Entwicklung der Politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland
Dirk Berg-Schlosser
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Zusammenfassung
Die deutsche Politische Kultur weist eine besonders wechselvolle Geschichte auf, deren vielfältige Brechungen bis in die Ereignisse der Gegenwart (politische Skandale, Parteienverdrossenheit, aber auch aktuelle „deutsche Frage“) nachwirken. In einem systematischen Aufriß versucht der Beitrag, die Entwicklungen der Politischen Kultur in der Bundesrepublik in den wichtigsten Problemfeldern nachzuzeichnen. Diese betreffen Aspekte der „nationalen“ Identität, allgemeine sozio-kulturelle Orientierungen, „spezifische Unterstützungen“ des politischen Systems durch wirtschaftliche Erfolge und schließlich die Legitimität des politischen Systems selbst im Sinne einer umfassenderen Verankerung und Befürwortung parlamentarisch-demokratischer Verfassungsformen. Hinsichtlich entsprechender Materialien wird in erster Linie auf Umfragen, die unterschiedliche Aspekte Politischer Kultur im Zeitablauf dokumentieren, aber auch auf eine Reihe einschlägiger umfassenderer Studien zu bestimmten Perioden und Bereichen Politischer Kultur der Bundesrepublik zurückgegriffen. Die vorgelegten Befunde dokumentieren ein inzwischen auch im internationalen Vergleich recht beachtliches Ausmaß an „Demokratieverankerung" in der Bundesrepublik, das erheblich über die anfangs vorwiegend auf wirtschaftlichen Erfolgen beruhende „Schönwetterdemokratie“ hinausführt. Dies schließt aber weitere Spannungen und Veränderungen, z. B. hinsichtlich neuerer „post-materialistischer“ Gruppierungen, aber auch in bezug auf jüngere parteipolitische Kristallisationsformen am „rechten“ Rand des politischen Spektrums, nicht aus. All dies bleibt eingebettet in die Kontinuität einer „Staatskultur“, die aber heute in einem wohlfahrtsstaatlichen und partizipatorischen Sinne ergänzt worden ist. Die „nationale“ Frage bleibt offen; politisch-kulturell ist sowohl eine Rückführung in eine gemeinsame Staatlichkeit von Bundesrepublik und DDR trotz stark unterschiedlicher Entwicklungswege, als auch eine „Aufhebung“ in einem gemeinsam gestalteten europäischen Rahmen denkbar.
I. Einführung
Der Ausdruck „Politische Kultur“ hat in den letzten Jahren eine bei seiner ursprünglichen Rezipierung aus dem Amerikanischen kaum zu ahnende Blüte erfahren. Dies gilt für Politiker, Leitartikler oder Fernsehkommentatoren ebenso wie für „ernsthaftere“ sozialwissenschaftliche Studien Während erstere aber den Begriff vorwiegend in einem normativen Sinn verwenden und häufig den „Mangel“ oder den „Verfall“ der Politischen Kultur, des politischen Stils und der politischen Umfangsformen beklagen, beziehen sich die letzteren meistens auf den angelsächsischen Terminus political culture in einem nicht von vornherein wertenden, also deskriptiven und analytischen Sinn.
Die Verquickung zweier so vielfältig besetzter und international unterschiedlich verwendeter Begriffe wie „Politik“ und „Kultur“ bleibt daher problematisch. Im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachgebrauch ist der Kultur-Begriff im Deutschen meist mit der Vorstellung einer bestimmten „Hoch“ -Kul-tur, also als Verkörperung alles „Schönen, Guten, Wahren“, verknüpft. Dem entspricht im Englisehen stärker der Begriff „civilization" bzw. im Französischen „civilisation". Im folgenden soll im wesentlichen auf die sozialwissenschaftliche Ver-Wendung des Terminus Zurückgegriffen werden, wobei in einem komplexeren Verständnis im Einzelfall durchaus auch wertende, aber jeweils eigens anzugebende und zu qualifizierende Elemente (z. B. einer „demokratischen“ oder „partizipatorischen“ Politischen Kultur) berücksichtigt werden. In diesem Sinne bezeichnet Politische Kultur — in der allgemeinsten Form — die „subjektive Dimension“ der gesellschaftlichen Grundlagen politischer Systeme. Diese umfaßt die Gesamtheit aller politisch relevanten individuellen Persönlichkeitsmerkmale, latente, in Einstellungen und Werten verankerte Prädispositionen zu politischem Handeln — auch in ihren symbolhaften Ausprägungen -und hieraus abgeleitetes politisches Verhalten. Oder, wie Glenda Patrick es nach einer umfassenden semantischen Diskussion des Konzepts definiert: „den Satz grundlegender Meinungen, Einstellungen und Werte, die die Art eines politischen Systems charakterisieren und die politischen Interaktionen unter seinen Mitgliedern regeln“
Die Politische-Kultur-Forschung versucht dabei zu stärker objektivierbaren Befunden kultureller Ausprägungen und Unterschiede zu kommen. Im Gegensatz zu lange vorherrschenden „Nationalcharak-ter“ -Studien, die von eher statischen und unwandelbaren Gegebenheiten, nicht selten unter sehr fragwürdigen genetischen und rassischen, aber auch tiefenpsychologischen Prämissen ausgingen hebt „Politische Kultur“ die Lernbarkeit und Veränder-barkeit von Einstellungen und Verhalten hervor. Wissenschaftsgeschichtlich kommt es nicht von ungefähr, daß dieses Konzept vor rund dreißig Jahren gerade auch durch die Befassung mit dem deutschen „Fall“ entwickelt wurde. Die deutsche Geschichte ist ja — wie die keines anderen vergleichbaren Staates — gekennzeichnet durch abrupte Übergänge zwischen sehr unterschiedlichen For-men politischer Systeme in einem historisch sehr kurzen Zeitraum: Kaiserreich, Weimarer Repu-blik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik, aber auch bisher durch den politischen „Antipoden“ DDR. Auf die politisch-kulturellen Konsequenzen dieser Entwicklung soll im folgenden näher eingegangen werden.
Um die Darstellung stärker zu strukturieren, aber auch um auf die Komplexität der behandelten Materie aufmerksam zu machen, soll das in Anlehnung an die systemtheoretischen Konzepte von Parsons und Münch entwickelte Schema Franz Urban Pappis den Rahmen für die nachstehenden Erörterungen abgeben. Die vier gesellschaftlichen Teilsysteme Politik, Ökonomie, Gemeinschaft und sozial-kulturelles System werden auf diese Weise in einen stringenteren Zusammenhang gebracht. So reduziert Pappi den „Kernbereich" Politischer Kultur auf die Frage nach der Legitimität des politischen Systems. In Ergänzung hierzu sieht er die „spezifischen Unterstützungen“ als Beitrag des ökonomischen Systems an. Beides wird durch konsensuelle Normen des sozialen Systems und die Loyalität zur politischen Gemeinschaft abgestützt.
Der Beitrag des sozial-kulturellen Systems schließlich besteht in der diskursiven Begründung der in den politischen Institutionen jeweils konkret realisierten Normen im Hinblick auf allgemeinere Werte. Diese sind z. T. religiös verankert, aber auch Gegenstand von Parteiprogrammen und ideologisch-politischen Auseinandersetzungen. Ein zusätzliches Element in diesem Bereich stellt der sozial-kulturelle Diskurs von Intellektuellen und Wissenschaftlern dar. All dies ist jedoch in einem mehrfach rückgekoppelten dynamischen Gesamtzusammenhang zu sehen, der Spannungen, Krisen und Destabilisierungen, in letzter Konsequenz auch Systembrüche nicht ausschließt.
Dieser noch zwangsläufig abstrakte Rahmen soll im folgenden am Beispiel der konkreten Entwicklungen in der Bundesrepublik gefüllt werden. Diese betreffen zum einen Aspekte der nach wie vor umstrittenen „nationalen“ Identität als der zugrunde zu legenden politischen Gemeinschaft, zum zweiten umfassendere sozio-kulturelle Aspekte charakteristischer Werthaltungen und politischer Orientierungen auch in ihren symbolischen Ausprägungen einschließlich der sie begründenden intellektuellen Diskurse, zum dritten Wechselwirkungen zum ökonomischen System und der hieraus resultierenden Befriedigung materieller Ansprüche und schließlich die Frage nach der Legitimität des politischen Systems selbst und die politisch-kulturelle „Verankerung“ von parlamentarisch-demokratischen Verfassungsformen in der Bundesrepublik.
Im Verlauf der Darstellung wird so auch der politikwissenschaftliche Stellenwert der Politischen-Kultur-Forschung, die auf vielfältige historische und politisch-philosophische, aber auch aktuelle und individuell-sozialisierende Bezüge zurückgreift, deutlicher werden. Sie ist dabei auf eine differenzierte und sich ergänzende qualitative wie quantitative Methodik angewiesen. Sie vermittelt so, in Ergänzung zu weiter notwendigen sozial-strukturellen und politisch-institutionellen Betrachtungsweisen, letztlich ein subtileres „Verstehen“ konkreter politischer Vorgänge bis hin zu möglichen Prognosen aufgrund zu erwartender zumindest mittelfristiger Kontinuitäten. In diesem Sinne kommt der Analyse der Politischen Kultur durchaus auch ein eigenständiger erklärender Stellenwert zu. In Umbruchsituationen, wie z. B.derzeit in der DDR, kommt politisch-kulturellen Kontinuitäten sogar häufig ein höherer Stellenwert zu als z. B. institutionellen Betrachtungsweisen. Ein solches Verständnis stellt auch eine wichtige Grundlage für international komparative, z. T. die jeweiligen Befunde relativierende Betrachtungen dar
All dies kann an dieser Stelle selbstverständlich nur in sehr geraffter und überblicksartiger Form und unter Rückgriff auf die mittlerweile zur Verfügung stehenden einschlägigen, ausführlicheren Studien und Materialien geschehen. Kontinuität und Wandel einiger zentraler Elemente deutscher Politischer Kultur, aber auch weiter bestehende Verwerfungen und Spannungen werden so beleuchtet. Diese verweisen nicht zuletzt auch auf einige der gerade gegenwärtig wieder sehr aktuellen „deutschen“ Fragen und ihre umfassenderen Zusammenhänge.
II.
Abbildung 2
Schaubild 2: Quellen des Nationalstolzes Entnommen aus: Dieter Fuchs, Die Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1989, S. 125. Quellen: Almond, Gabriel A. und Sidney Verba (1963) für 1959; Wildenmann, Rudolf (1978) für 1978. Frage: „Mal ganz allgemein gesprochen: Worauf sind Sie im Hinblick auf unser Land am meisten stolz als . . . (Nationalität)?“ Anmerkung: Mehrfachnennungen sind möglich.
Schaubild 2: Quellen des Nationalstolzes Entnommen aus: Dieter Fuchs, Die Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1989, S. 125. Quellen: Almond, Gabriel A. und Sidney Verba (1963) für 1959; Wildenmann, Rudolf (1978) für 1978. Frage: „Mal ganz allgemein gesprochen: Worauf sind Sie im Hinblick auf unser Land am meisten stolz als . . . (Nationalität)?“ Anmerkung: Mehrfachnennungen sind möglich.
Gemeinschaftssystem: Aspekte der „nationalen“ Identität
Abbildung 3
Schaubild 3: „Deutsche Nation“ und „deutsche KulturQuelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4002, 4075 Entnommen aus: D. Berg-Schlosser/J. Schissler (Anm. 3) S. 208.
Schaubild 3: „Deutsche Nation“ und „deutsche KulturQuelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 4002, 4075 Entnommen aus: D. Berg-Schlosser/J. Schissler (Anm. 3) S. 208.
Zunächst gilt es, den äußeren Rahmen der politischen Gemeinschaft näher zu bestimmen. Dieser ist zwar territorial und institutionell vorgegeben, in politisch-kultureller Hinsicht geht es aber gerade auch um die „innere“ Identifikation der Bürger mit ihrem Staatswesen, sowohl was seine äußeren Grenzen als auch seinen inneren Gehalt angeht Im Fall der Bundesrepublik, aber auch der DDR als nach dem Zweiten Weltkrieg künstlich geschaffenen Gebilden stellt sich dieses Problem in besonderer Weise. Darüber hinaus ist eine solche Identifikation durch die wechselvolle Geschichte der Deutschen in erheblichem Maße vorbelastet. Die lange vorherrschende Kleinstaaterei, die „verspätete“ Nationwerdung unter preußischem Vorzeichen die nationalistischen und rassistischen Exzesse der Weltkriege und des Holocaust und schließlich die erneute Teilung und die Einbettung in unterschiedliche internationale Bündnissysteme prägten die „deutsche“ Identität in sehr spezifischer Form: Vielfältige regionale politisch-kulturelle Besonderheiten gemeinsame traumatische Erfahrungen und eine „kollektive Scham“ aber auch über die derzeitigen Grenzen hinausreichende, z. T. „deutsch-deutsche“, z. T. supranational europäische Bezüge kennzeichnen das vielfältig gebrochene, teilweise aber auch „geläuterte“ („post-konventionelle“ in der Bezeichnung von Jürgen Haber-mas deutsche Bewußtsein. Kein Deutscher kann jedenfalls ernsthaft auch nur den Versuch unternehmen, völlig unbefangen und losgelöst von diesen vielfältigen historischen und sozialen Verwicklungen leben zu wollen. Davor kann auch keine „Gnade der späten Geburt“ schützen. Dies wird jedem spätestens bei einem Besuch im Ausland, aber auch bei den aktuellen innenpolitischen Diskussionen bewußt.
Andererseits können solche Identifikationen, auch im Selbstverständnis des einzelnen, nicht immer nur und ausschließlich im negativen Sinne begriffen werden. Sie stellen, ab einem gewissen Lebensalter, eine „soziale Haut“ dar, die bestimmte sprachliche und mundartliche, aber auch im engeren Sinne politisch-kulturelle Prägungen umfaßt, deren sich niemand mehr gänzlich und ohne Schwierigkeiten entledigen kann. Diese Prägungen als verschieden von anderen, damit aber nicht von vornherein und in jedem Falle als besser oder schlechter zu empfinden, ist ebenfalls Merkmal einer „geläuterten“ Identifikation. Häufig weisen allerdings Personen, die Probleme mit ihrer „Ego-Identität“ in einem psychologischen Sinne haben, gerade auch Schwierigkeiten mit ihrer sozialen und „nationalen“ Identität auf, die dann wieder Nährboden für entsprechende Exzesse sein können
Die umfassenden historischen und weltpolitischen Bezüge des „deutschen“ Problems und seiner sozialpsychologischen Ausprägungen können an dieser Stelle nur angedeutet werden Aber auch im engeren politisch-kulturellen Sinne bleibt eine nähere empirische Aufschlüsselung der angesprochenen Aspekte schwierig. Die im folgenden aufgeführten Befunde sollen wenigstens einige Anhaltspunkte liefern. Wichtigste quantitative Quelle hierfür sind Umfragedaten, insbesondere des Instituts für Demoskopie in Allensbach, das über die umfassendsten Zeitreihen solcher Umfragen für die Bundesrepublik verfügt. Allerdings wohnen auch dem Erklärungswert solcher Daten, über technische Probleme der Erhebung und Verfügbarkeit hinaus, gewisse immanente Schranken inne
Einer der — auch im internationalen Vergleich — häufig verwendeten Indikatoren für Nationalbewußtsein ist die Frage: „Sind Sie stolz, . . . (Angehöriger einer bestimmten Nationalität) zu sein?“ Daß ein solcher „Stolz“ in der Bundesrepublik durchaus gebrochen ist, zeigt Schaubild 1: Unter den untersuchten 15 Staaten steht die Bundesrepublik an letzter Stelle. Daß dieser Befund keine Eintagsfliege ist, belegen andere ähnliche Erhebungen Nach dem Objekt des Stolzes gefragt, werden jedoch wichtige Verschiebungen im Zeitab-lauf deutlich. Wurden in der Bundesrepublik in der ersten umfassenderen Studie von Gabriel Almond und Sidney Verba, deren Daten 1959 erhoben wurden, noch vorwiegend wirtschaftliche Erfolge, allgemeine Eigenschaften der Bevölkerung und Leistungen in Kunst und Wissenschaft genannt, so nahmen Ende der siebziger Jahre das politische System und sozialstaatliche Errungenschaften einen deutlich höheren Rang ein (vgl. Schaubild 2). Mögliche Differenzierungen des „deutschen“ Bewußtseins — bezogen auf politische wie auf kulturelle Inhalte — kommen in weiteren Fragen zum Ausdruck (vgl. Schaubild 3).
Auch hier war eine deutliche Zunahme einer separaten bundesrepublikanischen Identität, vor allem in auf die Gegenwart und Zukunft gerichteten Fragestellungen zu beobachten. Deutlich abgestuft dazu ist die Einbeziehung der DDR. Die ehemaligen Ostgebiete werden nur noch von einer relativ geringfügigen Minderheit als aktueller Bestandteil der deutschen Nation betrachtet Über vergleichbare Befunde zu Auffassungen in der DDR selbst verfügen wir nicht. Identifizierung mit dem sozialistischen Regime und „DDR-Bewußtsein“ fielen dort aber offenbar in erheblichem Maße zusammen Die Brüchigkeit des einen bewirkt heute auch eine Umorientierung des anderen. Jeweils spezifische politisch-kulturelle Veränderungen in den beiden deutschen Staaten während der vergangenen vierzig Jahre beziehen sich aber auch auf den allgemeineren sozio-kulturellen Bereich.
III. Sozio-kulturelles System
Abbildung 4
Schaubild 4: Soll-und Ist-Beschreibung einer Demokratie Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach (Anm. 47), S. 43.
Schaubild 4: Soll-und Ist-Beschreibung einer Demokratie Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach (Anm. 47), S. 43.
Das sozio-kulturelle Teilsystem spiegelt die Grundwerte einer Gesellschaft wider und reflektiert sie in ihrem Sinngehalt. In traditionalen Gesellschaften war die Vermittlung und Interpretation solcher Werte eng mit einer transzendental-religiösen Sphäre verbunden, die häufig durch eine Priesterschaft vorgenommen wurde und die die bestehende soziale und politische Ordnung legitimierte. In modernen Gesellschaften ist dagegen eine weitgehende Säkularisierung und rational-argumentative Begründung der jeweiligen Grundwerte anzutreffen. Dennoch haben solche Werte und vor allem ihre Verkörperung in bestimmten Symbolen und Ritualen auch einen erheblichen affektiven Gehalt. Die längerwährenden Traditionen z. B.der britischen, amerikanischen oder französischen Politischen Kultur, aber auch der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution, mit ihren jeweiligen Ritualen, nationalen Feiertagen usw. machen dies deutlich. Einige Autoren sprechen daher von einer „Zivilreligion“ im Hinblick auf solche Aspekte
Zur argumentativen Begründung gehört aber auch die fortwährende Auseinandersetzung und kritische Befassung mit solchen Positionen in Kunst und Wissenschaft, die sich sozusagen auf einer MetaEbene als „Kultur von Kultur“ oder „Deutungskultur“ abspielen. Solche Diskurse tragen nicht zu-letzt auch zur Anpassung und Weiterentwicklung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse bei. Diskurse dieser Art entwickeln nicht selten ihre eigene Sprache und „Codes“ und spiegeln sich häufig innerhalb und zwischen bestimmten ideologisch-politischen Lagern, wie z. B. einem konservativen und einem progressiven, ab 1. Politische Wertorientierungen In Deutschland hat die politische Aufsplitterung und konfessionelle Spaltung nach der Reformation und Dreißigjährigem Krieg zu besonderen Verwerfungen der sozio-kulturellen Landschaft geführt. Das Territorialprinzip des „cuius regio eius religio“ bewirkte die Bindung an bestimmte Sub-Kulturen und Interpretationsmuster, die z. T. in abgeschwächter Form noch bis zum heutigen Tag fort-wirken. So ist z. B. das Wahlverhalten in einigen kleinen ländlichen katholischen Enklaven in Mittel-hessen, die seinerzeit den Bistümern Fulda oder Mainz zugeschlagen wurden und die sich sozio-ökonomisch und in anderer Hinsicht in so gut wie nichts von ihren protestantischen Nachbardörfem unterscheiden. nach wie vor deutlich konfessionell geprägt
In Preußen und damit auch später im Deutschen Reich nach 1871 wurde dagegen eine Politische Kultur dominant, die auf der Akzeptanz der weltlichen Obrigkeit im Luthertum gründete. Sie blieb konfessionell neutral („suum cuique“) und ersetzte eine transzendentale Begründung durch die Idealisierung des Staates als solchem. Insbesondere Hegel hatte in seiner „Philosophie des Rechts“, in der er den Staat als „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257) bezeichnete, zu einem solchen Staats-Verständnis beigetragen. Nur zu gern wurde dies auf die konkrete Realität des straff organisierten preußischen Staates bezogen. Der so idealisierte Staat sollte das Gemeinwohl gegenüber der Vielzahl von Partikularinteressen von Individuen und Gruppen sicherstellen. Dem Staat gegenüber war allerdings strikte Loyalität gefordert. Die oft karikierten „deutschen Sekundärtugenden“ von absolutem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, Ordnungsliebe und Disziplin entfalteten sich so zu voller Blüte.
Aus derselben Quelle speisten sich apolitische und formalistische Traditionen Partizipatorische Ansätze des „Vormärz“ und Äußerungen sozialen Protestes die eine demokratische Form moderner Legitimität begründen wollten, blieben demgegenüber in der Minderheit und scheiterten in der bürgerlichen Revolution von 1848. Zur Politischen Kultur dieser Epoche stellte kein geringerer als Max Weber 1918 fest: „Was war . . . Bismarcks politisches Erbe? — Er hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen. gewohnt, daß der große Staatsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen werde.“
Diese tradierten Elemente waren in Weimar nicht mehr zu einer dominanten Politischen Kultur geeint, vielmehr muß von tiefgreifenden Identitätsproblemen gesprochen werden. Unterschiedliche „Lager“ und „Sozialmilieus“, insbesondere ein kleinbäuerlich-katholisches, ein sozialistisch-proletarisches und ein protestantisch-kleinbürgerliches, die jeweils noch eigene regionale Schwerpunkte aufwiesen, standen einander weitgehend unverbunden gegenüber Damit war die prekäre Politische Kultur des Kaiserreichs in Richtung auf eine dramatische Fragmentierung hin aufgelöst; die Kontinuität wurde zugunsten einer Systemdesintegration aufgegeben, die dann für den Nationalsozialismus offen war „Antidemokratisches Denken“, wie Sontheimer es geschildert hat, war insbesondere 23) in den Oberschichten, im Militär, z. T. aber auch in den Kirchen, stark verbreitet. Die Weimarer „Demokratie ohne Demokraten“ endete dann im nationalsozialistischen Führerstaat, in Weltkrieg und Holocaust. Politisch-kulturell hinterließ diese Epoche einschließlich der vorangegangenen ökonomischen Krisen und der Erfahrungen beider Weltkriege eine tiefgreifende Diskontinuität deutscher politischer Entwicklungsmuster und Ausprägungen.
Die Nachkriegszeit war so zunächst von einer grundlegenden politischen Verunsicherung, Desillusionierung bis hin zu Zynismus und Apathie gekennzeichnet. Politisch Lied war mehr denn je ein garstig Lied, und die unmittelbaren ökonomischen Bedürfnisse standen eindeutig im Vordergrund. Die in dieser Zeit insbesondere vom Office of the Military Government ofthe United States (OMGUS) durchgeführten und mittlerweile auch für weitere Auswertungen zur Verfügung stehenden Umfragen belegen dies deutlich Die Betonung ökonomischer Sicherheiten gegenüber politischen Freiheiten von nahezu zwei Dritteln der Bevölkerung blieb ein durchgängiger Grundzug der ersten Jahre. Dennoch ist dieses Bild, wie mittlerweile differenziertere Studien zeigen etwas zu relativieren. Zumindest auf der lokalen Ebene konnte vielfach an genuin-partizipatorische Verhaltensweisen und Organisationsformen, z. B. auch an ein reichhaltiges Vereinsleben, angeknüpft werden. Soweit dadurch Kommunalpolitik berührt wurde, wurde diese in erster Linie als eher neutrale „Sachpolitik“ im Gegensatz zu parteipolitischen Auseinandersetzungen, demokratischer Mehrheitsbildung usw. verstanden. Die westlichen Besatzungsmächte, vor allem die Amerikaner, sahen ihre politisch-kulturelle Aufgabe daher in erster Linie in einer Entnazifizierung und demokratischen Umerziehung des deutschen Volkes So faßt auch Frederick Williams, der die OMGUS-Umfragen verantwortlich durchführte, diese Aufgabe im Vorwort des von den Merritts herausgegebenen Bandes zusammen: „Die Militärregierung war vor allem mit Veränderung befaßt -eine Veränderung, die interpretiert wurde als die politische Reifung des deutschen Volkes, eine Zunahme seiner Bereitschaft. Verantwortung zu übernehmen als Individuen und als eine große Nation. Eine Vertiefung des Bewußtseins der Natur einer freien Gesellschaft, mit ihren Stärken und Schwächen, eine Verbesserung der Kenntnisse des Volkes, seiner eigenen Nationalgeschichte und des Charakters der Tyrannen, die es unterstützt hatte.“
Gabriel Almond, der spätere „Vater“ der Politischen-Kultur-Forschung, kam in dieser Zeit zunächst als amerikanischer Offizier nach Deutschland und gab 1949 ein Buch über „The Struggle for Democracy in Germany“ heraus, dessen explizites Ziel es war, „die irreführende Geschichte der Kriegsperiode, die Deutschland gänzlich außerhalb der Grenzen westlicher historischer und politischmoralischer Entwicklungen gestellt hatte, zu korrigieren. Wir sind der Auffassung, daß eine solche Politik auf der Übertreibung historischer Trends basierte und daß es nunmehr die Aufgabe der Verantwortlichen ist, den Teil des deutschen Erbes zu entdecken und zu stärken, der zu Liberalismus und Demokratie neigt.“
Aber auch die „Väter“ und (wenigen) „Mütter“ des Grundgesetzes für die 1949 gebildete Bundesrepublik zeichneten sich durch ein erhebliches Maß an Skepsis gegenüber direkteren Formen der Demokratie, wie z. B. Referenden u. ä., aus Die demokratische „Wertgebundenheit“ der Verfassung, insbesondere des Grundrechtskatalogs und des föderativen Aufbaus, wurde als unveränderbar festgelegt (Art. 79, 3). Daß ein solches Mißtrauen reale politisch-kulturelle Bezüge hatte, zeigten die Antworten auf eine weitere OMGUS-Umfrage aus dieser Zeit: „Würden Sie, wenn Sie die Gelegenheit hätten, darüber zu entscheiden, für die Bonner Verfassung stimmen oder dagegen?“ Nur ein knappes Drittel der Befragten in nahezu allen Landesteilen stimmte zu, beinahe zwei Drittel äußerten keine Meinung
Die Gründung des neuen Staates hatte, neben anderen sozialstrukturellen Veränderungen als Folge der Nazi-Herrschaft und des Zusammenbruchs, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann auch eine Umgewichtung der relativen Bedeutung der früheren politisch-kulturellen „Lager“ zur Folge. Der katholische Bevölkerungsteil vor allem in Süddeutschland und im Rheinland, der im Deutschen Reich minoritär war und sich in einem preußisch geprägten Staatsverständnis lange Zeit weitgehend ausgegrenzt gesehen hatte, machte nun etwa die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik aus. Umgekehrt war die Bevölkerung der DDR, soweit sie sich überhaupt einer Konfession zugehörig fühlte, fast ausschließlich protestantisch geprägt. Der Katholizismus sollte so zu einer wichtigen, z. T. sogar unter der Ägide Adenauers und der CDU/CSU in erheblichem Maße bestimmenden politischen Kraft werden Wie Untersuchungen zu dieser Zeit belegen, war das Staats-und Gesellschaftsbild dieser Kreise — in eigener Akzentuierung — überwiegend konservativ und autoritär geprägt Auch in dieser Hinsicht war der Neuanfang also mit spezifischen Hypotheken belastet.
Das politisch-kulturelle Fazit der Almond/Verba-Studie, das die Situation der fünfziger Jahre in der Phase des Wiederaufbaus und des einsetzenden „Wirtschaftswunders“ beleuchtet, blieb daher zwiespältig: „Das hohe Entwicklungsniveau im Kommunikationsund Erziehungswesen spiegelt sich in der Tatsache wider, daß die meisten Deutschen gut informiert über Politik und Regierung sind. Die Wahlbeteiligung ist hoch, wie auch die Auffassung, daß Wählen eine wichtige Aufgabe des Staatsbürgers darstellt. Ebenso ist der Anteil politischer Themen in den Massenmedien und die Teilnahme der Bevölkerung daran hoch. Darüber hinaus ist die Politische Kultur durch ein hohes Maß an Vertrauen in die Verwaltung und ein erhebliches Kompetenzgefühl im Umgang mit ihr gekennzeichnet. Dennoch spiegelt die gegenwärtige Politische Kultur auch Deutschlands traumatische politische Geschichte wider. Das Bewußtsein von Politik und politischer Aktivität, obwohl beträchtlich, tendiert eher dazu, passiv und formal zu sein . . . Normen, die politische Partizipation begünstigen, sind nur gering entwickelt . . . Deutschland ist das einzige unter den fünf untersuchten Ländern, in dem ein Gefühl für Verwaltungskompetenz stärker als politische Kompetenz entwickelt ist. Daher, obwohl ein relativ hoher Informationsstand anzutreffen ist, bleibt die Orientierung gegenüber dem politischen System relativ passiv — die Orientierung von Untertanen eher als die von aktiv Teilnehmenden . . . Obwohl die Zufriedenheit mit den Leistungen von Regierung und Verwaltung relativ weit verbreitet ist. entspricht dem nicht auch eine stärkere gefühlsmäßige Bindung an das System.“
Die sechziger Jahre leiteten dann bemerkenswerte Veränderungen ein. Hierzu trugen sowohl sozialstrukturelle Umschichtungen (Stichworte: „neuer Mittelstand“, Entwicklung zur „Dienstleistungsgesellschaft“) als auch vor allem der Generationenwandel — wie er nicht zuletzt auch in der „ 68er-Generation“ sichtbar wurde, die ihre wesentlichen Prägungen in der Nachkriegszeit erfahren hatte — und die Einbindung in das westliche Kommunika-tionssystem bei. Der „Machtwechsel“ in Bonn 1969 bekräftigte diese Tendenzen. „Mehr Demokratie wagen“, gab Willy Brandt als Parole aus. Die aktive Beteiligung der Bürger z. T. in „unkonventionellen“ Formen erstreckte sich zunehmend auch auf weitere Bereiche des sozialen und politischen Umfelds. Demonstrationen, Bürgerinitiativen, die „neuen sozialen Bewegungen“, insbesondere die Ökologie-, Frauenund Friedensbewegung, wurden mehr und mehr zu signifikanten Bestandteilen der politischen Alltagskultur
Ein wesentlicher Einflußfaktor hierbei wurde von Ronald Inglehart in einer allgemeineren „stillen Revolution“ gesehen, die die Politische Kultur der westlichen Industriestaaten transformiere. Angesichts einer zunehmenden Befriedigung ökonomischer Bedürfnisse käme es im Zuge des Generationenwandels zu einer Herausbildung „post-materialistischer“ Orientierungsmuster und Verhaltensweisen. Angesichts dieser neuen sozialen Spaltung („cleavage“) fänden auch ökologisch orientierte Parteien wie „Die Grünen“ eine dauerhafte und im Zeitverlauf wachsende Basis. Wenn auch die konkreten Annahmen und Konsequenzen seines Mo-dells recht mechanistisch formuliert wurden und seine empirischen Erhebungsmethoden sehr zu wünschen übrig ließen so erfaßt doch der auch von anderen Autoren konstatierte Wertewandel besonders in Teilen der jüngeren Generation mit höheren Schulabschlüssen ein reales Phänomen.
Während aber z. B. Peter Reichel noch Anfang der achtziger Jahre weiterhin die These der weitgehend ungebrochenen Kontinuität der Politischen Kultur seit dem Kaiserreich vertrat, waren es er-neut vor allem amerikanische Sozialwissenschaftler, die die eingetretenen Wandlungen in umfassenderer Form auch empirisch dokumentierten. (Dies wirft nicht zuletzt auch ein gewisses Licht auf die Ausrichtung des größten Teils der bundesdeutschen Politikwissenschaft und ihre interne Polarisierung in dieser Zeit.) So kam David Conradt in einem kritischen Rückblick aufdie ursprüngliche Almond/Verba-Studie, zu dem er umfangreiche neuere Materialien heranzog, zu dem Schluß: „Ihr Portrait der deutschen Politischen Kultur hat sich in jeder wichtigen Beziehung gewandelt. Die Bonner Republik hat, anders als ihre Vorgängerin, ein Reservoir kultureller Unterstützung aufgebaut, die sie in die Lage versetzen sollte, mit den zukünftigen Problemen der Qualität und des Ausmaßes von Demokratie mindestens ebenso wirksam fertig zu werden wie andere . spätkapitalistische* westliche Demokratien.“ Und im Klappentext der bis dahin gründlichsten Studie dieser Art hieß es geradezu euphorisch: „Ein neues Deutschland ist entstanden, so demokratisch, kultiviert, wohlhabend und modern wie jede andere westliche Nation.“
Eine von Allensbach zum 30jährigen Bestehen der Bundesrepublik verfaßte Studie über die „Demokratie-Verankerung“ unterstreicht im wesentlichen solche Befunde (vgl. Schaubild 4).
Bezogen nicht auf eine idealisierte, sondern „real in den Köpfen existierende“ Vorstellung von Demokratie wurden insbesondere die Verwirklichung freiheitlicher Grundwerte. Parteienpluralismus, Unabhängigkeit der Justiz und Rechte der Opposition überwiegend befürwortet und in der Bundesrepublik als gegeben angesehen. Hinsichtlich der Freiheit der Berufswahl, der Benachteiligung der Mitglieder extremer Parteien und extremer Einkommensunterschiede wurden jedoch auch Abstriche gemacht, die auf konkrete Punkte der damals aktuellen Auseinandersetzungen (Stichwort: „Berufsverbote“ bzw. „Extremistenbeschluß“) verweisen. Die Grenzen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wurden auch durch die terroristischen Exzesse der „Rote Armee Fraktion“, besonders dramatisch im „deutschen Herbst“ von 1977, auf eine ernsthafte Probe gestellt. Die erhoffte Provokation gelang jedoch nicht. Die staatlichen Instanzen reagierten im großen und ganzen besonnen. In der Öffentlichkeit stießen Aktionen auf breiten die Un-Verständnis und Ablehnung; sie hatten sogar eher einen „demokratisch-solidarisierenden“ Effekt Internationale Vergleiche bestätigen eine erhebliche Angleichung politischer Einstellungen und Verhaltensmuster in den westlichen Demokratien und damit auch eine gewisse „Normalisierung“ der Politischen Kultur der Bundesrepublik. Samuel Barnes, Max Kaase und ihre Mitarbeiter bezogen dabei insbesondere auch Formen „unkonventionellen“ politischen Verhaltens in ihre Untersuchung ein. Diese reichen von der Beteiligung bei Unterschriftenaktionen über aktive Teilnahme an Demonstrationen und Boykottmaßnahmen bis hin zu Häuserbesetzungen, Verkehrsblockaden u. ä. In Kombination mit konventionelleren Formen politischer Partizipation entwickelten sie hieraus eine fünffache Typologie von in beiden Hinsichten „Inaktiven“, von nur konventionell partizipierenden „Konformisten“, von ausschließlich unkonventionellen „Protestlern“ und den Mischformen von „Reformisten“ und „Aktivisten“, wobei der Akzent bei den letzteren stärker auf den unkonventionellen Partizipationsformen liegt. auch die viel zitierte Studie des SINUS-Instituts die ein Potential von etwa 13 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mit einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“ ausmachte. Hierunter finden sich z. T. alte und neue Nazis, die in gewissen Sub-Milieus Nischen für ihre Vorstellungen gefunden haben, zunehmend aber auch „Verlierer“ des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, die als jüngere, weniger gebildete Arbeitslose oder marginal Beschäftigte nur wenig Zukunftschancen sehen und rechtspopulistischen Parolen (auch bezogen auf Ausländer usw.) leichter Glauben schenken. Für solche Kreise bilden die „Republikaner inzwischen einen neuerlichen parteipolitischen Kristallisationskern 2. Politische Codes Die geschilderten Konflikte und Veränderungen fanden ihre Entsprechung auch in den Debatten und intellektuellen Diskursen dieser Epoche. Diese betrafen nicht zuletzt grundsätzlichere Fragen der Voraussetzungen, der Qualität und der Grenzen von Demokratie. Die einen stellten „Legitimitäts-Das deutsche Bild ist hier ähnlich differenziert wie in den anderen Staaten: „Inaktive“ und „Konformisten“ gibt es etwas weniger als z. B. in Österreich oder Großbritannien; „Reformisten“, aber auch „Protestler“ sind dagegen relativ stark vertreten.
Die Feststellung dieser Entwicklungen zeigt, daß die „neue“ Politische Kultur keineswegs homogen ist und z. B. auf dem „rechten“ Rand erhebliche autoritäre Potentiale aufweist. Dies belegte u. a.
Probleme des Spätkapitalismus“ fest, andere beklagten die „Verunsicherung der Republik“ oder befürchteten angesichts aktueller ökonomischer Probleme und der Zunahme partizipatorischeru. a. Ansprüche ihre „Unregierbarkeit“ Die „Wertgebundenheit“ der Verfassung begann sich an Teilbereichen ihrer demokratischen Akzeptanz — insbesondere was die Einforderung von stärker „basisdemokratischen“ Bezügen und Verfahren anging — zu reiben. Dies kam auch in der von Bundeskanzler Schmidt in Gang gesetzten Debatte über „Grundrechte“ und „Grundwerte“ zum Ausdruck, die führende Repräsentanten der politischen Parteien, der Kirchen, der Staatsrechtslehre usw. einschloß Während in den großen politischen Parteien in verbal geringfügig unterschiedlicher Nuancierung weitgehend Einmütigkeit über die zentralen Grundwerte der Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit und Solidarität bekundet wurde, gin-gen die Auffassungen über ihre Anwendungen auf konkret anstehende Probleme erheblich auseinander. Auch das Bundesverfassungsgericht spielte in dieser Phase durch eine relativ extensive Auslegung seiner Kompetenzen gegenüber parlamentarischen Mehrheitsbeschlüssen (z. B. hinsichtlich der Ostverträge, des § 218 usw.) für die politischen Diskurse eine erhebliche Rolle. Die katholische Kirche verharrte dabei weitgehend in konservativen Positionen, während die Protestanten zunehmend zum „Trendsetter“ gesellschaftlicher Umgestaltungen wurden
Insgesamt zeigte sich eine starke Polarisierung der Debatte, wie sie etwa in Wahlslogans wie „Freiheit oder Sozialismus“ zum Ausdruck kam. Dies gilt auch für den Streit um die politische Bildung, einer wichtigen Quelle politischer Kultur, der z. T. heftige Formen annahm Auch bei der Berufungspraxis an den Hochschulen konnte man deutliche Tendenzen registrieren je nach „C“ -oder „S“ -(unions-oder sozialdemokratisch regierten) Ländern
Die kritische Begleitung und Reflexion aktueller politischer Prozesse bleibt aber ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Politischer Kultur. Diese kam z. B. in vielen der von Jürgen Habermas gesammelten „Stichworte zur . Geistigen Situation der Zeit“ zum Ausdruck. Sie ist aber auch Aufgabe unabhängiger Medien. Gerade der „FlickSkandal“ und die „Barschel-Affäre“, die ein erhebliches Maß ökonomisch-parteipolitischer Verfilzung und politischer Selbstherrlichkeit offenbarten, belegten dies in besonderer Weise Ein ausreichendes Maß kritischer Rückkopplung und jeweils nur auf Zeit legitimierte Herrschaft macht geradezu den Kern demokratischer Verfahrensweisen aus. Ihre faktischen Einschränkungen und Behinderungen treffen dann leicht den Kem der Glaubwürdigkeit einer repräsentativ verfaßten Parteiendemokratie. Dies gilt in besonderem Maße im Gefüge einer „Staatskultur“ die im Gegensatz zu einer durch Aushandeln und „Durchwursteln“ („muddling through“) gekennzeichneten angelsächsischen „ci-vil society“ ganz im Hegelschen bzw. preußischen Sinne die unmittelbare Verkörperung des Gemeinwohls durch die staatlichen Instanzen für sich in Anspruch nimmt. Die Neutralität und Rechtsgebundenheit der öffentlichen Verwaltung stellen in dieser Hinsicht ein hohes Gut dar, wenn auch gelegentlich Formalismus, übertriebene Juridifizierung und bürokratische Schwerfälligkeit als störend empfunden werden. Das von seinen Standesvertretem gern in Anspruch genommene Ethos des deutschen Berufsbeamtentums gründet sich auf diese Traditionen. Es sei hier nur am Rande bemerkt, daß gerade auch die Verletzung solcher Normen durch führende staatliche Repräsentanten der DDR, die in eher noch stärkerem Maße solche Traditionen reklamierten, bei den jüngsten Enthüllungen nach dem Umbruch auf besonders große Empörung stieß.
Partielle deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten werden hier deutlich. Bezeichnend war z. B., daß in derselben Nachrichtensendung des Fernsehens im Dezember 1989 sowohl der neue Ministerpräsident der DDR als auch der gerade bestellte Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank sich jeweils auf ihr „preußisches Erbe“, mit dem sie in erster Linie Pflichterfüllung, hohen Arbeitseinsatz und Disziplin verbanden, beriefen. Wie unterschiedlich ein solches Ethos inhaltlich gefüllt werden kann, zeigen aber ihre jeweiligen beruflichen Aufgaben und Ziele! Insofern darf manche Gemeinsamkeit nicht über mittlerweile tatsächlich eingeschlagene unterschiedliche Entwicklungswege hinwegtäuschen. Dies zeigte sich u. a. in vielfältigem gegenseitigen Erstaunen bei den nun möglich gewordenen Begegnungen in bezug auf viele Bereiche des Alltagslebens. Es gilt aber auch in erheblichem Maß für partizipatorische Aspekte der Politischen Kultur der DDR und pluralistische Formen der Konfliktregelung, wie sie sich jetzt erst neu und ungewohnt und insofern z. T. vergleichbar mit dem Neubeginn in der Bundesrepublik nach 1949 entfalten. Innerhalb der Politischen Kultur der DDR besaß die SED bisher das offizielle „Deutungsmonopol". Die Reaktion der Bürger bestand dabei — neben geforderten öffentlichen Akklamationen — in erster Linie in einem Rückzug in die private Lebenswelt Konkurrierende Deutungsmuster in Literatur, Kunst, Wissenschaft usw. wurden nur sehr selektiv und begrenzt zugelassen. Allein die evangelische Kirche konnte sich eine gewisse Autonomie bewahren. Hierin und in den ihr zur Verfügung stehenden organisatorischen Ressourcen liegt auch die Erklärung für die zentrale Rolle vieler ihrer Funktionsträger in der gegenwärtigen Umbruchsituation.
X USA n= 1613 X 12. 3 17. 5 36. 0 14. 4 19. 8 100 Deutschland
X 26. 6 13. 5 24. 6 8. 0 27. 3 100 n « 2207 Quelle: Max Kaase/Alan Marsh, in: S. H. Barnes/M. Kaase (Anm. 49), S. 36ff. Österreich
X 34. 9 19. 2 20. 9 5. 9 19. 1 100 n« 1265
Auch das ökonomische System soll hier nur von seiner politisch-kulturellen Seite her betrachtet werden. „Objektive“ Aspekte wie Fragen der Wirtschaftsstruktur.der materiellen Produktionsleistungen usw. werden also ausgeklammert. Auch ökonomische Orientierungen im weiteren Sinne wie Leistungsmotivationen, eine bestimmte „Wirtschaftsethik“ u. ä. stehen hier nicht zur Debatte. Ein indirekter politisch-kultureller Effekt ergibt sich aber in bezug auf die „spezifischen Unterstützungen“ des politischen Systems aufgrund der Befriedigung materieller Bedürfnisse. Diese Form der Unterstützung ist aber jeweils konkret leistungsbezogen und befristet und insofern vom allgemeineren Legitimitätseinverständnis mit dem politischen System („diffuse Support“ im Sinne Eastons zu trennen. So war es ja gerade einer der Befunde der Almond/Verba-Studie und anderer Erhebungen in den fünfziger und sechziger Jahren, daß neben einer stärkeren „Untertanen“ -Orientierung die bekundete Akzeptanz des politischen Systems eher auf seiner unmittelbaren ökonomischen Leistungsfähigkeit in dieser Periode beruhte und man daher von einer „Schönwetterdemokratie“ sprechen mußte
Die erste leichtere Wirtschaftsrezession 1966/67 resultierte in einem erheblichen Anstieg des rechtsextremen Wählerpotentials und dem Einzug der NPD in mehrere Länderparlamente. Eine Vertretung im Bundestag, die auch andere Koalitionen notwendig gemacht hätte, wurde 1969 nur sehr knapp verpaßt. Die ungleich stärkeren ökonomischen Krisen der siebziger und frühen achtziger Jahre, deren Ursa-chen in erster Linie weltwirtschaftlicher Art waren, wurden dagegen nicht mehr von ähnlichen Erscheinungsformen begleitet. Wenn auch weiterhin rechtsradikale Wählerpotentiale vorhanden waren, so erschienen ihnen die Perspektiven auf der Ebene einer parteipolitischen Artikulierung in dieser Phase offenbar doch wenig erfolgversprechend zu sein.
Empirisch ist es relativ schwierig, z. B. in Umfragen diese Form der spezifischen Unterstützung von einem allgemeineren Legitimitätseinverständnis und die Unterstützung einer konkreten Regierung von der Zufriedenheit mit dem System insgesamt zu unterscheiden. Dies hängt z. T. auch von derjeweiligen Frageformulierung ab. Eine Gegenüberstellung der Zufriedenheit mit der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und der Demokratiezufriedenheit in der jüngeren Vergangenheit zeigt begrenzte Schwankungen auf einem relativ hohen Niveau der Zustimmung
V. Politisches System
Abbildung 6
Schaubild 6: Unterstützung von Institutionen des politischen Systems Quellen: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978— 1983 (1983); Institut für Demoskopie Allensbach
Schaubild 6: Unterstützung von Institutionen des politischen Systems Quellen: Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978— 1983 (1983); Institut für Demoskopie Allensbach
Der Kernbereich jeder Politischen Kultur betrifft die Legitimität des politischen Systems. Sie bezieht sich auf die grundlegende Akzeptanz der jeweiligen politischen Ordnung sowohl in bezug auf die von ihr verkörperten Werte und Normen als auch hinsichtlich der zentralen institutioneilen Regelungen. Max Weber unterschied in dieser Hinsicht bekanntlich die drei Haupttypen der „traditionalen", der „charismatischen“ und der „rational-legalen“ Legitimi-tät Systemtheoretisch weiter differenziert lassen sich jeweils mehrere Quellen und Objekte von Legitimität bzw. generalisierter politischer Unterstützung („diffuse support“) Unterscheiden
An dieser Stelle interessiert insbesondere die grundlegende Akzeptanz der parlamentarisch-demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik insgesamt. Das schließt Kritik an derjeweiligen Regierung oder in einzelnen Punkten selbstverständlich nicht aus. In der Formulierung F. U. Pappis: „Die (1979).
Entnommen aus: Dieter Fuchs. Die Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1989, S. 97.
Nagelprobe der Politischen Kultur in einer Demokratie Periode war nicht mehr das Kaiserreich oder ist der Gehorsam oder die Duldung von politischen NS-Zeit bis zum Kriegsausbruch, sondern Entscheidungen, mit denen man nicht übereinstimmt.“ in zunehmendem Maße die bundesrepublikanische Von politischer Stabilität kann man Gegenwart. Dies gilt auch für konkrete dann sprechen, wenn Politische Kultur und politische der politischen Institutionen. Parlament Strukturen weitgehend im Einklang stehen. und Mehrparteiensystem sind mittlerweile zu Dies ist aber im Sinne eines dynamischen Gleichgewichts Bestandteilen der politischen aufzufassen, bei dem die Regelungskapazitäten geworden (s. Schaubild 6). Auch detaillierte des Systems ausreichen, den Wandel in Teilbereichen Untersuchungen zu einzelnen Institutionen zu verarbeiten, ohne seine Grundlagen zu belegen im großen und ganzen ein hohes Maß an gefährden Akzeptanz
Insofern verwiesen die in der Almond/Verba-Stu-Dieses insgesamt positive Bild bedarf aber einiger die geäußerten Bedenken hinsichtlich der mangelnden Wenn man sich die Zustimmung inneren Akzeptanz und emotionalen Bindung zu den „etablierten Parteien“ — als immerhin die neugeschaffenen politischen Strukturen auf den wichtigsten Transmissionsriemen politischer zentralen Sachverhalt. Wie aber im vorherigen Willensbildung in einem parlamentarischen Kapitel bereits angedeutet, bewegt sich mittlerweile — ansieht, so zeigt sich seit Mitte der siebziger die „allgemeine Demokratieunterstützung“ Jahre eher eine sinkende Tendenz. Sowohl die relativ unbeeinflußt von momentanen ökonomischen von Parteien generell als auch die Unterstützung Schwankungen auf einem hohen Niveau. Die „anderer“ nehmen dagegen zu. Hinter Akzeptierung einer demokratischen Regierung und letzteren verbergen sich in erster Linie „Die Grünen“, Verfahrensweisen nahm erheblich aber auch die jüngst verstärkt in Erscheinung zu. Die Befürwortung der Politik Bismarcks getretenen „Republikaner“ artikulieren ein erhebliches der Monarchie, aber auch Hitlers, ging auf Maß an „Parteienverdrossenheit“ und Protest Größenordnungen zurück. Die als gegen allzu „verfilzte“ Verhältnisse, wie sie in „beste Epoche der deutschen Geschichte“ empfun-einigen Skandalen und Affären, aber auch in der Parteiendominanz in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens — z. B.der Rundfunkanstalten, den obersten Bundesgerichten, den Universitäten usw. — zum Ausdruck kamen.
Ein komplexeres Bild ergibt sich auch hinsichtlich der weiteren Differenzierungen der Wählerlandschaft und ihrer Zufriedenheit mit der „real existierenden“ Demokratie. Berücksichtigt man neben der „klassischen“ Links-Rechts-Polarisierung des politischen Spektrums auch die jüngere Spaltung in materialistische und post-materialistische Orientierungen, die z. T. quer zum alten Parteiensystem verläuft so zeigt sich eine Abnahme der Demokratiezufriedenheit besonders bei den „linken Post-Materialisten“ (s. Schaubild 7). Diese stellen in erster Linie das Einzugspotential der „GRÜNEN“ dar; sie sind aber auch, besonders nach der „Wende“ 1982, in erheblichen Teilen der SPD anzutreffen.
In quantitativer Hinsicht verkörpert diese Gruppierung bis zu ca. 30 Prozent der Wählerschaft. Nähere Studien belegen aber, daß diese Kreise im wesentlichen „mehr“ und zum Teil auch eine „andere“ Demokratie wollen, daß die angestrebten Veränderungen aber durchaus auf „systemkonformem“ Wege erreicht werden sollen Das hiermit verbundene teilweise Aufgehen der „neuen sozialen Bewegungen“ in parteipolitischen Organisationen und die Hinwendung eines erheblichen Teils der „GRÜNEN“ und „Alternativen“ zu parlamentarischen und „realistischen“ — im Gegensatz zu „fundamentalistischen“ — Positionen unterstreicht diesen Vorgang, damit im Grunde aber auch die Absorptions-und Reformfähigkeit des politischen Systems angesichts wichtiger sozialer Veränderungen. Von einer grundlegenden „Legitimitätskrise“ kann daher auch in dieser Hinsicht nicht die Rede sein.
VI. Schlußfolgerungen
Abbildung 7
Schaubild 7: Demokratiezufriedenheit nach Typen politischer Orientierung Quelle: Eurobarometer 6— 24 Entnommen aus: D. Berg-Schlosser/J. JAHR Schissler (Anm. 3), S. 373.
Schaubild 7: Demokratiezufriedenheit nach Typen politischer Orientierung Quelle: Eurobarometer 6— 24 Entnommen aus: D. Berg-Schlosser/J. JAHR Schissler (Anm. 3), S. 373.
Die vorgelegten Befunde unterstreichen somit deutliche Veränderungen wesentlicher Aspekte der Politischen Kultur der Bundesrepublik in den vergangenen vierzig Jahren. Die Betrachtung der einzelnen Sub-Systeme ergab wichtige Entsprechungen zum politischen System, aber z. T. weiter bestehende Spannungen, die auch in Zukunft eine eigenständige Dynamik erwarten lassen. Dem Grad der „Interpenetration“ der Sub-Systeme kommt dabei ein eigener Stellenwert zu
Gerade die deutsche Politische Kultur war ja lange Zeit durch ein Überwiegen „selbst-referentieller“ Tendenzen in den Sub-Systemen und einen Mangel an Übereinstimmung vor allem zwischen dem politischen und dem sozio-kulturellen System ge-kennzeichnet. So klafften z. B. im Kaiserreich die „realpolitische" Ausrichtung des politischen Systems und die Artikulierung idealistischer und für universell gehaltener Werte des sozio-kulturellen Systems und seiner von der praktischen Politik weitgehend isolierten Intellektuellen erheblich auseinander. Auch die fragmentierte Politische Kultur der Weimarer Republik wies starke Diskrepanzen und zentrifugale Tendenzen zwischen der parlamentarisch-demokratischen Ordnung und den soziokulturellen Diskursen der (extremen) Linken und Rechten auf. Eine geringe gegenseitige Durchdringung des politischen und des sozio-kulturellen Systems war auch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik anzutreffen. In bezug auf diesen Sachverhalt sprach Ralf Dahrendorf noch 1968 von einem „Kartell der Angst“ unter ihren Eliten Mittlerweile sind erheblich größere Entsprechungen zwischen sozio-kulturellem System und politischem System und damit — bei aller weiter bestehenden Dynamik — eher zentripetale, das Gesamtsystem stärkende Tendenzen zu verzeichnen.
Diesen wichtigen Wandlungen stehen aber auch einige Kontinuitäten, die dauerhaftere historische Wurzeln von Politischer Kultur beleuchten, gegenüber. Diese beziehen sich zum einen auf die nach wie vor zu beobachtende Vielfalt spezifischer regionaler, lokaler usw. sub-kultureller Prägungen, zum anderen aber auch auf einen zentralen Aspekt der allgemeineren Politischen Kultur selbst, nämlich ihren „etatistischen", staatsbezogenen Charakter. Diese „Staatskultur“ muß aber heute nicht mehr vorwiegend in einem „obrigkeits“ -staatlichen Sinne oder als „Untertanen“ -Kultur interpretiert werden. Wie einige Autoren, z. B. Karl Rohe durchaus überzeugend argumentieren, ist eine solche Staats-kultur unter den gegenwärtigen Bedingungen durchaus mit einem höheren Maß an politischer Partizipation breiter Bevölkerungskreise vereinbar. Die mittlerweile anzutreffende „Mischkultur“ kann im Sinne einer wohlfahrtsstaatlichen Ausrichtung potentiell sowohl ein höheres Maß staatlicher Fürsorge und sozialer Leistungen („Teilhabe“) als auch eine demokratische Gestaltung dieser Regelungen („Teilnahme“) gewährleisten. Ein möglicher „sozial-demokratischer“ (ohne dies allein in einem parteipolitischen Sinne verstehen zu wollen) und (bislang zumindest: west-) europäischer „eigener Weg“ zwischen Staatsautoritarismus und weitgehendem Laisser-faire zeichnet sich hier ab.
Für die Politische Kultur der Bundesrepublik liegt aber eine mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes „offene Flanke“ in ihrem Gemeinschaftssystem. Trotz aller mittlerweile eingetretenen Eigenständigkeiten und Verfestigungen „bundesrepublikani-scher Identität“ bleibt diese brüchig. Ein bloßer „Wohlstandspatriotismus“ nach dem Motto „wir sind wieder wer“ weist zu wenig Perspektiven auf und bleibt hinsichtlich der näheren Abgrenzung un-spezifisch. Ein reiner „Verfassungspatriotismus“, wie von Dolf Sternberger empfohlen ist dagegen wohl affektiv zu wenig ansprechend und bedarf der „gemeinschaftlichen“ Ergänzung.
Wie aber zahlreiche Beispiele gerade auch aus der deutschen Geschichte zeigen (z. B. Elsaß, deutsche Minderheiten in Belgien, Dänemark usw.), ist es sehr wohl vorstellbar, daß „ethnische“ Bezüge unter Ausbildung multipler Identitäten sich in einem europäischen Rahmen, in dem die wesentlichen inhaltlichen Konfliktstoffe (Freizügigkeit, Partizipationsrechte, ökonomisches Gefälle usw.) beseitigt werden, „aufheben“ lassen. Die Frage einer separaten oder gemeinsamen „deutsch-deutschen“ Staatlichkeit wird dann eher sekundär und in den konkreten Auswirkungen z. B.dem Verhältnis zu Österreich vergleichbar. In einem solchen Kontext würden dann auch die (angesichts der auf ihre eigenen Politischen Kulturen einwirkenden Einflüsse der deutschen Geschichte verständlichen) Vorbehalte der europäischen Nachbarstaaten weitgehend gegenstandslos.
Auch Argumente, die das relative Gewicht von einem deutschen Gesamtstaat oder zwei kooperierenden deutschen Teilstaaten in einem solchen Gebilde als möglicherweise bedrohlich darstellen, sind nach wie vor eher in nationalstaatlichen Denkkategorien der Vorkriegszeit verhaftet. Inhaltlich hat sich die deutsche Politische Kultur in wesentlichen Aspekten westeuropäischen Mustern angenähert. Hieran würde auch eine — wie auch immer konkret gestaltete — Angliederung der DDR, zumal es an zugkräftigen Alternativen und Deutungsmustern fehlt, wenig ändern. Ökonomisch ist angesichts der eingetretenen Verflechtungen jede Art einer nationalstaatlichen „beggar thy neighbour“ -Politik, wie sie noch für die Zwischenkriegszeit charakteristisch war. überholt. Und selbst das rein additive Gewicht beider bisherigen deutschen Staaten würde in einem größeren europäischen Gebilde immer nur einen Bruchteil — weniger als wenn man z. B. die demographischen und ökonomischen „Gewichte“ Frankreichs und Spaniens addieren würde — ausmachen. Auch in dieser Hinsicht wären also irgendwelche Hegemoniebefürchtungen grundlos. In einer solchen Perspektive als soziale und demokratische Deutsche in einem geeinten Europa, gepaart mit einem weltweiten humanitären und ökologischen Engagement, könnte durchaus auch ein „sinnstiftendes“ Element künftiger Politischer Kultur liegen. Insgesamt ergibt sich also ein vielfältiges und weiterhin dynamisches, aber auch in einem wertenden Sinne eher gemäßigt-optimistisches Bild der Entwicklung der Politischen Kultur der Bundesrepublik. Zur Selbstgefälligkeit besteht aber kein Anlaß. Mit jüngeren „Trübungen“ der in erheblichen Teilen demokratisch und weltoffen gewordenen Politischen Kultur, wie sie potentiell auch die „Republikaner“ und andere Erscheinungsformen der Ausländerfeindlichkeit, der Intoleranz usw. darstellen, sollte daher offensiv argumentativ umgegangen werden. Nicht durch ein stillschweigendes Eingehen auf ihre Forderungen oder gar die Übernahme ihrer Parolen, sondern durch ein Meinungsklima, das die relative Isolierung solcher Positionen in bestimmten sozial-strukturellen „Ecken“ und Regionen deutlich macht, läßt sich ihre Bedeutung für die Gesamtheit der Politischen Kultur gering halten. Dies würde auch, ganz im Sinne des hier Dargestellten, das Diktum von Jürgen Habermas bekräftigen: „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der Politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit.“
Dirk Berg-Schlosser, Dr. oec. publ., Dr. phil. habil., Ph. D. /UC Berkeley, geb. 1943; seit 1985 Professor für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Politische Kultur, München 1972; Die politischen Probleme der Dritten Welt, Hamburg 1972; (zus. mit Herbert Maier und Theo Stammen) Einführung in die Politikwissenschaft, München 19854; (Hrsg. zus. mit Ferdinand Müller-Rommel) Vergleichende Politikwissenschaft. Opladen 1987; (Hrsg. zus. mit Jakob Schissler) Politische Kultur in Deutschland, Opladen 1987; (zus. mit Rainer Siegler) Politische Stabilität und Entwicklung, München 1988.
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