Ökonomische und politische Kooperation in Lateinamerika: Der Andenpakt
Heinrich Kreft
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Zusammenfassung
Als Reaktion auf wirtschaftliche Wachstumsprobleme wurde 1960 die lateinamerikanische Freihandelszone (ALALC) gegründet, um das bisherige Entwicklungsmodcll (importsubstituicrende Industrialisierung) auf eine breitere Basis zu stellen. Da die ALALC sich nur zu einem lockeren Handcisverbund entwickelte, schlossen sich die Andenstaaten Ende der sechziger Jahre zu einer subregionalen Gemeinschaft zusammen, in der sie ihr Ziel, die Integration für die eigene Entwicklung zu instrumentalisieren, verwirklichen wollten. Das Abkommen von Cartagena (Chile, Bolivien, Peru, Ekuador, Kolumbien; Venezuela trat später hinzu) erwies sich mit seinem Schwerpunkt auf Industrieprogrammen und mit speziellen Maßnahmen für die ärmeren Mitglieder als relativ progressive Integrationsinitiative. (Auch in Zentralamerika und der Karibik entstanden in den sechziger und siebziger Jahren regionale Zusammenschlüsse.) Die Anfangserfolge waren beachtlich Der intraregionale Handel wuchs beträchtlich. Doch schon bald zeigte sich, daß das Programm zu ambitiös angelegt war. Es fehlte auch am politischen Willen zur Integration. 1980/81 stürzte der Andenpakt im Zuge der weltweiten Rezession in eine schwere Krise. Vertragsverletzungen häuften sich und im Jahre 1983 erreichte der intraregionale Handel einen schweren Einbruch. Der Pakt stand vor seiner Auflösung. Erst zum Ende der achtziger Jahre konnten sich die Mitgliedstaaten zu einer Modifizierung des Vertragswerks durchringen und mit einem weniger ambitiösen Regelwerk einen neuen Anlauf unternehmen, der bis 1999 in einen gemeinsamen Markt münden soll. Die achtziger Jahre gelten gemeinhin als verlorene Dekade für Lateinamerika. Geringe Wachstumsraten, Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens, hohe Inflationsraten und die Verschuldungskrise waren die Kennzeichen. Angesichts der schwindenden Bedeutung Lateinamerikas in der heutigen Welt werden regionale Zusammenschlüsse derzeit als letzte Zukunftschance betrachtet; doch ohne hohe Wachstumsraten bei Investitionen, Produktion und der Schaffung von Arbeitsplätzen werden sich die Lebensverhältnisse für große Teile der Bevölkerung auch in diesem Jahrzehnt weiter verschlechtern.
I. Kooperationsformen in Lateinamerika und der Karibik
Bemühungen um eine Integration Lateinamerikas sind so alt wie die Unabhängigkeit dieses Subkontinents. Die Forderung nach Einheit Südamerikas wurde vom großen Befreier Simon Bolivar bereits in seinem berühmten Brief von Jamaica vom 6. September 1816 aufgestellt. Acht Jahre später erhielt dieses Projekt eine gewisse politische Aktualität durch eine Zirkularnote des Befreiers an die Regierungen Kolumbiens. Mexikos, Zentralamerikas, Argentiniens, Chiles und Brasiliens vom 7. Dezember 1824, d. h. zwei Tage vor dem endgültigen Sieg der Unabhängigkeitstruppen bei Ayacucho. Aber die große Konföderation der lateinamerikanischen Staaten erhielt in Gestalt des Kongresses von Panama im Jahre 1826 nur für kurze Zeit eine institutionelle Gestalt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb die Vision auf intellektuelle Zirkel beschränkt, sieht man von Bemühungen z. B. auf dem Gebiet der Rechtsangleichung ab. Es dauerte de facto bis Mitte der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts, bis der alte Traum Simon Bolivars durch den Druck der ökonomischen Realitäten wieder aufgenommen wurde.
Abbildung 4
Tabelle 2: Die Verschuldung der Andenpaktstaaten (absolut, in Mio. US-Dollar) Quelle: Weltbank.
Tabelle 2: Die Verschuldung der Andenpaktstaaten (absolut, in Mio. US-Dollar) Quelle: Weltbank.
Nach dem Koreakrieg (1950— 1953), der Lateinamerika nochmals einen kleinen Wirtschaftsboom gebracht hatte, geriet der Subkontinent endgültig in die wirtschaftliche Krise. Diese wurde von den meisten Ökonomen dahingehend gedeutet, daß sich das seit der Weltwirtschaftskrise von 1930 verfolgte Modell der importsubstituierenden Industrialisierung unter anderem wegen der Enge der nationalen Märkte erschöpft hatte.
Unter der Meinungsführerschaft der CEPAL wurde die Verstärkung des intraregionalen Handels empfohlen, wozu in der Gesamtregion eine Freihandelszone verwirklicht werden sollte. Nur durch kollektiven Protektionismus, der auf einer regional abgestimmten Importsubstitution basierte, glaubte man die Wachstumsdynamik wiederherstellen zu können. Man hoffte auf neue Industrialisierungsmöglichkeiten und eine höhere Kapazitätsauslastung bei zunehmender innerregionaler Arbeitsteilung. In der Folge dieser Überlegungen kam es 1960 in Uruguay zur Unterzeichnung des Vertrages von Montevideo durch sieben Staaten, der die Lateinamerikanische Freihandelszone (ALALC) errichtete (vgl. Tabelle 1). Das Modell der ALALC konnte jedoch seine Anfangsschwächen zu keiner Zeit überwinden. Die Mitgliedsländer hielten sich nicht an die eingegangenen Verpflichtungen: Beim Zollabbau, der Einhaltung bestimmter Fristen und der jeweiligen nationalen Wirtschaftspolitik, die nicht auf die Interessen der Gemeinschaft abgestimmt wurden, gab es von Anfang an Konflikte, die mangels Kompromißbereitschaft der nationalen Akteure nicht gelöst werden konnten. Während die großen, leistungsstärkeren Länder in der ALALC ein rein handelspolitisches Instrument sahen (von dem sie am meisten profitierten), waren die kleinen Länder bestrebt, aus der Gemeinschaft ein Instrument der Entwicklungsförderung zu machen. Im Kompromiß von Punta del Este (1967) einigte man sich darauf, ALALC (seit August 1980 als ALADI bezeichnet) als System zur Förderung des regionalen Handels zu erhalten, aber gleichzeitig innerhalb des Systems subregionale Integrations-und Kooperationsabkommen zuzulassen, in denen das Entwicklungsziel stärker im Vordergrund stand.
Folge des Kompromisses von Punta del Este war die Gründung zahlreicher regionaler Kooperationsabkommen. Am 26. Mai 1969 wurde der Vertrag von Cartagena unterzeichnet, der den Andenpakt ins Leben rief. Zum gleichen Zeitpunkt schlossen Argentinien, Bolivien, Brasilien, Paraguay und Uruguay den La Plata-Becken-Vertrag, der allerdings weitgehend nur den Rahmen für bi-und multilaterale Vereinbarungen zwischen Nachbarländern zur Durchführung von Infrastrukturprojekten (vor allem Staudämme zur Elektrizitätsgewinnung) abgab. Kaum erfolgreich für den lateinamerikanischen Integrationsprozeß war der Abschluß des Amazonasvertrages von 1978, der die Förderung einer harmonischen Entwicklung des Amazonaseinzugsgebietes unter Beachtung des Umweltschutzaspektes zum Ziel hatte. Größere Bedeutung hingegen erlangte das 1975 ins Leben gerufene umfassendste Integrationssystem der Region, das Lateinamerikanische Wirtschaftssystem (SELA). SELA hat eine doppelte Zielsetzung. Neben der Förderung der regionalen Zusammenarbeit ist sie als Koordinationsorgan lateinamerikanischer Interessen konzipiert. Im Gegensatz zur OAS sind die USA nicht Mitglied dieses Zusammenschlusses, wohl aber Kuba. Neben dem Lateinamerikanischen Rat, dem obersten Beratungs-und Entscheidungsorgan, dem alle Mitglieder angehören, existiert ein Ständiges Sekretariat als Exekutivorgan des Rates und daneben ad hoc gebildete Komitees für die Zusammenarbeit auf bestimmten Problemgebieten.
SELA wurde insbesondere in der Entstehungsphase als potentieller Organisationskern für eine regionale „collective self-reliance" (das Verlassen auf die eigenen Kräfte) angesehen und damit — wie sich bald herausstellte — weit überschätzt. Auch in Zentralamerika und der Karibik kam es zu verschiedenen Integrationsversuchen. Die älteste und erfolgreichste Initiative war der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (MCCA), der im Jahre 1960 durch El Salvador, Guatemala, Honduras, Costa Rica und Nicaragua gegründet wurde. Der MCCA konnte in den ersten Jahren seines Bestehens auf eine spektakuläre Handelsausweitung verweisen. Es war zu diesem Zeitpunkt das erfolgreichste Experiment einer regionalen Wirtschaftsintegration in der Dritten Welt. Die Handelsliberalisierung führte zu einem starken Zustrom ausländischer Direktinvestitionen, die in hohem Maße die Entwicklung der verarbeitenden Industrie dieser kleinen, wirtschaftlich wenig diversifizierten Länder bestimmten. Ab Mitte der sechziger Jahre verlor die Gemeinschaft zunehmend an Dynamik. Zahlungsbilanzprobleme einzelner Mitgliedsländer sowie die ungleiche Verteilung der Integrationsgewinne führten in steigendem Maße zu Verteilungskonflikten. Zudem wurde die Abhängigkeit von außenwirtschaftlichen Faktoren überdeutlich. Ein militärischer Konflikt zwischen El Salvador und Honduras im Jahre 1969 („Fußballkrieg“), worauf letzteres den MCCA verließ, bedeutete schließlich das faktische Ende der Integrationsinitiative. Erst heute — im Jahre 1990 — zeichnen sich Lösungen für die zentralamerikanischen Konflikte ab. die für die Zukunft eine Wiederbelebung des Integrationsprozesses möglich erscheinen lassen
Auch in der Karibik gab es verschiedene Integrationsversuche. Ende 1965 gründeten ehemalige britische Inselkleinstaaten die „Caribbean Free Trade Area“ (CARIFTA), die 1974 offiziell in die ein Jahr zuvor gegründete „Caribbean Community (and Common Market)“ (CARICOM) aufging. Vorrangige Ziele der Gemeinschaft waren von Anfang an die Sicherung der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit sowie der politischen Autonomie der Mitgliedstaaten. Aufgrund der soziogeographischen Voraussetzungen der Region sind die Möglichkeiten für eine wirtschaftliche Integration kaum gegeben. Die Region (zwischen Guayana, dem östlichen Nachbarn Venezuelas, und Belize, das an Mexiko grenzt) ist geographisch weit zersplittert und hat nur eine Gesamtbevölkerung von etwa sechs Millionen Einwohnern, die zudem sehr ungleichmäßig in der Region verteilt ist. Bei weitgehend gleicher Ressourcenausstattung und Produktion sind Spezialisierungsmöglichkeiten nur beschränkt vorhanden. CARICOM zählt derzeit 13 Mitgliedstaaten, doch der Gemeinschaft gelang es nicht, aus der permanenten Krise, in der sie seit ihrer Gründung steckt, herauszufinden. Der Anteil des intraregionalen Handels ging in den achtziger Jahren sogar auf knapp zehn Prozent des Gesamthandels der Region zurück
Die große Zahl der Integrationsansätze in Lateinamerika und der Karibik kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die wirtschaftliche Integration und Kooperation nur begrenzte Erfolge aufweisen kann, was zum großen Teil an den nationalen Strukturen und Interessen liegt, die insbesondere für die großen Länder bis heute maßgebend geblieben sind.
Das Scheitern des von der CEPAL vehement vertretenen kontinentalen Integrationsansatzes in den sechziger Jahren hat die wirtschaftlich schwächeren Länder der Region sehr bald zu eigenen Integrationsversuchen animiert. Die älteste und bedeutendste Initiative in diesem Zusammenhang war, neben dem Zentralamerikanischen Gemeinsamen Markt, der Zusammenschluß der wirtschaftlich zurückgebliebenen Staaten des Andenraumes.
II. Der Andenpakt
Abbildung 2
Abbildung 2
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1. Entstehungsgeschichte Ursache für Entstehung Andenpaktes Die die des liegt zu Teil dem einem großen in Scheitern der CEPAL, aus der ALALC ein Förderungsinstrument für die Industrialisierung und Entwicklung Lateinamerikas zu machen. Das ursprüngliche Integrationskonzept der CEPAL sah u. a. eine gemeinsame Industrieplanung vor, bei der allerdings die großen Entwicklungsunterschiede zwischen den verschiedenen Ländern berücksichtigt werden sollten.
Die Verwirklichung dieses Konzepts scheiterte an den nationalen Interessen Brasiliens. Argentiniens und Mexikos. Als sich schließlich die Erwartungen der kleinen Länder nicht erfüllten und sich auch noch herausstellte, daß die drei großen Länder den überwiegenden Nutzen aus der Freihandelszone zogen, war der Weg frei für die Gründung des Andenpaktes, die bereits seit 1954 diskutiert wurde. Die Präsidenten Frei (Chile) und Lleras (Kolumbien)
eine hatten 1954 Resolution entworfen, der die Möglichkeit subregionaler Kooperation innerhalb von ALALC vorsah. In der Erklärung von Bogota im Jahre 1966 wurden die Prinzipien festgelegt, die schließlich in die Übereinkunft von Cartagena eingingen. Gemeinsam erzielten die Andenstaaten dann 1967 auf dem Gipfeltreffen der amerikanischen Präsidenten in Punta del Este (Uruguay) die Zustimmung der ALALC zur Gründung subregionaler Gemeinschaften. Die zu diesem Zeitpunkt bereits einberufene Arbeitskommission zur Vorbereitung des Vertragstextes hatte jedoch noch große Schwierigkeiten zu überwinden. a) Die Ausgangssituation der Mitgliedstaaten Der allgemeine Entwicklungsstand der Andenländer war Mitte der sechziger Jahre im Vergleich zu Argentinien oder Mexiko sehr gering. Lediglich Chile und Venezuela stellten eine Ausnahme dar, wobei letzteres wegen steigender Erdöleinnahmen ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von etwa 1 000 Dollar erzielte, der Entwicklungsstand seiner Industrie aber kaum den der Partnerländer überragte. Hauptschwerpunkt der Wirtschaftsaktivitäten der Andenländer war bis dahin der Bergbau. Der Export bestand fast ausschließlich aus Rohstoffen, so daß der Handelsaustausch zwischen den Andenländern kaum entwickelt war. Die Industrieproduktion war gemäß der Entwicklungsstrategie der importsubstituierenden Industrialisierung nur auf die Herstellung von Konsumgütern für den Eigenbedarf ausgerichtet und die dabei errichteten Schutzzölle hatten die Industrie technologisch schnell veralten lassen.
Noch weiter zurückgeblieben war die Entwicklung auf dem Agrarsektor. Der Großgrundbesitz blieb trotz vereinzelter Landreformen ein großes Hindernis für die Entwicklung auf dem Lande. (Nur in Peru und Bolivien konnten erfolgreich Landreformen durchgeführt werden; in Chile wurden die Reformen von 1967— 1973 unter der Militärdiktatur Pinochets weitgehend rückgängig gemacht.) Die Probleme der ungleichen Verteilung des Bodens, des Bevölkerungsdrucks (Geburtenhäufigkeit, Landflucht) und der allgemeinen Beschäftigungsund Lebensverhältnisse hatten sich ständig verschärft.
Neben den wirtschaftlichen Problemen waren alle Länder gekennzeichnet durch teilweise schwere soziale (und ethnische) Konflikte. Große Teile der Bevölkerung lebten in absoluter Armut am Rande 'der Gesellschaft. Die offene Arbeitslosigkeit betrug etwa zehn Prozent, die Unterbeschäftigung stieg auf bis zu 40 Prozent, je nach Land. Unter diesen Bedingungen entstanden in den sechziger Jahren in verschiedenen Ländern der Region revolutionäre Bewegungen und Guerillaaktivitäten. Hinzu kamen noch große naturräumliche Schwierigkeiten.
Die Andenländer stellen insgesamt geographisch ein schlauchartiges Gebilde dar, das sich über ca.
10 000 km von der Karibik bis nach Feuerland erstreckt. Aufgrund der kaum entwickelten Verkehrsinfrastruktur mußten sich in einem Handels-verbund automatisch Standortnachteile für Venezuela im Norden und Chile im Süden sowie für Bolivien ergeben, das über keinen Zugang zum Meer verfügt.
Bei aller Ähnlichkeit der Grundstrukturen gab es in dieser Region insbesondere zwischen den vier größeren Ländern Venezuela, Kolumbien, Peru und Chile auf der einen Seite sowie den kleineren Bolivien und Ekuador auf der anderen, erhebliche Problemunterschiede. So war das Pro-Kopf-Einkommen eines Venezolaners fünfmal so hoch wie das eines Bolivianers. Kolumbien und Chile besaßen eine viel stärker entwickelte Industrie als die anderen. Diese beiden Länder zeichneten sich auch durch ein relativ stabiles parlamentarisches Regierungssystem aus, während insbesondere Peru, Bolivien und Ekuador unter einer geringen politischen Stabilität litten mit häufigen Interventionen von Seiten der Militärs. Auch in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung gab es sehr große Unterschiede. Während die chilenische Bevölkerung fast ausschließlich aus Weißen besteht, und in Kolumbien und Venezuela Weiße, Mestizen und Mulatten überwiegen, besteht die Bevölkerung der Zentralstaaten Peru. Ekuador und Bolivien zu 40 bis 60 Prozent aus Indios.
Auch das Bildungsniveau war Mitte der sechziger Jahre sehr unterschiedlich entwickelt. Während es in Chile kaum noch Analphabeten gab, betrug die Analphabetenquote in Bolivien fast 60 Prozent. Die Universitäten Chiles und Kolumbiens (und Limas) hatten sich bereits in einigen Bereichen weltweite Anerkennung verschafft, während die Universitäten der anderen Länder dagegen ziemlich abfielen. b) Die Übereinkunft von Cartagena Innerhalb der Arbeitskommission, die den Vertragstext erstellen sollte, befürworteten Chile und Kolumbien aufgrund ihres höheren Entwicklungsstandes einen raschen Abbau der Handelsschranken, Senkung der Schutzzölle und beträchtliche Kompetenzen für die zu schaffenden gemeinsamen Institutionen. Auf der anderen Seite standen mit Ekuador, Peru und Venezuela die Länder, deren Industriestruktur bisher wenig diversifiziert war Die Regierungen Venezuelas und Perus standen unter starkem Druck ihrer einheimischen Unternehmerverbände, die sich nicht der mächtigen chilenischen und kolumbianischen Konkurrenz aussetzen wollten. Die venezolanischen Unternehmer konnten sich schließlich durchsetzen, und das Land verließ die Verhandlungen. Die peruanischen Industriellen hingegen mußten sich dem linksnationalen Militärregime beugen. Am 26. Mai 1969 konnte das Abkommen schließlich in Cartagena, Kolumbien, unterzeichnet werden (weshalb die offizielle Bezeichnung auch „Acuerdo de Cartagena“ und nicht Andenpakt lautet.) 2. Grundlagen und Institutionen des Andenpaktes Mit dem Abkommen von Cartagena versuchten die wirtschaftlich und politisch schwächeren Andenstaaten ihre Vorstellungen von Kooperation und Integration zu verwirklichen. Der ehemalige chile-nische Präsident und einer der Hauptinitiatoren der andinen Integration, Eduardo Frei, faßte Anfang der siebziger Jahre die Hauptziele des Andenpaktes wie folgt zusammen: Schaffung des notwendigen Wirtschaftsraumes für die Entwicklung im allgemeinen, für eine effizientere Industrieproduktion und für die Dynamisierung der Entwicklung jedes einzelnen Mitgliedstaates; Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit der andinen Staaten durch gemeinsame Verhandlungspositionen in Finanz-, Technologie-und Handelsfragen. Damit auch Stärkung der Andenpaktstaaten innerhalb der ALALC und somit langfristig die Beseitigung der Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten, die zu ihrem Scheitern geführt hatte. Außerhalb Lateinamerikas wäre der Andenpakt ein interessanter Gesprächspartner für die EWG und andere Industriemächte
Gemessen an der ALALC erweist sich der Andenpakt mit seinem Schwerpunkt auf Industrieprogrammen als sehr anspruchsvolles Integrationsmodell, das Aspekte einer Wirtschaftsunion aufweist. Dem ganzen Modell liegt die These zugrunde, daß ohne Integration und Kooperation in den Andenstaaten keine zufriedenstellende wirtschaftliche und soziale Entwicklung möglich sei. Daraus ergibt sich die Überlegung, mit einem gemeinsamen Markt die Voraussetzungen für eine diversifizierte und wettbewerbsfähige Industriestruktur zu schaffen, die ein höheres Wirtschaftswachstum garantiert. Mit der Verbesserung der eigenen Wirtschaftslage erhoffte man auch die Stärkung der eigenen Position auf dem südamerikanischen Subkontinent und im Nord-Süd-Konflikt gegenüber den Industriestaaten des Nordens. Der gemeinsame Markt sollte ähnlich wie in der EG durch den Abbau der Binnenzölle und der Errichtung eines gemeinsamen Außenzolls gegenüber Drittländern erreicht werden.
Der unterschiedlichen Ausgangslage der Mitgliedstaaten suchte man durch Sonderprogramme und Sonderregelungen für die beiden schwächsten Mitglieder — Bolivien und Ekuador — gerecht zu werden. Auch durch die gemeinsame Industrieplanung hoffte man zu gewährleisten, daß alle Mitglieder in gleicher Weise vom Integrationsprozeß profitierten. Allerdings sollte sich die gemeinsame Industrialisierung vor allem auf neue Projekte beziehen; eine Besonderheit stellten hierbei die Einschränkungen und Kontrollen dar, denen das Auslandskapital unterworfen werden sollte. Mit dem Instrument gemeinsamer Industrieentwicklungspläne (PSDI) sollte die Allokation der regionalen Ressourcen gesteuert werden. Jedem Land sollte die Herstellung bestimmter Produkte für den gemeinsamen Markt zugewiesen werden, während sich die anderen Staaten verpflichteten, die Herstellung dieser Produkte in ihrem Land nicht zu fördern.
Der Andenpakt hebt sich durch seinen supranationalen Charakter von den anderen Integrationsprojekten auf dem südamerikanischen Subkontinent hervor. Er verfügt über Gemeinschaftsorgane mit eigenen Kompetenzen, ähnlich der Struktur der Europäischen Gemeinschaften. Oberstes Entscheidungsorgan ist die Kommission, die sich aus den bevollmächtigten Delegierten der Mitgliedsländer zusammensetzt und dreimal pro Jahr zusammentritt. Der Kommission steht als Beratungs-und Exekutivorgan die „Junta“ zur Seite, die ihren Sitz in Lima hat. Diese besteht aus drei von der Kommission ernannten Mitgliedern. Der Junta kommt in der Praxis die größte Bedeutung zu, da die Kommission in der Regel nur über Vorlagen der Junta zu entscheiden hat. während diese an keine Vorgaben der Kommission gebunden ist und in einigen Angelegenheiten sogar eigenständig für alle Mitgliedstaaten verbindliche Beschlüsse fassen kann. Im Gegensatz zu den Ratsbeschlüssen der EG reicht bei den Beschlüssen der Kommission die absolute Mehrheit der Mitglieder. Im Prinzip sind die Beschlüsse der Gemeinschaftsorgane für alle Mitgliedstaaten bindend, doch ihre Durchsetzung trifft teilweise auf große Widerstände der Einzelstaaten. Hauptgrund für diese Konflikte sind deren in keiner Weise aufgehobenen Einzelinteressen und auch oftmals mangelnder politischer Wille zur Integration.
Weitere Organe der Gemeinschaft sind die 1976 gegründete Andine Finanzkorporation (CAF) als Entwicklungsbank des Andenpakts mit Sitz in Caracas, der Andine Gerichtshof (TAJ, gegründet 1979, Vertrag seit 1983 in Kraft) mit Sitz in Quito sowie das Andine Parlament als supranationales Repräsentativorgan mit je fünf nationalen Abgeordneten aus den Mitgliedstaaten. Das Parlament tritt einmal jährlich in einem der Mitgliedstaaten zusammen. In den siebziger Jahren entstanden eine Reihe von Zusatzabkommen mit dem Ziel, die Integration auch auf andere Sektoren auszuweiten. Für den Kulturbereich wurde der Vertrag „Andres Bello“, für den Gesundheitsbereich das Abkommen „Hipolito Unanue“ und für die Abstimmung in arbeitsrechtlichen und versicherungsrechtlichen Fragen der Vertrag „Simon Rodriguez“ abgeschlossen. 1983 kam noch das Abkommen „Jose Celestino Mutis“ zur Nahrungsmittelsicherung in der Region hinzu. Alle Organe und Institutionen bilden gemeinsam den sogenannten „Grupo Andino“. 3. Die Bilanz zweier Dekaden (1969— 1989) a) Eine erfolgreiche Anfangsphase (1969— 1981)
Die Unterzeichnung des Abkommens von Cartagena im Jahre 1969 erfolgte aus heutiger Sicht zu einem ausgesprochen günstigen historischen Zeitpunkt. Die fünf Unterzeichnerstaaten befanden sich in einem Zustand relativer politischer und wirtschaftlicher Stabilität, die jedoch in den Folgejahren in allen Ländern — wenn auch in unterschiedlichem Maße — erodierte. Das Vertragswerk, das die aus Technokraten aller beteiligten Länder zusammengesetzte Arbeitskommission den in Cartagena versammelten Staatspräsidenten vorlegte, erwies sich als in hohem Maße ambitiös, präzise und zugleich unrealistisch. Dieser Idealismus, der auch Eingang in die Gründungsverträge gefunden hatte, wurde zunächst bestätigt durch eine ausgesprochen dynamische Entwicklung der Staatengemeinschaft. Die Wachstumsrate des Sozialprodukts betrug zwischen 1970 und 1977 durchschnittlich 5, 8 Prozent und die Industrieproduktion wuchs im gleichen Zeitraum sogar um sieben Prozent. Auch das Pro-Kopf-Einkommen konnte trotz starken Bevölkerungswachstums mehr als verdoppelt werden, allerdings verteilte sich die Einkommenssteigerung sehr ungleich auf die verschiedenen Länder und auf die einzelnen Sozialschichten. Während allerdings zwischen der positiven Entwicklung dieser makroökonomischen Daten und der Gründung des Andenpaktes ein Kausalzusammenhang nicht zwingend ist, kann die starke Zunahme des intraregionalen Handels eindeutig auf das Abkommen von Cartagena zurückgeführt werden. Die Exporte der fünf Paktstaaten in die Gemeinschaft stiegen von fast 96 Mio. US-Dollar im Jahre 1969 auf etwa 1, 24 Mrd. im Jahre 1981.
Die für die Anfangsphase vorgesehenen Integrationsschritte konnten ohne größere Probleme verwirklicht werden. Die Aufhebung der Zollschranken. die über eine jährliche Senkung der Binnenzölle um zehn Prozent erreicht werden sollte, blieb bis 1976 ein von allen Mitgliedsländern vorrangig verfolgtes Ziel. Zu diesem Zeitpunkt mußte der Endtermin erstmals verschoben werden, wie in der Folge auch zahlreiche andere Vorgaben. Besonders schwierig gestaltete sich die Errichtung eines gemeinsamen Außenzolls und die Einigung über die verschiedenen Industrialisierungsprogramme. Die Realisierung eines gemeinsamen Außenzolls konnte bis heute nicht erreicht werden, obwohl die ursprüngliche Konzeption, die einen starren Tarif vorsah, in eine Bandbreite von Werten abgeändert wurde. Die im Vertragswerk vorgesehenen und für das ganze Integrationskonzept sehr bedeutsamen gemeinsamen Industrialisierungsprogramme, die ursprünglich bis 1975 verabschiedet werden sollten, konnten nur zu einem kleinen Teil verwirklicht werden. Zu größeren Irritationen in den Ländern des Nordens hatte die „Deciciön 24“ (Entschließung Nr. 24) des Abkommens von Cartagena geführt. In dieser Entschließung vereinbarten die Andenpaktstaaten eine Gleichbehandlung ausländischer Investitionen im Andenraum mit dem Ziel, das ausländische Kapital stärker zu reglementieren und im Sinne der Entwicklung nutzbar zu machen.
Mit dieser einschneidenden Maßnahme wollte man auch einem „Wettlauf 4 einzelner Mitgliedsländer um Auslandsinvestitionen vorbeugen. In der „Deciciön 24“ wurde u. a. die Genehmigungspflichtigkeit aller ausländischen Investitionen festgelegt. Darüber hinaus mußten ausländische Unternehmen schrittweise in nationale bzw. gemischt-nationale Betriebe umgewandelt werden. Diese Entschließung stieß jedoch auch in den Mitgliedstaaten bald auf zunehmende Kritik. Neben den Auseinandersetzungen über die Festlegung eines gemeinsamen Außenzolls war es das Festhalten der anderen Staaten an der „Decicin 24“, das Chile 1976 zum Austritt aus dem Andenpakt bewog. In Chile setzten die Militärs unter General Pinochet ganz im Gegensatz zu den demokratischen Regierungen unter Frei und Allende auf ein neoliberales Wirtschaftskonzept, in dem ein Integrationsmodell wie der Andenpakt keinen Platz hatte.
Bereits von Anfang an zeigte sich, daß die Mitgliedstaaten in sehr unterschiedlichem Maße von der Integration profitierten. Während Kolumbien und Ekuador ihre Ausfuhren in den gemeinsamen Wirtschaftsraum vervielfachen konnten, gelang es der bolivianischen, aber auch der venezolanischen Wirtschaft kaum, die Chancen der Integration für eine Ausweitung der intraregionalen Exporte zu nutzen. Bolivien hat dabei im Gegensatz zu Ekuador auch die von der Gemeinschaft eingeräumten Sonderkonditionen nicht erfolgreich beanspruchen können. Die Warenbilanz Boliviens mit allen Andenpaktstaaten blieb auf Dauer defizitär. Der Export verarbeiteter Produkte blieb eine zu vernachlässigende Größe. Der Gemeinschaftsmarkt beB steht für Bolivien fast ausschließlich aus dem peruanischen Markt. Die drei anderen Partnerländer importierten z. B. 1986 gemeinsam weniger Güter aus Bolivien als etwa Ägypten, Jugoslawien oder SüdKorea — Länder, die für die Bolivianer aufgrund der großen Entfernung nie sichere Märkte gewesen sind b) Krise und Modifizierung des Vertragswerkes (1981-1989)
Die relativen Erfolge des Andenpaktes in den ersten Jahren seiner Existenz können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in dieser Phase nicht gelang, die Gemeinschaft und ihre Strukturen zu konsolidieren. Dies zeigte sich sehr bald, als Lateinamerika von der weltweiten Rezession der Jahre 1980/81 erfaßt wurde. Die Rezession traf die in hohem Maße vom Export von Rohstoffen abhängigen Andenpaktstaaten besonders stark. Zugleich wurden diese Länder — wie fast alle lateinamerikanischen Staaten und auch viele Staaten Afrikas, Asiens und Osteuropas — von der Verschuldungskrise erfaßt (vgl. Tabelle 2) Mehrere Andenpaktstaaten standen plötzlich vor Zahlungsbilanz-krisen und sahen sich einer stetigen Erhöhung ihres Schuldendienstquotienten (Verhältnis von Schuldendienst zum Export von Gütern und Dienstleistungen) gegenüber.
Anfang der achtziger Jahre geriet der Andenpakt in eine doppelte Krise. Zum einen zeigten sich in ganz Lateinamerika die Grenzen des Entwicklungsmodells der importsubstituierenden Industrialisierung, auf dessen Thesen ja auch das Vertragswerk von Cartagena basierte. Zum anderen traf die weltweite Wirtschaftsrezession den Andenpakt in einem Moment, da die Fortschritte in der Importsubstituierung den Devisenbedarf der Unternehmen für die Beschaffung von Vorprodukten immer schneller ansteigen ließen. Die Rezession führte zu einem drastischen Rückgang der Exporte in Drittländer. Die Konzentration auf die Substituierung von Importen hatte zudem zu einer Vernachlässigung der Exportindustrie geführt, die dadurch technologisch immer weiter zurückgefallen war, was ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt stark beeinträchtigte.
In dieser Situation, zudem geplagt von Zahlungsbilanzkrisen, gaben die nationalen Regierungen den vielfältigen Pressionen der einheimischen Unternehmer nach und begannen die Importe aus den Partnerländern zu erschweren oder zu verhindern, was eine bewußte Verletzung des Abkommens von Cartagena bedeutete. Innerhalb kürzester Zeit häuften sich die Regelverstöße derart, daß der Andenpakt in eine akute Existenzkrise geriet. Das Jahr 1983 stellte einen tiefen Einbruch im intraregionalen Handel dar. Es dauerte fünf Jahre, bis sich die Vertragsstaaten und die Paktorgane auf Modifikationen des Abkommens einigen konnten, um die Organisation an die veränderte Situation anzupassen. Dieser Anpassung waren zunächst individuelle Versuche der Mitgliedstaaten vorausgegangen, nationale Strategien zur Überwindung der Krise zu entwickeln, die den Bestand einiger Staaten zu bedrohen schien. Hierbei zeigte sich eine allgemeine Abkehr von staatskapitalistischen und dirigistischen Wirtschaftsmodellen — eine Abkehr, die Chile bereits Anfang der siebziger Jahre vollzogen hatte, was damals zwangsläufig zum Ausscheiden aus dem Andenpakt führen mußte. Somit entstand unter dem Druck der Wirtschaftskrise die Basis für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik in der Zukunft. Die fehlende Koordinierung und Harmonisierung der nationalen Wirtschaftspolitiken war einer der zen tralen Faktoren, der zur Krise des Andenpaktes geführt hatte.
Ein weiteres Strukturproblem, das in internen Analysen bisher kaum berücksichtigt wurde, war die Tatsache, daß das Abkommen von Cartagena gewachsene Wirtschaftsbeziehungen außer acht ließ. So waren die Wirtschaftsbeziehungen Chiles mit Argentinien immer erheblich bedeutsamer als zu Kolumbien oder Venezuela. Die bolivianische Wirtschaft war stärker nach Argentinien und Brasilien ausgerichtet als etwa zu den Karibikstaaten. Und auch Venezuela und Kolumbien hatten immer intensivere Wirtschaftsbeziehungen zum mittelamerikanischen und karibischen Raum unterhalten als zu Peru oder Chile. Als gemeinsame Basis blieb nicht viel mehr als die bolivarianische Tradition die folglich bis zur Krise auch die Rhetorik bestimmt hatte.
Ende 1982 konnte die Existenzkrise des Andenpaktes nicht mehr verschleiert werden, als Venezuela mit der Verhängung protektionistischer Handels-hemmnisse auch gegenüber seinen Partnern jede diplomatische Rücksichtnahme fallenließ und sich offen zum Bruch des Abkommens von Cartagena bekannte Begründet wurde der Vertragsbruch mit der Notwendigkeit, die eigene Industrie vor allem vor Billigimporten aus Kolumbien und Ekuador zu schützen. Die Stellung Venezuelas innerhalb des Andenpakts war Anfang der achtziger Jahre objektiv schwierig. Es erzeugte fast 70 Prozent des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft mit der Folge eines erheblich höheren Pro-Kopf-Einkommens und Lebensstandards seiner Bevölkerung als in den Partnerländern. Dieses führte automatisch zu höheren Arbeitskosten, die durch kapitalintensive Rationalisierungen nur teilweise aufgefangen werden konnten. Folglich trat die nationale Industrie vehement für protektionistische Maßnahmen bzw. für den Austritt Venezuelas aus dem Andenpakt ein.
Da auch in den anderen Mitgliedsländern die Kritik an der Gemeinschaft immer heftiger wurde und sich Verstöße gegen den Vertrag auf allen Seiten häuften, mehrten sich die Stimmen, die eine Auflösung des Paktes forderten. Sowohl in den Massenmedien wie auch von offiziellen Vertretern aller Mitgliedstaaten wurde offen vom Scheitern des andinen In-tegrationsprozesses gesprochen. Der Pakt sei durch Wettbewerb und nicht durch die erwarteten komplementären Wirtschaftspolitiken seiner Mitglieds-länder geprägt. Der Andenpakt müsse restrukturiert werden, wobei der Landwirtschaft besondere Bedeutung zukomme. Die Landwirtschaft war von der Gemeinschaft sträflich vernachlässigt worden. So hatten die Mitgliedstaaten 1970 2, 8 Mio. Tonnen Nahrungsmittel importieren müssen, eine Zahl, die 1980 auf 6, 8 Millionen Tonnen angestiegen war. Mit dem nun geforderten landwirtschaftlichen Entwicklungsprogramm sollte die Selbstversorgung der Region mit Lebensmitteln wiederhergestellt werden. Zudem sollte die Einkommenssituation von über 26 Millionen Bauern erhöht werden, die im Durchschnitt nur auf ein Jahreseinkommen von 500 US-Dollar kamen, gegenüber 1 400 US-Dollar, die ein Arbeiter in den städtischen Zentren pro Jahr verdiente.
Auf der entscheidenden Kommissionssitzung Ende Januar 1983 im bolivianischen Santa Cruz konnte das formelle Ende der Gemeinschaft zwar verhindert werden aber man vermochte sich noch nicht zu einschneidenden Reformen aufzuraffen. Die Auflösung der Gemeinschaft schien unaufhaltsam zu sein, zumal auch der politische Wille zur Integration fehlte. Der intraregionale Handel erfuhr im Jahre 1983 einen Einbruch. Nach dem ständigen Anstieg während der siebziger Jahre, der mit ca. 1, 2 Mrd. US-Dollar Anfang der achtziger Jahre seinen Gipfel erreichte, stürzte er in jenem Jahr auf nur noch 745 Millionen Dollar, ein Wert, der bis 1986 noch weiter fiel. Die Auswirkungen der Handelsrestriktionen zwischen den Partnerländern machten sich unmittelbar bemerkbar. Die Restriktionen wirkten sich dermaßen verhängnisvoll auf die Gemeinschaft aus, daß ihre Aufhebung zu einer Hauptforderung bei den Verhandlungen zur Änderung der Gemeinschaftsverträge wurde. 1985 kam es endlich zu den längst überfälligen und mühseligen Verhandlungen zwischen den Partnerländern, um einen Weg aus der Krise zu finden. Sowohl in der Kommission, dem höchsten intergouvernementalen Gremium, wie auch in der Junta, als wichtigstem supranationalem Organ, stellten sich zwei Alternativen: Eine gründliche Modifizierung des gesamten Integrationswerkes, ausgehend von einer eingehenden Analyse der aufgetretenen Schwächen, oder die Anpassung an die veränderte Umwelt ohne größere Reformen und Anstrengungen. Als schließlich am Mai 1987 das „Protocolo Modificatorio“ (Änderungsprotokoll) in Quito unterzeichnet wurde, stellte sich alsbald heraus, daß sich die Partner zu keiner grundsätzlichen Reform hatten durchringen können. Gegenüber den ursprünglichen Verträgen bedeutet das Änderungsprotokoll einen eindeutigen Rückschritt. Die neu definierten Ziele sind weitaus weniger ambitiös, aber die entscheidende Frage ist, inwieweit die ursprünglichen Zielsetzungen realistischerweise überhaupt jemals zu erreichen gewesen wären.
Das Protokoll von Quito setzte noch keinen zeitlichen Rahmen für die Etablierung eines gemeinsamen Außenzolls, aber die Mitgliedstaaten konnten sich darin (sowie in einem „Übergangsprogramm“) auf einen detaillierten Plan einigen, um mit den fortbestehenden Vertragsverletzungen Schluß zu machen. Die Länder gaben zudem Absichtserklärungen ab, nationale Regelungen über Zollfreiheit, Exportförderung, Behandlung von Importen und Wechselkurssystemen zu harmonisieren. Einigen konnte man sich auch über eine flexiblere Behandlung von Auslandsinvestitionen, wobei allerdings an der Vorschrift festgehalten wurde, daß ausländische Betriebe in nationale oder Mischbetriebe überführt werden müssen.
Seit Unterzeichnung des Änderungsprotokolls zeigen sich die Andenpaktstaaten wieder bemüht, ihre Vertragsverpflichtungen einzuhalten. Während zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Änderungsabkommens insgesamt 5 603 Produkte innerhalb der Gemeinschaft Beschränkungen unterlagen, konnte diese Zahl innerhalb von zwei Jahren auf 712 Produkte gesenkt werden.
III. Perspektiven des andinen Integrationsprozesses
Abbildung 3
Abbildung 3
Abbildung 3
1. Die aktuelle ökonomische Situation Lateinamerikas Ökonomen und Politiker in und außerhalb Lateinamerikas haben die achtziger Jahre als eine unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten verlorene Dekade 11) für den lateinamerikanischen Subkontinent bezeichnet: Geringe Wachstumsraten der Volkswirtschaft, Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens, hohe Inflationsraten und die Verschuldungskrise waren die allgemeinen ökonomischen Kennzeichen der achtziger Jahre. Die höchste Wachstumsrate des vergangenen Jahrzehnts wurde mit 3, 9 Prozent im Jahr 1986 erzielt. 1988 fiel sie auf 0, 9 und im vergangenen Jahr nochmals auf 0, 7 Prozent. Bedingt durch ein durchschnittliches Bevölkerungswachstum von jährlich 2, 2 Prozent führte das schwache Wirtschaftswachstum zwangsläufig dazu, daß das Pro-Kopf-Einkommen im Jahre 1989 um 1, 1 Prozent abnahm und um acht Prozent unterhalb des Wertes zu Beginn der Dekade lag. Obwohl das Wirtschaftswachstum generell sehr schwach war, konnten einige Länder im Jahre 1989 erstaunliche Wachstumsraten erzielen: Chile brachte es beispielsweise auf 8, 5 Prozent, während die Volkswirtschaften Paraguays um 5, 6 und Costa Ricas um 4, 1 Prozent wuchsen. Brasilien und Mexiko, die führenden Wirtschaftsmächte der Region, brachten es immerhin auf ein Wachstum von jeweils drei Prozent. Auf der anderen Seite ging das Bruttoinlandsprodukt in Peru um 14 Prozent, in Venezuela um 8, 1 und in Argentinien und Panama um jeweils fünf Prozent zurück.
Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Verteilung der Einkommen. In Peru entfallen auf die 20 Prozent der Bevölkerung, die die unterste Einkommensschicht bilden, nur 1, 9 Prozent des Volkseinkommens, während die oberen 20 Prozent der Bevölkerung 61 Prozenterzielen. Die entsprechenden Werte sind für Brasilien zwei bzw. 66, 6 Prozent, für Mexiko 2, 9 bzw. 67, 7 Prozent 12). Die Verteilungssituation stellt sich damit heute ungerechter dar als zu Beginn der vergangenen Dekade.
Eine ähnlich negative Entwicklung zeigt die durchschnittliche Preisentwicklung auf dem Subkontinent. Während im Jahre 1985 die durchschnittliche Inflationsrate 275 Prozent betrug, stieg sie im Jahre 1989 auf über 900 Prozent an. Den Rekord stellte dabei Nicaragua auf, wo die Inflationsrate im Jahre 1989 auf 33 000 Prozent emporschnellte.
Während der achtziger Jahre stieg das Exportvolumen der Region um 57 Prozent, obwohl die wertmäßige Steigerung wegen des Preisverfalls vieler Rohstoffe nur 24 Prozent betrug.
Die Auslandsschuld summierte sich bis zum Jahresende 1989 auf 435 Mrd. US-Dollar, d. h. 3 Prozent weniger als im Jahre 1987. aber 45 Prozent mehr als 1981. ein Jahr vor der mexikanischen Schuldenkrise vom August 1982, womit das Verschuldungsproblem verstärkt ins öffentliche Bewußtsein rückte. Der Schuldendienst beläuft sich auf durchschnitt-lieh 30 Prozent der Exporterlöse, wobei allerdings einige Länder deutlich darüber liegen: Argentinien erreicht einen Wert von 53, Nicaragua von 56 Prozent der Exporterlöse. Von 1982 bis 1989 mußte Lateinamerika einen Nettoressourcentransfer von ca. 203 Mrd. Dollar hinnehmen, d. h. fast 23 Prozent der Exporterlöse, die die Region während dieses Zeitraums erzielte. Diese Mittel fehlten der Region, um den Weg aus der Krise erfolgreich beschreiten zu können. Die teilweise hohen Handelsbilanzüberschüsse, die nötig waren, um zumindest einen Teil der Schulden zu tilgen, wurden in erster Linie durch Importbeschränkungen erwirtschaftet, da sich die Terms of trade um rund 30 Prozent verschlechterten. Die Importeinschränkungen und der Abfluß inländischer Ersparnisse zur Bedienung der Auslandsschuld gingen primär zu Lasten der Investitionen, so daß von einem Dekapitalisierungsprozeß der lateinamerikanischen Volkswirtschaften gesprochen werden muß mit schwerwiegenden Folgen für das Wirtschaftswachstum
Bedingt durch die hohe Verschuldung sank für Lateinamerika der Anteil von Bankkrediten am Nettokapitalimport von 63 Prozent (1980) auf neun Prozent (1987). und auch der Anteil staatlich garantierter Exportkredite sank um die Hälfte auf knapp fünf Prozent. Ohne Zahlungsrückstände, durch die sich die Schuldnerländer zusätzliche Finanzierungsmittel verschafften, wäre das Bild noch ungünstiger. Bei den privaten Finanzströmen stiegen lediglich die Direktinvestitionen seit 1985 leicht an, was aber vermutlich auf den Verkauf von Bankforderungen an ausländische Investoren (Umwandlung von Schulden in Beteiligungen) zurückzuführen ist. Der Umfang der Kapitalflucht ist nach OECD-Schätzungen zwar gesunken, doch für eine Rückkehr von Fluchtgeldern nach Lateinamerika gibt es keine Anzeichen 14). Für die Jahre 1979 bis 1982 wird die Kapitalflucht auf über 60 Prozent der Auslandsschuld geschätzt. Mit einer nennenswerten Ausweitung „freiwilliger“ Kredite der Banken an die lateinamerikanischen Hochschuldnerländer ist auf mittlere Sicht kaum zu rechnen, da diese hier in Konkurrenz mit Industrieländern und erfolgreicheren Entwicklungsländern Asiens, Südeuropas und demnächst auch Osteuropas stehen.
Die Hauptgründe für die Wirtschaftsschwäche des lateinamerikanischen Subkontinents liegen in der Produktionsstruktur, in der fehlenden oder unzulänglichen Infrastruktur und in Ausbildungsmängeln der Arbeitskräfte. 2. Initiativen der Andenpaktstaaten Die Staaten des Andenpaktes konnten sich von dieser negativen Entwicklung des Subkontinents in keiner Weise abkoppeln. Das Pro-Kopf-Einkommen der Region lag 1989 unter dem von 1980 (mit der Ausnahme Kolumbiens). Peru erlitt im Jahre 1988 einen Wirtschaftsrückgang von 8. 8 und 1989 gar von Prozent. Peru war auch Spitzenreiterbei der Inflation, die im Jahre 1989 auf 2775, 3 Prozent anstieg, nachdem diese 1987 „noch“ bei 115 Prozent gelegen hatte. In Bolivien konnte nach einer Phase der Hyperinflation durch ein drastisches, neoliberales Anpassungsprogramm seit 1985 der Geldwert stabilisiert werden. Auch in Ecuador, Kolumbien und Venezuela beschleunigte sich die Inflation. ohne allerdings die Werte Perus zu erreichen. In der ersten Hälfte des Jahres 1990 zeigte die wirtschaftliche Entwicklung in den Andenpaktstaaten positive Tendenzen, insbesondere in Bolivien und Ekuador, jedoch mit Ausnahme Perus, das vor tief-greifenden Anpassungsprozessen steht. Während Peru auch in diesem Jahr mit keinem Wirtschaftswachstum rechnen kann, werden für Bolivien mehr als 3 Prozent Wachstum prognostiziert.
In Anbetracht der kaum überwindbaren eigenen Probleme und des wachsenden eigenen Bedeutungsverlustes angesichts der sich rapide ändernden weltpolitischen Situation bleibt Lateinamerika kaum eine andere Alternative, als nach effektiven Formen regionaler Zusammenarbeit zu suchen. Carlos Peres del Castillo, Generalsekretär der SELA, brachte diese Erkenntnis auf die drastische Formel: „Die Alternative ist klar: Entweder wir vereinigen uns. oder wir werden im 21. Jahrhundert kaum mehr sein als ein Anhängsel der Industriestaaten.“
Die Regierungen der Andenpaktstaaten verbreiten derzeit Optimismus, und sie können dabei darauf verweisen, daß 1989 der intraregionale Handel um 15Prozent zugenommen hat. Auf ihrem letzten Gipfeltreffen im Mai 1990 in der ehemaligen Inka-Hauptstadt Cuzco (und Macho Picchu) bekräftigten die Präsidenten ihren Beschluß vom Dezember 1989 (Galapagos, Ecuador), bis zum Jahre 1999 die Gemeinschaft in einen gemeinsamen Markt zu verwandeln. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen alle internen Zölle abgeschafft und gemeinsame Außenzölle gegenüber Drittländern errichtet werden. Zwischen 1991 und 1993 sollen die drei großen und am weitesten entwickelten Mitgliedstaaten Kolumbien. Venezuela und Peru auf alle Handelsbeschränkungen verzichten und bis 1995 die Zollschranken vollends aufheben. Bolivien und Ecuador erhielten eine längere Frist zugestanden. Bis 1999 müssen auch diese beiden Länder ihre Zollschranken gegenüber den Partnerländern abgebaut haben. Ein gemeinsamer Außenzoll soll 1992 errichtet werden. Man geht derzeit davon aus, daß er bei ca. 20 Prozent liegen dürfte.
Bis zum Jahr 2000 wollen die Andenpaktstaaten auch das Projekt einer gemeinsamen Währung verwirklichen. Die in Cuzco versammelten Präsidenten verkündeten ihre Bereitschaft, durch eine zunehmende Abstimmung ihrer Wirtschafts-und Finanzpolitiken die nötige Basis dafür zu schaffen. Ähnlich der Europäischen Gemeinschaft ist dabei an die Errichtung eines Währungsverbundes gedacht mit festgelegten Bandbreiten für die Währungsschwankungen. Zur Zeit werden in den Gremien des Andenpaktes auch Möglichkeiten zur Harmonisierung anderer Bereiche, wie z. B. eine Angleichung der Steuergesetzgebung, analysiert.
Analog dem Vorbild der EG sollen 1994 erstmals die Abgeordneten des Andenparlaments direkt gewählt werden. Auch hier verspricht man sich eine Demokratisierung und Popularisierung des Integrationsprozesses von den Direktwahlen
In Chile wird derzeit die Möglichkeit einer schrittweisen Rückkehr in die Gemeinschaft diskutiert.
Das ehemalige Gründungsmitglied könnte zu einer Belebung der Wirtschaftsgemeinschaft beitragen, schätzt den Nutzen des Paktes aber distanzierter (und vielleicht realistischer) ein, als die derzeitigen Mitgliedstaaten.
Die Initiativen der letzten Jahre sind immerhin auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Bevölkerung in den fünf Mitgliedstaaten zeigt heute mehr Interesse am Integrationsprozeß als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der Gemeinschaft. Der politische Wille zur Integration scheint derzeit in allen Mitgliedsstaaten ausgeprägter zu sein als im vergangenen Jahrzehnt. Langsam setzt sich in den politischen Führungsschichten die Erkenntnis durch, daß die Region nur als integrierte Gemeinschaft in Zukunft noch eine Chance haben wird, sich in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik zu behaupten
Sicherlich kann der Andenpakt nach wie vor für sich in Anspruch nehmen, der erfolgreichste regionale Wirtschaftszusammenschluß in der Dritten Welt zu sein, doch ist bei der Beurteilung seiner Zukunftschancen Skepsis angebracht. Auch nach über 20 Jahren ist der Andenpakt heute kaum mehr als eine große Idee, die Märkte von fünf Staaten zu integrieren, um damit gemeinsam der Unterentwicklung zu entwachsen. Gemessen an den eigenen Zielen, die in den sechziger Jahren formuliert wurden. ist der Zusammenschluß gescheitert. Selbst die inzwischen erheblich zurückgeschraubten Erwartungen und Ziele dürften sich bis zur Jahrtausendwende kaum verwirklichen lassen. Für den Andenpakt gilt genauso wie für die anderen Staaten Lateinamerikas und der Karibik, daß ohne hohe Wachstumsraten bei Investitionen. Produktion und Schaffung von Arbeitsplätzen sich die Verschlechterung der Lebensverhältnisse für die große Mehrheit der rasch wachsenden Bevölkerung auch in diesem Jahrzehnt fortsetzen wird.
Heinrich Kreft, Dr. phil., geb. 1958; 1978— 1984 Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie an der Universität Münster, am Juniata College (USA), am Institut d’Etudes Politiques de Paris sowie am Institut des Hautes Etudes de L’Amerique Latine der Sorbonne Nouvelle in Paris; 1984 — 1985 Postgraduiertenstudium am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (Berlin); seit 1988 Kultur-und Pressereferent an der deutschen Botschaft in La Paz, Bolivien. Veröffentlichungen u. a.: Entwicklung durch Partizipation. Möglichkeiten zur Interessendurchsetzung marginalisierter Gruppen in der Dritten Welt, am Beispiel der „Union de Organizaciones Campesinas de Rio de Oro“ in Ekuador, Münster 1988; (Mitverfasser) Ökologie und Sozialstruktur in Mali. Fallstudie Zone Lacustre, Berlin 1985; Artikel zur Entwicklungs-und Außenpolitik.
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