Sie eröffnen damit zwangsläufig selbst ein Feld, in dem über die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufmerksam gewacht wird. Auch ist der hierzulande vorherrschende Typus des juristisch bewanderten Laufbahnpolitikers nicht immer dazu befähigt, mit großen Gesten und dem Stil politischer Führerschaft entsprechend umzugehen. Die Peinlichkeit in der Politik konnte so zu einem der großen Themen der Zeitkritik der achtziger Jahre werden. Die offizielle Rhetorik hat die moralische Meßlatte selbst nach oben gelegt, an der die politischen Machtträger jetzt bewertet werden. Eine Atmosphäre gespannter Erwartung und ehrlicher Freude breitet sich dadurch im Publikum aus, wenn wieder einmal die Inszenierung moralischer Vorbildlichkeit mißlingt.

V. Bleiben Skandale folgenlos?

Skandale sind zwar schon fast zu einer Institution des politischen Lebens geworden; die Leistungen, die sie erbringen, können aber nicht nach der Art eines feststehenden Rechtsinstitutes beurteilt werden. Skandale sind ein informelles Instrument der Normkontrolle. Ihre Wirksamkeit hängt von den gesellschaftlichen Gruppen selbst ab, die sie betreiben und beurteilen. Politische Skandale erbringen drei gesellschaftliche Leistungen: Sie erweitern und differenzieren das Wissen der Gesellschaft von sich selbst auch hinsichtlich der „abgedunkelten“ Bereiche; sie mobilisieren Werte und Normen in die Politik hinein, und sie emotionalisieren politische Konflikte; sie sorgen so dafür, daß die mobilisierten Werte auch die Tiefenschicht der Gefühle erreichen.

Die Häufung und die Themen der Skandale im letzten Jahrzehnt sind Indizien eines veränderten Wertbewußtseins in der Gesellschaft, das nicht hinreichend in der Politik angelangt ist, hier aber „schmerzhafte Lernprozesse“ auslösen kann. Die Häufung politischer Skandale in den achtziger Jahren ist dadurch zu erklären, daß zwischen den normativen Ansprüchen an die Politik von Seiten der Öffentlichkeit und den internen Maßstäben in den politischen Institutionen selbst eine Lücke entstanden ist, die durch Skandale zwar nicht geschlossen, doch sichtbar gemacht wird.

Da Skandale meist nur dort entstehen, wo schon etwas in Veränderung ist, sind auch deren Wirkungen dadurch bestimmt, ein Katalysator eines schon stattfindenden Wandels zu sein. Üm so mehr sie im Publikum nicht einfach nur als Enthüllung anstößiger Verfehlungen einzelner gelten, sondern als symptomatischer Ausdruck sozialer Mißstände verstanden werden, lassen sie — jedenfalls heute -die Machtverteilung nicht unberührt. Während etwa auf dem Höhepunkt der Spiegel-Affäre die CSU bei den bayerischen Landtagswahlen im November 1962 noch 1, 9 Prozent zulegen konnte und die Parlamentsmehrheit erreichte, haben die Skandale der achtziger Jahre ihren Anteil zur Ablösung der jeweils regierenden Parteien beigetragen. In Berlin kippte 1981 der SPD-Senat unter dem Eindruck der Garski-Affäre, um dann 1989 im Windschatten ebenfalls eines Bauskandals wieder an die Macht zu gelangen. In Schleswig-Holstein wurde nach dem Barschel-Skandal die CDU vom Wähler in die Opposition geschickt, und das skandalgebeutelte Frankfurt stellte einen neuen Oberbürgermeister an die Spitze des korruptionsanfälligen Magistrats. Skandale bleiben beim Souverän zumal dann nicht folgenlos, wenn (wie in Berlin oder Frankfurt) durch die aufgedeckten Mißstände materielle Inter-essen der Bevölkerung selbst berührt werden, was in den genannten Fällen vor allem die lokalen Wohnungsmärkte betrifft.

Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß die Auswirkungen von Skandalen auf das politische Bewußtsein der Bevölkerung wenig erforscht sind. Wo man hierzu Umfragen machte, sind die Ergebnisse von fragwürdiger Natur, weil das Mißtrauen gegen die Politik immer schon als ein vorurteilsbeladenes Einstellungssyndrom konstruiert wurde, das angeblich nicht reale Erfahrungen, sondern verzerrte Wahrnehmungen reflektiert. Und doch läßt sich aus den Erhebungen etwa zum Watergate- oder zum Waldheim-Skandal der Schluß ziehen, daß Skandale als Verstärker vorher schon bestehender Tendenzen wirken. Die Gegner einer skanda-lierten Partei werden in ihrer Ablehnung dieser gegenüber bestärkt und für die eigenen Ziele mobilisiert. die Anhänger der Skandalpartei dagegen verunsichert, die innere Kohärenz des eigenen Lagers zersetzt sich: Auch viele der Parteigänger Waldheims würden, trotz prinzipieller Zustimmung zu seinem Verhalten, ihn nicht noch einmal wählen, weil man den ganzen Rummel satt hat. Die Reaktionen von Unentschiedenen oder „Neutralen“ spalten sich auf. Teils geben Skandale den letzten Anstoß, den Bürger brauchen, um in Wahlen die Partei zu wechseln, teils wächst ein genereller Zynismus gegenüber dem Politischen heran.

Welche Reaktionsweisen sich ausbreiten, ist weniger von den Skandalen selbst, als vielmehr von den institutioneilen Konsequenzen abhängig, die aus ihnen gezogen werden. Ob sich durch einen bloßen Wechsel von Personen nur eine „Katharsis zum faulen Frieden“ vollzieht oder man einem „institutionellen Rigorismus“ zum Durchbruch verhilft, entscheidet darüber, ob Argwohn, Zynismus und ein moralischer Partikularismus anwächst, der sich — weil sowieso alles und jeder käuflich sei — an die normativen Maßstäbe demokratischer Gemeinwesen nicht mehr gebunden fühlt.

Die Bilanz der institutionellen Skandalverarbeitung kann hier kaum überzeugen. Sicher gelingt es der Technik des Skandals bisweilen, gesellschaftlich noch Ungeregeltes in die Sphäre der Norm zu überführen: Die Gesetzgebung zur Parteienfinanzierung nach den Wogen des Flick-Skandals ist dafür ein Beispiel. Auch können aufgedeckte Skandale eine abschreckende Wirkung entfalten und eine „Korruptionsbremse“ sein, wie der amerikanische Soziologe Lawrence Sherman am Beispiel der Bestechlichkeit in amerikanischen Polizeiabteilungen zeigte -

Skandalangst wirkt als eine soziale Selbstkontrolle. Sie hat nach der Parteispenden-Affäre im Bundestag die Selbstamnestierung der Parteien und zuletzt im hessischen Landtag eine überaus großzügige Diätenregelung verhindert. Die höchstrichterlichen Urteile zur Parteienfinanzierung bezeugen jedoch auch eine andere, nicht untypische Strategie der Skandalbewältigung — erweckt die nunmehr ganz legale steuerliche Begünstigung von Großspenden doch den Eindruck, daß hier alte Praktiken nicht verhindert, sondern nur vor einer weiteren Skandalierung geschützt werden sollen

Das typische Instrument der Skandalbewältigung — der Untersuchungsausschuß — hat bisher nur dort zu einer vollständigen Aufklärung beigetragen, wo es sich — wie im Falle Barschels — um ausschließlich persönliche Verfehlungen handelte und die Verantwortung eindeutig auf eine Person übertragen werden konnte. Wurden aber Praktiken verhandelt, die mehrere Parteien, „sensible Sicherheitsbereiche“ oder die Verfilzung von Geld und Politik betrafen, obstruierte man Erkenntnisse oder dümpelten die Ausschüsse träge vor sich hin. Dem U-Boot-Untersuchungsausschuß oder jenem zum „Atomskandal“ hätte man eine Entschlossenheit gewünscht, wie sie jetzt bei der Aufdeckung des Waffenhandels in der DDR praktiziert und von westlicher Seite dort auch heftig begrüßt wurde. Die Instanzen der politischen Reform nach einem Skandal sind zumeist dieselben, die vorher auch an den skandalösen Vorfällen beteiligt waren. Wenn aber Politiker sich selbst kontrollieren, sind die Maßnahmen immer auch von Eigeninteressen und den Gesetzen der Parteienkonkurrenz bestimmt, die nicht unbedingt mit den Maximen eines demokratischen Gemeinwesens übereinstimmen müssen.

Auch personelle Konsequenzen lassen regelmäßig zu wünschen übrig, obwohl die Rücktrittsquote in den achtziger Jahren eher angestiegen ist. Daß ein wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilter Politiker nach seinem vorübergehenden Sturz wieder Vorsitzender einer Bundestagspartei werden konnte, während der Finanzbeamte Klaus Förster, der den Parteispendenskandal ins Rollen brachte, nach einigen Versetzungen den Dienst quittierte, daß der ehemalige Abgeordnete Graf Kerssenbrock nach seiner Mitarbeit im Untersuchungsausschuß des Barschel-Skandals nur noch einfaches Mitglied seiner Partei ist, während ihr nach Waterkantgate zurückgetretener Chef Minister blieb und gerade wieder zum Ehrenvorsitzenden seines Landesverbandes gewählt wurde — darin kann man nicht ohne Grund selbst wiederum einen Skandal sehen. Ohne das Drohpotential jedoch, das von Skandalen ausgeht, würde auch die personelle Bequemlichkeit kaum aufgescheucht werden können. Skandale führen Konkurrenz in das Geschäft der Politik ein, was bekanntlich die Qualität verbessern soll.

VI. Ein Fazit

Skandale lösen keine Revolutionen aus und bereiten heute wahrscheinlich auch keine mehr vor. Dort aber, wo politische Institutionen daran interessiert sind, den Raum gesellschaftlicher Konflikte zu verengen, ihn in die inneren Instanzen zu verlagern, erweitern sie die Sphäre der Politik thematisch und sozial. In ihrer Häufung und in ihren Themen einem untergründigen gesellschaftlichen Wandel geschuldet, dokumentieren sich in ihnen die Veränderungen in den moralischen Erwartungen, die von der Gesellschaft an die Politik gerichtet werden. Ein politisches Institutionensystem, das in sich selbst diesen Wandel nicht mitvollzieht, läßt die Lücke zwischen den normativen Ansprüchen und der politischen Realität immer weiter auseinanderklaffen. Ob sich — wie dies in jeder Sonntagsrede vor allem potentiell Betroffener behauptet wird — in Skandalen einfach nur die Funktionstüchtigkeit der politischen Ordnung erweist, kann daher mit Recht bezweifelt werden. Insofern Skandale normativ vorgreifen oder die Politik auf die Normen zurückholen. sind sie immer auch Krisenphänomene einer politischen Ordnung, grelle Ereignisse im schleichenden Erosionsprozeß sicher geglaubter Legitimationen.

In Zeiten fragloser Massenloyalität, politischer Apathie und normativer Indifferenz in der Bevölkerung entstehen Skandale seltener, zielen sie zumindest auf Themen, die kaum über den immer fehlbaren Bereich persönlicher Leidenschaften hinausgreifen. Wo sie jedoch politische Routinen kritisieren, gesellschaftliche Mißstände über die Schwelle sozialer Gleichgültigkeit heben, die Geltung selbstgesetzter wohlfahrtsstaatlicher Ziele und demokratischer Verfahrensnormen anmahnen und politische Arkanbereiche in die öffentliche Diskussion ziehen, kündigen sie den Verfall alter Legitimationsmuster und das Heraufziehen neuer politischer Kräfteverhältnisse an. Skandale zeigen, daß über die Rechtfertigungsgründe politischer Macht die jeweils Regierenden nicht allein verfügen. Dies muß nicht unbedingt den Regierenden, kann aber der Gesellschaft nur förderlich sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine Komödie des Engländers Richard B. Sheridan.

  2. Friedrich Engels, Der Niedergang und der nahende Sturz von Guizot. Die Stellung der französischen Bourgeoisie (1847), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Bd. 4. Berlin 1977, S. 183 ff.

  3. Davon legt die historische Skandalforschung Zeugnis ab, vgl. die Aufsätze zur Skandalgeschichte von Wolfgang Schuller. Herfried Münkler und Christine Landfried im Sammelband von Rolf Ebbighauscn/Sighard Neckel (Hrsg.). Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt 1989.

  4. Vgl. Sighard Neckel, Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals, in: Leviathan, 14 (1986) 4, S. 581— 605; ders.. Machen Skandale apathisch?, in: R. Ebbighausen/S. Neckel (Anm. 3), S. 234-257.

  5. Zum „Ehrenwort“ als Beispiel der Strategie, durch persönliche Verpflichtungszeichen den Eindruck unpersönlicher Pflichterfüllung zu erwecken, vgl. Helmuth Berking, Das Ehrenwort, in: R. Ebbighausen/S. Neckel (Anm. 3), S. 355— 373; zu den Inszenierungsleistungen von Politikern vgl. Ronald Hitzier. Skandal ist Ansichtssache. Zur Inszenierungslogik ritueller Spektakel in der Politik, in: ebda., S. 334-354.

  6. Vgl. Andrei S. Markovits/Mark Silverstein. Macht und Verfahren. Die Geburt des politischen Skandals aus der Widersprüchlichkeit liberaler Demokratien, in: ebda., S. 151-170.

  7. Vgl. Reinhard Kreckel, Class. Status and Power? Begriffliche Grundlagen für eine politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34 (1982), S. 617— 648.

  8. Zur „Rainbow Warrior“ -Affäre und den Eigenheiten der französischen Skandalkultur vgl. Stephen E. Bornstein. The Greenpeace Affair and the Peculiarities of French Politics, in: Andrei S. Markovits/Mark Silverstein (Eds.). The Politics of Scandal. Power and Process in Liberal Democracies, New York-London 1988. S. 91 — 121.

  9. In all diesen Fällen ging es zwar jeweils um gravierende Tatbestände (Mord im Montesi-und im Nitribitt-, Falschaussage vor dem Parlament im Profumo-Skandal), ihre öffentliche Aufmerksamkeit gewannen sie jedoch erst durch die erotischen Ingredienzen, die ihnen beigefügt waren. Darauf sind in der heutigen Zeit große politische Skandale nicht mehr unbedingt angewiesen.

  10. Vgl. dazu das Schwerpunktheft der International Political Science Review, 9 (1988) 3, das dem Thema „Bu-reaucratic Morality" gewidmet ist.

  11. Vgl. Wolfgang Streeck, Vielfalt und Interdependenz. Überlegungen zur Rolle von intermediären Organisationen in sich ändernden Umwelten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 39 (1987). S. 471— 495.

  12. Zur Typologie des heutigen politischen Personals vor dem Hintergrund ihrer Skandalfähigkeit vgl. Heinz Bude. Typen von Skandalpolitikern, in: R. Ebbighausen/S. Neckel (Anm. 3). S. 396-414.

  13. Vgl.den Literaturbericht von Siegfried Preiser. Ganz normale menschliche Reaktionen, in: Helmut Moser (Hrsg.). L’Eclat c’est moi. Zur Faszination unserer Skandale, Weinheim 1989, S. 98-117.

  14. Vgl. SWS-Meinungsprofile: Österreichs Skandale im Spiegel der Meinungsforschung, in: Journal für Sozialforschung, 26 (1986), S. 342-348.

  15. Vgl. Claus Offe. Von der Suchtbildung der Parteien. Vermutungen. wie sich die Flick-Affäre auf Staat und Politik auswirkt, in: Die Zeit vom 7. Dezember 1984, S. 4.

  16. Vgl. Lawrence W. Sherman, Scandal and Reform. Controlling Police Corruption, Berkeley 1978, S. 206 ff.

  17. Vgl. Rainer Staudhammer, B. ananen R. epublik Deutschland? Parteienfinanzierung im Zwielicht von Korruptionsaffären und Skandalgeschichten, in: Vorgänge, 27 (1988) 6, S. 97.

  18. Wie etwa während der Ermittlungen in der Flick-Affäre, vgl. das Sondervotum zum Bericht des Flick-Untersuchungs-ausschusses von Otto Schily (Anlage 1 zur Bundestags-Drucksache 10/5079), oder auch bei der gegenwärtigen parlamentarischen Untersuchung der Praktiken des Berliner Verfassungsschutzes, die den „Fall Schmücker“ betreffen.

  19. Vgl. etwa den langen, resignierten Artikel der journalistischen Berichterstatterin Charlotte Wiedemann in: die ta-geszeitung vom 15. Juli 1988, S. 9.

Weitere Inhalte

Sighard Neckel, Dipl. -Soz., geb. 1956; 1984— 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FU Berlin; seit 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zur Gewerkschaftspolitik an der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals, in: Leviathan, (1986) 4; (zus. mit Helmuth Berking) Der alltägliche Protest gegen das Allgemeine. Über Politik und Lebensstil, in: Merkur, (1986) 451/452; (zus. mit Jürgen Wolf) Die Faszination der Amoralität. Zur Systemtheorie der Moral, mit Seitenblicken auf ihre Resonanzen, in: Prokla, (1988) 70; (Hrsg. zus. mit Rolf Ebbighausen) Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt 1989; (zus. mit Helmuth Berking) Die Politik der Lebensstile in einem Berliner Bezirk. Zu einigen Formen nachtraditionaler Vergemeinschaftung, in: Soziale Welt, Sonderband 7 (1990).