Mit den Wahlen vom 14. Dezember 1989 sowie dem Amtsantritt von Präsident Aylwin und der Wiedereröffnung des Parlaments am 11. März 1990 begann in Chile nach mehr als 16 Jahren Autoritarismus eine Etappe des Übergangs zur Demokratie. Trotz des Regimewechsels bestehen in Verfassung, Gesetzgebung und staatlichen Institutionen, in Wirtschaft und Gesellschaft autoritäre Strukturen fort, die erst in einem längeren und umfassenden Reformprozeß zu überwinden sind. Von besonderer Bedeutung ist daneben die Neudefinition des Verhältnisses zwischen ziviler Gesellschaft und Militärs sowie die Förderung von Wahrheit und Gerechtigkeit im Hinblick auf die Menschenrechtsverletzungen. Der von dem Christlichen Demokraten Patricio Aylwin angeführten und sich auf ein breites Bündnis ehemaliger Oppositionsparteien stützenden Regierung scheint es zu gelingen, die komplexen Probleme zu lösen. Die politische Vorherrschaft der Regierung vor den Militärs ist durchgesetzt; hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen wird die Versöhnung zwischen den Chilenen angestrebt; das Festhalten an den Grundsätzen der bisherigen Wirtschaftspolitik wird von maßvollen Sozialprogrammen ergänzt. Auch wenn die Regierungskoalition im Senat keine Mehrheit hat, was die Verabschiedung von Reformgesetzen erschwert, überwiegt auf Seiten der politischen und gesellschaftlichen Akteure eine Haltung zugunsten von Konsens und Kompromiß. Auf dieser Grundlage wird die Anpassung der politischen Institutionalisierung an die Partizipationserwartungen der gesellschaftlichen Gruppen und damit insgesamt eine Konsolidierung der Demokratie in Chile möglich sein.
Als in Chile am 11. März 1990 nach mehr als sechzehn Jahren autoritärer Regierung das Parlament erstmals wieder zusammentrat und der neue Präsident Patricio Aylwin sein Amt übernahm, fand die Zeremonie in dem noch nicht einmal halb fertiggestellten Kongreßgebäude in Valparaiso statt Von dem Parlament bestand kaum mehr als die Fassade — ein symbolträchtiger Hinweis auf die Ausgangs-tage der neuen Demokratie. Tatsächlich existieren auch nach dem Amtsantritt der neuen Regierung in Verfassung, Gesetzgebung und öffentlichen Institutionen, in Staat und Gesellschaft weiterhin autoritäre Strukturen, die erst in einem längeren und umfassenden Reformprozeß zu überwinden sind. Ganz bewußt betrachten daher die neue Regierung und die sie stützenden Parteien die Wahlperiode der kommenden vier Jahre als Übergangszeit, an deren Ende die Konsolidierung einer erneuerten chilenischen Demokratie stehen soll.
Die Aussichten des Demokratisierungsprozesses in Chile sollen im folgenden erörtert werden. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den wichtigsten Merkmalen der politischen Entwicklung seit dem Regierungswechsel vom 11. März. Darauf aufbauend können einige Erwartungen hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Demokratieentwicklung skizziert werden. Zuvor sind jedoch die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen am Beginn des Demokratisierungsprozesses zu bedenken.
Kürzlich ist festgestellt worden: „Idealtypisch gesprochen, vollzieht sich eine Demokratisierung als Prozeß der Institutionalisierung offener politischer Wettbewerbsbedingungen, in dem sich Gruppeninteressen generell der nach der umfassenden Ausweitung politischer Partizipationsmöglichkeiten stark erhöhten Kontingenz artikulierbarer wie implementierbarer Politikinhalte unterzuordnen haben.“ Dieses Zitat weist auf die zentrale Bedeutung der Einstellungen und des Verhaltens der gesellschaftlichen und insbesondere politischen Akteure hin, denen auch in anderen Analysen zur Transformation autoritärer Regime für die Stabilisierung von Demokratie neuerdings eine im Vergleich zu sozioökonomischen Aspekten stärkere Bedeutung beigemessen wird Auch bei der Betrachtung und Beurteilung des chilenischen Falles gilt es, diese Faktoren zu berücksichtigen.
I. Der Übergang zur Demokratie
In dem Anfang der achtziger Jahre einsetzenden Zyklus der (Re-) Demokratisierung Lateinamerikas ist Chile ein Nachzügler. Die Ursache dafür liegt in der festen institutionellen Verankerung des am 11. September 1973 durch einen Putsch an die Macht gekommenen Regimes. Erst die Niederlage General Pinochets bei dem Plebiszit vom 5. Oktober 1989 über eine achtjährige Verlängerung seiner Präsidentschaft öffnete den Weg zur Durchführung freier Wahlen In ihrem Vorfeld kam es im Juli 1989 zu einer Verständigung zwischen den Parteien der demokratischen Opposition einerseits und der Regierung und den Militärs andererseits über eine Reform der 1980 zur Legitimierung des Regimes geschaffenen Verfassung. Auch wenn diese nicht substantiell geändert wurde, sondern lediglich zukünftige Reformen erleichterte, zeigte der erreichte Konsens, daß eine Verständigung zwischen den Vertretern und den Gegnern des autoritären Regimes möglich geworden war. Das eröffnete die Aus-sicht, daß auch nach den Wahlen ein Konsens über Reformpolitiken erzielt werden könnte, zumal einerseits die Opposition nicht damit rechnen konnte, im Parlament über die für Verfassungs-und Gesetzesänderungen notwendigen Quoren zu verfügen, und andererseits die politische Rechte ihre Vetoposition nicht gegen den Mehrheitswillen des Volkes für eine Obstruktionshaltung mißbrauchen durfte. Die Oppositionsparteien hatten bereits vor dem Plebiszit 1988 eine breite Allianz gegen Pinochet gebildet, die 1989 in den aus 17 Mitgliedern bestehenden „Zusammenschluß der Parteien für die Demokratie“ (Concertaciön por la Democracia) mündete. Für ihr gutes Wahlergebnis war entscheidend, daß sie trotz großer Differenzen und Rivalitäten Mitte 1989 Übereinkommen in drei wichtigen Punkten erzielten: Verabschiedung eines gemeinsamen Wahlprogramms, Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste und Ernennung eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten in der Person des Vorsitzenden der wichtigsten Oppositionspartei, des Christdemokraten Patricio Aylwin.
Die politische Rechte, die jahrelang vom Autoritarismus zusammengehalten wurde, erwies sich zu einem solchen Verständigungsprozeß als unfähig. Den Pressionen des scheidenden Regimes und einflußreicher Wirtschaftskreise folgend, ernannten die wichtigsten Rechtsparteien „Renovaciön Nacional" (RN) und „Union Demöcrata Independiente" (UDI) Hernan Büchi, den ehemaligen Finanzminister Pinochets, zu ihrem Kandidaten und gingen eine Listenverbindung ein. Dritter Bewerber ohne nennenswerten parteipolitischen Rückhalt, aber mit um so stärker ausgeprägter populistischer Neigung, war der Unternehmer Francisco Javier Erräzuriz.
Patricio Aylwin war der eindeutige Wahlsieger, der den Anteil der „Nein“ -Stimmen gegen Pinochet aus dem Vorjahr (55 Prozent) erreichte (vgl. Tabelle 1). Er hatte am glaubwürdigsten den Wunsch der Mehrheit der Chilenen nach einer Demokratisierung des Systems repräsentiert und überragte seine Mitbewerber durch seine persönliche Integrität und Kompetenz als Politiker bei weitem. Sein Ansehen wirkte sich positiv aus auf das Abschneiden der „Concertaciön“ insgesamt.
Auch die Parlamentswahlen (vgl. Tabelle 2) konnte diese Parteienvereinigung eindeutig für sich entscheiden. Allerdings ist eine Mehrheit der Mandate im Senat durch die von der Verfassung vorgesehene und von der Opposition vergeblich abgelehnte Ernennung neun weiterer Senatoren durch das scheidende Regime zunichte gemacht worden. Das verstärkt die Notwendigkeit zu einer blocküberwindenden Verständigung bei dem Gesetzgebungsverfahren und den beabsichtigten Verfassungsänderungen.
Insgesamt bestätigte das Wahlergebnis, daß sich das politische Koordinatensystem nach mehr als 16 Jahren Autoritarismus nicht wesentlich verschoben hat: Die vor 1973 für Chile charakteristische Spaltung des Parteiensystems in drei etwa gleich starke Blöcke hat sich wieder eingestellt, wobei das Zentrum eindeutig von den Christlichen Demokraten (PDC) besetzt wird. Diese gewannen allein 13 der 22 Senats-und 38 der 70 „Concertaciön“ -Abgeordnetenmandate und verfügen damit in beiden Kammern über jeweils ein Drittel der Sitze. Von den übrigen Parteien hat lediglich die sozialistische Sammlungspartei „Partido por la Democracia“ (PPD) eine relevante Mandatszahl errungen. Die Parlamentssitze der rechten Listenverbindung „Demokratie und Fortschritt“ (Democracia y Progreso) konzentrieren sich auf die zwei genannten Parteien; die meisten Unabhängigen dieser Liste sind mittlerweile der RN beigetreten. Daß diese Konstellation Kompromisse nicht grundsätzlich erschwert, zeigte sich in der ersten Parlamentssitzung, als es zu einer blockübergreifenden Verständigung über die Besetzung der Vorstandspositionen in beiden Kammern und die Ausschußvorsitze kam. Das Wahlbündnis verschiedener Linksparteien (Kommunistische Partei, Linkssozialisten, Linksradikale, Christliche Linke), „Einheit für die Demokratie“ (Unidad por la Democracia), konnte nicht reüssieren und ist nach der Wahl aufgelöst worden; die beiden Mandatsträger gehören der Sozialistischen Partei an.
Bei der Regierungsbildung und der Ernennung der neuen Spitzenfunktionäre in der staatlichen Verwaltung wurden die Zusammensetzung der „Concertaciön“ und das Abschneiden der einzelnen Parteien berücksichtigt. Das bedeutet, daß die Christdemokraten in Kabinett und Verwaltung eine Mehrheit bilden, die anderen Parteien bei der Ämtervergabe aber auch zum Zuge kamen.
Aufmerksamkeit rief die Entscheidung Aylwins hervor, die Junta-Mitglieder Matthei und Stange zum Verbleib in ihren Ämtern als Oberkommandierende der Luftwaffe bzw.der Polizei zu bitten. Damit setzte der Präsident ein Signal für das künftige Verhältnis zu den Uniformierten — zumal er die Oberkommandierenden nicht entlassen kann.
Den beiden anderen Junta-Mitgliedern, Pinochet und Merino, hat man den Rückzug nahegelegt, doch nur Admiral Merino ist gegangen. Pinochet dagegen blieb, wie es ihm die Verfassung zugesteht, im Amt des Heereskommandeurs. Damit personifiziert er die Persistenz des autoritären Erbes nur allzu deutlich.
II. Das Erbe des Autoritarismus
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Tabelle 2: Ergebnis der chilenischen Parlamentswahlen vom 14. Dezember 1989 Quelle: Ministerio de Interior, Departamento de y Control.
Tabelle 2: Ergebnis der chilenischen Parlamentswahlen vom 14. Dezember 1989 Quelle: Ministerio de Interior, Departamento de y Control.
Der Demokratisierungsprozeß wird vom Erbe des autoritären Regimes nachhaltig beeinflußt und mitbestimmt. Das gilt sowohl für den institutioneilen wie für den sozioökonomischen Bereich. Hinzu kommen als zwei weitere Hinterlassenschaften von besonderem Gewicht und besonderer Komplexität die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen und die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen ziviler Gesellschaft und den Streitkräften. Da diese sich einen bleibenden Einfluß auf den politischen Prozeß sicherten und die politische Macht mit dem Bewußtsein aus den Händen gaben, ihre Mission erfüllt und nicht nur eine neue, sondern auch eine bessere Ordnung errichtet zu haben, muß jeder Versuch eines grundlegenden politischen Wandels die Position der Streitkräfte mitbedenken — und das gilt zumal bei der Behandlung der Menschenrechtsproblematik. 1. Verfassung und institutionelle Ordnung Zu den herausragenden Charakteristika des Militärregimes in Chile gehört die große Sorgfalt, die es auf seine Legitimierung verwandte. Das ist Ausdruck einer legalistischen Tradition, welche sich als eines der besonderen Elemente der politischen Kultur des Landes, interessanterweise schon kurz nach dem Putsch von 1973, im Verhalten der Militärs zeigte, als sie sich zur Rechtfertigung des Staatsstreiches auf die Verfassung und die darin angeblich vorgesehene Notstandssituation beriefen
Herausragender Baustein bei der Konstruktion eines Rahmens der Legalität und Legitimität ist die Verfassung von 1980, mit der die Umwandlung der Militärdiktatur in ein autoritäres Regime vollzogen wurde und die auch weiterhin den institutioneilen Rahmen für den Demokratisierungsprozeß abgibt Trotz der Reformen von 1989 enthält die Verfassung eine Reihe autoritärer Elemente, die wenig kompatibel sind mit den westlichen Vorstellungen von repräsentativer Demokratie Solche Elemente sind: — die eingeschränkte Rolle des Parlaments im Hinblick sowohl auf die Regierungskontrolle als auch auf die Gesetzesinitiative; — die demgegenüber betont starke Stellung des Präsidenten, der über seine weitgefaßten exekutiven Rechte hinaus eine Reihe von Vorrechten im Bereich der Gesetzgebung und auch der Justiz (z. B. bei der Richterernennung) besitzt, so daß von einer funktionierenden Gewaltenteilung kaum gesprochen werden kann; — die Festschreibung der Rolle der Streitkräfte als Garanten der nationalen Sicherheit und der institutionellen Ordnung sowie ihre weitgehende interne Autonomie, die Ende 1989 in einem sogenannten Verfassungs-Strukturgesetz noch verfestigt wurde; — die Beteiligung der Streitkräfte an der politischen Willensbildung über den „Nationalen Sicherheitsrat“, dessen Attribute in der Reform von 1989 etwas beschnitten und bei dessen Zusammensetzung wenigstens eine Parität zwischen Zivilisten und Militärs eingeführt wurde; — die in der Verfassung nicht vorgesehene kommunale Selbstverwaltung und die Festlegung korporativistischer Partizipationsformen auf kommunaler und regionaler Ebene, was u. a. dazu führte, daß noch 1989 fast alle Bürgermeister von den von Militärs dominierten Gremien auf vier Jahre ernannt wurden.
Auch wenn bei der Reform von 1989 die ursprünglichen Bestimmungen hinsichtlich einer Zementierung der Verfassungsnormen abgemildert und zukünftige Reformen etwas erleichtert wurden ist dazu wegen der notwendigen Quoren eine Verständigung mit der Rechten notwendig, die umso schwieriger umzusetzen sein wird, je weniger Vorteile sich die heutigen Oppositionsparteien von einer Verfassungsänderung versprechen. Das gilt z. B. für die Kommunalreform, die die Rechtsparteien im Parlament wohl nicht so rasch passieren lassen werden.
Zur Beständigkeit der autoritären Strukturen trägt bei, was das scheidende Regime insbesondere in den Monaten zwischen Wahlen und Regierungswechsel in Gesetzen festschrieb, um den Handlungs-, Finanz-und Reformspielraum der neuen Regierung einzuschränken Dazu gehört u. a. — ein Verbot für das Parlament, Handlungen der vorhergehenden Regierung zu untersuchen und zu verurteilen;
— die Anordnung des Verkaufs einer Reihe genau bezeichneter öffentlicher Unternehmen binnen Jahresfrist und für die neue Regierung das Verbot einer Einflußnahme auf die Verwaltung jener Unternehmen;
— die Ausgabe eines Großteils des Staatbudgets für 1990 in den ersten Monaten des Jahres mit der Folge eines Defizits in den sozialpolitisch sensiblen Bereichen Gesundheit, Erziehung und Wohnungsbau;
— die Einführung einer weitgehenden institutioneilen Autonomie und finanziellen Absicherung der Streitkräfte.
Daneben überlebt der Autoritarismus noch in einer ganzen Reihe von gesetzlichen Bestimmungen und institutioneilen Arrangements, aber auch in den Einstellungen der Akteure. Wo in den vergangenen Jahren offene Diskussionen und ein frei ausgehandelter Interessenausgleich nicht existierten — sei es in den Arbeitsbeziehungen, sei es an den Universitäten oder andernorts —, sind partizipative und demokratische Strukturen verschüttet worden, die nur allmählich wieder freigelegt werden können. 2. Die wirtschaftliche und soziale Situation Neben der institutionellen Verankerung ihres Regimes haben die chilenischen Militärs eine weitere Besonderheit vorzuweisen: Anders als ihre Kollegen in den Nachbarländern haben sie kein wirtschaftliches Chaos, sondern eine gesunde Volkswirtschaft hinterlassen. Das wurde in den vergangenen beiden Jahren auch von der damaligen Opposition anerkannt, die damit ihre frühere grundsätzlich kritische Einstellung gegenüber der Wirtschaftspolitik und dem dahinter stehenden Ordnungsmodell der Militärs allmählich korrigierte — was ihr nicht zuletzt auch wahlpolitisch nutzte Die Aufrechterhaltung der günstigen Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre gehört heute zu den parteiübergreifenden kollektiven Zielen in Chile, wobei sich diese Übereinstimmung als funktional erweisen kann für das Aneinanderrücken der Blöcke und die Versöhnung im Hinblick auf andere Fragen innerhalb der Gesellschaft. 1989 erlebte Chile das sechste Jahr eines beachtlichen Wirtschaftswachstums (vgl. Tabelle 3), das zudem mit 8, 5 Prozent einen bemerkenswerten Höhepunkt erreichte. Der Exporterfolg der Chilenen im nicht-traditionellen Bereich (Agrar-und Industrieprodukte), der auch 1989 wiederholt werden konnte, war in den vergangenen Jahren häufig Gegenstand anerkennender Kommentare. Dazu kam nun eine Steigerung der internen Nachfrage nach Konsum-und Investitionsgütern, die u. a. auf die — mit Blick auf die Wahlentscheidungen der Jahre 1988 und 1989 — expansive Geldpolitik und eine Reihe von Großinvestitionen zurückging. Auf Beschäftigung und Arbeitslöhne wirkte sich diese Entwicklung insgesamt recht positiv aus, machte aber schon Ende 1989 eine Anpassungspolitik zur Inflationsbekämpfung notwendig, die Wachstumseinbußen 1990 zur Folge hatte
Ihre Schattenseiten hat die chilenische Erfolgsstory im sozialen Bereich. Nicht nur sind die Ausgaben für Gesundheit, Erziehung und Wohnungsbau in den letzten zehn Jahren gesunken; vielmehr ist die Zahl der bedürftigen Personen und Familien in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und beträgt mittlerweile ca. 40 Prozent der Gesamtbevölkerung. Der (Bruttosozialprodukt-) Kuchen ist zwar größer geworden, doch wird er sehr ungleichmäßig verteilt. Die unteren Einkommensempfänger haben nach der schweren Rezession von 1982/83 ihren Lebensstandard von vor 1981 trotz anhaltenden Wirtschaftswachstums noch nicht erreicht Verschiedene Sektoren der Gesellschaft sahen daher der neuen Regierung mit Erwartungen entgegen, die trotz der günstigen makroökonomischen Ausgangslage nicht alle erfüllbar sind.
III. Ziele und Maßnahmen der Regierung
Abbildung 10
Tabelle 3: Daten zur Wirtschafts-und Sozialentwicklung in Chile Quelle: Banco Central de Chile, CEPAL.
Tabelle 3: Daten zur Wirtschafts-und Sozialentwicklung in Chile Quelle: Banco Central de Chile, CEPAL.
1. Reformabsichten der Regierungskoalition Das ernsthafte Bemühen um konkrete programmatische Vorschläge für künftige Reformen kennzeichnete die Haltung der Opposition in der Phase der Wahlvorbereitung. Das im Juli 1989 vorgestellte gemeinsame Regierungsprogramm der Parteien der „Concertaciön“ spiegelte diese Absicht wider Propagiert wurden hier drei zentrale Ziele: die Demokratisierung des Landes und seiner Institutionen durch Beseitigung dessen, was oben als autoritäre Strukturen dargestellt wurde; die Aufrechterhaltung der Rahmenbedingungen für ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum und auf dieser Grundlage die Beseitigung der extremen Armut und die Herbeiführung von sozialer Gerechtigkeit; die Förderung der Wahrheit hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen als Grundlage von Versöhnung und Gerechtigkeit. Trotz der betonten Notwendigkeit zur Überwindung des Autoritarismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Auswirkungen zeichnet sich das Programm durch gemäßigte Forderungen umd Reformvorschläge sowohl aus, man den Befürchtungen eines abrupten Wandels als auch überzogenen Erwartungen vorbeugen wollte. Für den Bereich der Menschenrechte gilt z. B. bei allen eventuellen Prozessen mit Blick auf die Streitkräfte, daß die „Schuldfähigkeit persönlich ist, und deshalb wird man nicht die Institutionen, denen die eventuellen Schuldigen angehören, zur Verantwortung ziehen“ In ähnlicher Weise wird die Stabilität der wirtschaftspolitischen, d. h. marktwirtschaftlichen Spielregeln betont und werden die sozialpolitischen mit den Wachstumszielen gekoppelt. Das Festhalten an den im Rahmen der „Concertaciön“ vereinbarten Aufgaben und Zielen hat Präsident Aylwin in einem Rechenschaftsbericht am 21. Mai noch einmal deutlich gemacht 2. Reformstrategien der Regierung Auch wenn es selbst für ein vorläufiges Urteil über die seit dem 11. März in Gang gesetzten Reformpolitiken noch zu früh ist, sind die Strategien der Regierung zur Verwirklichung einiger ihrer wichtigsten Ziele recht deutlich erkennbar. a) Demokratisierung der Gesellschaft Bei der Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten zur allmählichen Ersetzung des Autoritarismus ist die angestrebte Wiederbelebung und Öffnung von Basisorganisationsformen (Nachbarschaftsvereinigungen, Mütterzentren etc.), die vom vorhergehenden Regime für seine Zwecke instrumentalisiert worden waren, von besonderer Bedeutung; entsprechende gesetzliche Initiativen wurden in die Wege geleitet. Das gleiche gilt für die Einführung der kommunalen Demokratie. Beide Initiativen fanden jedoch keine sofortige Zustimmung im Kongreß und können wohl erst nach längeren Diskussionen und Änderungen der Vorlagen Gesetzes-kraft erlangen. Ähnlich ergeht es den Initiativen zur Schaffung eines staatlichen Frauen-und Jugend-dienstes, bei denen nicht ganz klar wird, warum derartige Initiativen zur Anregung von Partizipation vom Staat ergriffen werden müssen. b) Wahrheit und Gerechtigkeit im Hinblick auf die Menschenrechtsfrage Nachdem der Präsident anläßlich seiner Amtseinführung zahlreiche politische Gefangene, die keiner Gewaltakte beschuldigt wurden, amnestiert hatte, wird vor allem auf zwei Wegen versucht, das Menschenrechtsthema aufzuarbeiten. Zum einen will der Justizminister im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen, aber auch auf terroristische Gewaltakte mittels einer Reihe von Gesetzesänderungen sowohl neue Formen der Strafverfolgung als auch der Amnestierung und Strafmilderung durchsetzen. Das ist deshalb sehr schwierig, weil sich die Ansichten der Parteien der Rechten und der Linken bei aller Kompromißbereitschaft in dieser Frage diametral entgegenstehen. Die Leichenfunde von Opfern des Putsches sowie anhaltende terroristische Gewaltakte haben die Positionen beider Seiten eher verhärtet. Zum anderen hat der Präsident im April eine Kommission „Wahrheit und Versöhnung“ gegründet, die einen Bericht über die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen erstellen und Maßnahmen zur Wiedergutmachung, zur Herbeiführung von Gerechtigkeit und zur Prävention empfehlen soll. Strafverfahren wird es gegen Täter geben, die eindeutig identifizierbar sind. Denkbar ist aber auch, daß nach Vorlage des Berichts der Kommission ein Versöhnungsakt beschlossen wird, der mit Blick auf die Zukunft die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden sucht. Auf keinen Fall aber will sich die Regierung in ihrer Menschenrechtspolitik unter Druck setzen lassen. c) Eingliederung der Streitkräfte in den politischen Prozeß War in den ersten Wochen der neuen Regierung eine Unsicherheit der Streitkräfte über ihre neue Rolle innerhalb des politischen Prozesses erkennbar und gab es Friktionen zwischen dem Heer und insbesondere General Pinochet einerseits und der Regierung andererseits, die vor allem in dem (gescheiterten) Widerstand gegen die Gründung der Kommission „Wahrheit und Versöhnung“ sowie einer Erklärung des Heeres zur — aufgrund von Leichenfunden neu entfachten — Menschenrechtsdiskussion zum Ausdruck kamen so hat dies mittlerweile einer neuen Standortbestimmung Platz gemacht, in der die politische Führungsrolle der Regierung anerkannt wird. Allerdings werden die Streitkräfte ihre institutionelle Sonderrolle wohl bewahren; Gesetzes-oder Verfassungsänderungen zur Beschneidung der Rolle der Streitkräfte sind vorerst nicht denkbar. d) Stabilität der Wirtschaftsordnung Der erste substantielle Kompromiß zwischen Regierung und Opposition kam ausgerechnet über die Steuerreform, sprich: Steuererhöhungen, zustande. Ziel dieser Reform, die insbesondere eine Anhebung der Unternehmenssteuem auf zehn Prozent bzw. vorübergehend (1991 bis 1993) auf 15 Prozent, eine Anhebung der Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent und eine Straffung der direkten Steuern festlegte, ist die Erhöhung der Staatseinnahmen, die in Sozialprojekte zugunsten der ärmsten Schichten investiert werden sollen. Begleitet war diese positive Entwicklung der Fiskalpolitik in den ersten Monaten der Regierung von Wachstumseinbußen aufgrund der erwähnten Anpassungsmaßnahmen zur Inflationsbekämpfung. Die Zentralbank hatte bereits Ende 1989 geldpolitische Maßnahmen, wie z. B. eine Zinsanhebung getroffen, um die überhitzte Wirtschaft abzukühlen und die Inflation zu drosseln. In Übereinstimmung mit der neuen Regierung wurde diese Politik um den Preis eines geringeren Wirtschaftswachstums (1990: wahrscheinlich drei, statt wie erwartet fünf Prozent) fortgesetzt. Gleichwohl sind die mittelfristigen Erwartungen günstig, wofür allein schon die hohen Investitionen sprechen. Bemerkenswert ist schließlich, daß es zwar eine Diskussion um die Instrumente der Wirtschaftspolitik, nicht aber um den marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen gibt, der um einige soziale Elemente zur Festigung einer „Sozialen Marktwirtschaft“ erweitert werden soll. e) Soziale Reformen und soziale Erwartungen So sehr die damalige Opposition im Wahlkampf von 1989 die sozialpolitischen Defizite des autoritären Regimes brandmarkte, so sehr hatte sie gleichzeitig vor übertriebenen Erwartungen gewarnt und Sozialreformen von der Wirtschaftsentwicklung abhängig gemacht. Die seit März in Gang gesetzten Reformen zur Bekämpfung der extremen Armut sowie in den sozialpolitisch sensiblen Bereichen Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau sollen mit den zusätzlichen Einnahmen aus der Steuerreform sowie teilweise über Kredite aus der bi-und multilateralen Kooperation finanziert werden. Aufkeimendem sozialen Protest ist die Regierung bisher entschlossen entgegengetreten Ihr Ziel ist es, neben quantitativen vor allem qualitative Verbesserungen im Sozialsystem einzuführen, wozu insbesondere eine Vertiefung der administrativen Dezentralisierung beitragen soll. Auch wenn sich die ersten sozialpolitischen Maßnahmen auf die Erhö-hung öffentlicher Zuschüsse in den genannten Bereichen konzentrieren, soll der Rückfall in einen vom Staat mittelbar oder unmittelbar geförderten Paternalismus vermieden werden.
Selbst wenn in der Wirtschafts-und Sozialpolitik noch keine großen „Realisierungen“, wie Reform-leistungen in Chile genannt werden, zu vermelden sind, genießen Präsident und Regierung hohe Zustimmung: Mitte Juni beurteilten 88 Prozent der Chilenen den Präsidenten und 85 Prozent die Regierung als gut bis sehr gut. Das dürfte u. a. Ausdruck für das Vertrauen in die Kompetenz der Regierung sein, die der Opposition bisher wenig Ansatzpunkte für Kritik bietet, und Resultat vor allem der Konsequenz mit der Präsident Aylwin sein Amt ausübt: Daß er den politischen Führungsanspruch der Regierung gegenüber den Militärs und dem sich anfangs wehrenden Pinochet durchsetzte und daß er bei der Behandlung des Menschenrechtsthemas verschiedene Interessen auszugleichen versteht, hat Aylwin viel Zustimmung verschafft. Die Versöhnung der Chilenen ist für ihn nicht nur eine rhetorische Floskel, sondern — wie seine Gesten und Handlungen beweisen — ein echtes Anliegen. Darin liegt ein wesentlicher Beitrag für die Konsolidierung der Demokratie.
IV. Gesellschaft und Demokratie
Zu den herausragenden Charakteristika Chiles vor 1973 gehörte der hohe Grad politischer und gesellschaftlicher Organisation und Partizipation, der einen hohen Grad politischer und sozialer Mobilisierung begünstigte — was schließlich in „Hypermobilisierung“, politische Instabilität und den Zusammenbruch der Demokratie mündete Daß es eine Wiederholung ähnlicher destabilisierender Entwicklungen zu vermeiden gilt, daß die Erhaltung der Demokratie als eine gemeinsame Aufgabe begriffen wird und daß dazu Kompromißbereitschaft notwendig ist, gehört zu den wiederholt beschworenen „Lektionen der Vergangenheit“ Bei der Umsetzung dieser Lektionen in politisches und gesellschaftliches Handeln spielen Parteien, Gewerkschaften und Unternehmer eine maßgebliche Rolle. 1. Parteien und Parteiensystem Während des Autoritarismus haben nicht nur die demokratischen Werte überlebt sondern auch — wie das Wahlergebnis zeigte — die traditionelle Teilung des politischen und Parteiensystems in drei etwa gleich starke Blöcke. Gleichwohl zeichnen sich im Parteiensystem Veränderungen ab. die den Demokratisierungsprozeß mitprägen werden Die politische Rechte wird im wesentlichen von zwei Parteien repräsentiert: der UDI als der maßgeblichen Verteidigerin des früheren Regimes und der „Renovaciön Nacional" (RN), die eine „weiche“ Linie vertritt und u. a. 1989 entscheidend am Zustandekommen des Konsenses über die Verfassungsreform beteiligt war. Trotz der Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Organisationsstruktur wird RN auf die Rolle einer einflußreichen Minderheit beschränkt bleiben. Allein über die Bildung einer Mitte-Rechts-Koalition könnte RN in Regierungsverantwortung gelangen, doch ist eine solche Konstellation mittelfristig eher unwahrscheinlich, da RN weiterhin die Hinterlassenschaft des Autoritarismus verteidigt.
Das politische Zentrum wird dominiert von der Christlich-Demokratischen Partei (PDC), die als am besten organisierte Partei des Landes die Opposition gegen Pinochet anführte und heute den Präsidenten und die Hälfte der Minister stellt Frühere hegemonistische Ansprüche hat der PDC ebenso abgelegt wie seine übertriebene Ideologisierung, die pragmatischeren Einstellungen Platz machte. Aus den Konflikten lernend, die während der Regierungszeit des ersten christlich-demokratischen Staatspräsidenten Eduardo Frei (1964 bis 1970) zur Parteispaltung geführt hatten, bemüht sich der PDC heute um eine Profilierung nicht in Abgrenzung von, sondern durch die Identifizierung mit der Regierung.
Die Linke wird heute geprägt von drei Kräften der Sozialistischen Partei (PS), deren verschiedene Fraktionen sich bald nach den Wahlen von 1989 mit einigen kleineren Linksparteien vereinten; der „Partei für die Demokratie“ (PPD), die als Sammelbecken der gemäßigten Linken entstand und dem PDC seine Rolle als führende Kraft des politischen Zentrums streitig zu machen versucht; schließlich der Kommunistischen Partei (PC), die offensichtlich noch immer über eine relativ gute Basisorganisation verfügt, aber mittlerweile mit einer zunehmenden internen Dissidentenbewegung fertig werden muß. Da die Kommunisten wohl dauerhaft von einer Regierungsbeteiligung ausgeschlossen bleiben und sich ihr Wählerpotential merklich verringert hat, werden PS und PPD in Zukunft das Erscheinungsbild der chilenischen Linken prägen, freilich — ebenso wie die Rechte — kaum zu einer alleinigen Regierungsbildung in der Lage sein.
Schon dieser kurze Überblick deutet an, daß sich die frühere Parteienvielzahl verringert. Beeinflußt wird diese Tendenz durch die gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere durch das Wahlrecht, das kleineren Parteien bewußt keine Chance läßt. Für den politischen Prozeß hat dies zur Folge, daß sich — wie schon vor Plebiszit und Wahlen — der politische Wettbewerb auf das Zentrum konzentriert, und daß die wenigen großen Parteien trotz ihrer Differenzen einen Konsens über die künftigen Spielregeln und den Rahmen der Konfliktaustragung etablieren Für die Stabilisierung des politischen Systems wird dies von entscheidender Bedeutung sein.
Eine ähnlich funktionale Bedeutung kann eine weitere Entwicklung haben, die nahezu alle Parteien gleichermaßen betrifft: die Verselbständigung intermediärer Gruppen und Organisationen (Gewerkschaften, Berufsverbände), die vor 1973 eindeutig von den Parteien dominiert und nicht selten als Foren zur Austragung zwischenparteilicher Rivalitäten mißbraucht wurden. Für die Lebensfähigkeit von Demokratie sind funktionierende intermediäre Organisationen unverzichtbar. Ihre gesellschaftspolitischen Leistungen können durch größere parteipolitische Unabhängigkeit möglicherweise noch gesteigert werden. Diese Chance zeichnet sich zumindest im Gewerkschaftsbereich ab. 2. Gewerkschaften und Unternehmer Gewerkschaften und Unternehmer sind auch in Chile die klassischen Antipoden des Verteilungskampfes, die von dem früheren Regime einseitig benachteiligt bzw. bevorzugt worden waren. Arbeitsgesetzgebung und Steuerrecht machten die Unternehmer zu der am meisten begünstigten Gruppe, die über einen kaum übersehbaren und kaum verhohlenen Einfluß verfügte Demgegenüber spaltete die Regierung mit ihrer Arbeitsgesetzgebung die Gewerkschaftsbewegung und unterdrückte regimekritische Gewerkschafter sowie Gewerkschaftszentralen ein Ausdruck dafür ist der schwache Organisationsgrad der Arbeiter während der Jahre des Autoritarismus (ca. 10 Prozent gegenüber ca. 30 Prozent in 1973). Nach dem Regierungswechsel hat sich diese Situation keineswegs entscheidend verändert. Allerdings verfügen die Gewerkschaften seither über einen wesentlich größeren Handlungsspielraum, und sie können einen großen Einfluß auf den Verlauf des Demokratisierungsprozesses nehmen. Schließlich zeigt die Erfahrung, daß Gewerkschaften den Moment des Aufbrechens eines autoritären Systems häufig dazu benutzen, lange unterdrückte Forderungen anzumelden. Eine damit einhergehende soziale Mobilisierung kann den Prozeß der politischen Öffnung jedoch wieder nachhaltig gefährden
In Chile scheint das nicht einzutreten. Die Gewerkschaften selbst haben maßgeblich dazu beigetragen. Am 31. Januar 1990, d. h. noch vor dem Regierungswechsel, unterzeichnete der wichtigste Gewerkschaftsdachverband „Central Unitaria de Trabajadores“ (CUT) zusammen mit dem wichtigsten Unternehmerverband ein Abkommen, das den Rahmen der beiderseitigen Beziehungen absteckte Beide Seiten anerkennen hier die Existenz freier Gewerkschafts-und Unternehmerorganisationen sowie die Notwendigkeit eines permanenten Dialogs, in dem sie Konflikte auf konstruktive Weise behandeln wollen. Auf der Basis dieses Dokuments hatte es in den folgenden Wochen und Monaten permanente Gespräche über die von den Gewerkschaften verlangten Änderungen der Arbeitsgesetzgebung gegeben (Modus der Tarifverhandlungen, Arbeitsplatzsicherung, Streikrecht, Erleichterung gewerkschaftlicher Organisationen etc.). Die neue Regierung nahm nur sporadisch an solchen Gesprächen teil, weil es ihre Absicht ist, den Tarifparteien weitgehende Autonomie zuzusichern und nur den Verhandlungsrahmen abzustekken. Erst als Gewerkschaften und Unternehmer keine Einigung über die Arbeitsreform erzielten, ergriff die Regierung die Gesetzesinitiative, konnte aber aufgrund fehlender Mehrheit im Senat nur in einem Teilbereich einen Kompromiß herbeiführen. Unabhängig von der Diskussion um die inhaltlichen Bestimmungen des neuen Arbeitsrechts, lassen sich im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmern einige Elemente beobachten, die schon fast typisch für den Beginn des Demokratisierungsprozesses in Chile sind: Bereitschaft zu Versöhnung und Konsens, die die Einstellungen der Akteure kennzeichnet; Unerfahrenheit im Umgang miteinander, was ein langsames Aufeinanderzugehen notwendig macht; Unsicherheit bei der Ausfüllung der neuen Rollen, die der Regimewechsel mit sich brachte; Geduld und Selbstbescheidung bei denen, die Opfer des autoritären Regimes sind. Für die Konsolidierung der Demokratie — und nur darum geht es hier — sind das alles günstige Begleitumstände.
V. Perspektiven derDemokratie in Chile
Die chilenische Demokratisierung verläuft fast nach dem Lehrbuch. In der eingangs zitierten Studie wird die Notwendigkeit einer kompromißbereiten Einstellung der Akteure betont, wobei „konstitutive Pakte, die Demokratisierungsinhalte und -grenzen definieren, eine herausragende Rolle spielen“ Beide Konditionen sind in Chile erfüllt. Es gibt nicht nur einen verbalen Konsensualismus, sondern — das wurde zu zeigen versucht — es existiert eine Einstellung zugunsten von Kompromiß und Versöhnung, die die natürlichen Interessengegensätze zu überwinden sucht. Zudem bilden der „Zusammenschluß der Parteien für die Demokratie“ und das von ihnen erarbeitete Regierungsprogramm eine organisatorische, vor allem aber inhalt-liehe Grundlage, die den demokratiefördernden Kräften eine gemeinsame Zielorientierung verleiht. Auch wenn übrigens das Gebilde der „Concertaciön“ nach den Wahlen von 1989 in seiner formalen Substanz zerfiel, arbeiten die Parteien, die dieser Allianz angehörten, im Parlament eng zusammen und bilden das Rückgrat der Regierung. Versuche zur formalen Wiederbelebung der „Concertaciön“ sind bisher allerdings am Egoismus der großen Parteien gescheitert, die bei aller Bereitschaft zur Zusammenarbeit ihr eigenes Profil angesichts der für 1992 erwarteten Kommunalwahlen und der für Ende 1993 vorgesehenen Parlaments-und Präsidentschaftswahlen stärken wollen. Gleichwohl wird es insbesondere dann, wenn die Regierung erfolgreich ist, kaum eine andere Option als die Fortsetzung der bisherigen Koalition geben. Andererseits wäre eine Änderung in der Zusammensetzung der Regierungskoalition zunächst nichts anderes als. eine Bestätigung demokratischer Verfahren.
Zur Zeit lassen sich als weitere günstige Faktoren für den Demokratisierungsprozeß nennen: die ins-gesamt recht maßvollen Erwartungen und Ansprüche innerhalb der Gesellschaft im Hinblick auf soziale oder wirtschaftliche Verbesserungen (hier hält sicherlich die gute gesamtwirtschaftliche Lage der Regierung den Rücken frei vor überbordendem Protest); die lange demokratische Tradition des Landes, an die selbst Streitkräfte und rechte Parteien anknüpfen wollen; die herausragende Persönlichkeit von Präsident Aylwin, der die Chilenen zu vereinen versteht.
Dennoch darf nicht übersehen werden, daß noch immer vielfach autoritäre Strukturen existieren, die nur in mühsamen Verfahren zu verändern sind. Hinzu kommt die Notwendigkeit, sich an Verfahren und Umgangsformen wieder neu gewöhnen zu müssen, die Demokratie prägen und gegleiten. Das gilt für Regierung und Parteien gleichermaßen, die in den ersten Wochen und Monaten zuweilen etwas zu sensibel auf Dissens oder Kritik reagierten — letztlich normale und notwendige Elemente demokratischer Prozesse. Diese Sensibilität wird schon deshalb nüchternen Einstellungen Platz machen müssen, weil Kompromisse im Parlament und zwischen Regierung und Opposition bei näherrückenden Wahlterminen schwerer zu erreichen sein werden. Auch beeinträchtigen der 1990 spürbar größer gewordene Inflationsdruck und die geringeren Wachstumsaussichten die sozialpolitischen Möglichkeiten der Regierung, so daß verschiedene Gruppen etwas länger auf die Erfüllung ihrer sozialen Erwartungen warten müssen. Eine Erschütterung des Demokratisierungsprozesses ist davon gleichwohl nicht zu erwarten. Vielmehr besteht die begründete Zuversicht, daß man in Chile auf dem im März 1990 eingeschlagenen Weg zur Demokratie erfolgreich weitergehen wird.
Wilhelm Hofmeister, M. A., geb. 1956; Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Chile; Dozent am Instituto Chileno de Estudios Humanisticos (ICHEH). Veröffentlichungen u. a.: Staat und soziale Bewegungen in Bolivien, in: Zeitschrift für Politik, 34 (1987) 2; El Partido Demöcrata Cristiano ante la transiciön hacia la democracia en Chile, in: Estudios Sociales, (1989) 62; Chile despus de las elecciones, in: Contribuciones, (1990) 1; Beiträge zur politischen Entwicklung in Chile, in: KAS-Auslandsinformationen (Konrad-Adenauer-Stiftung), 7/88, 7/89, 9/89. 1/90.
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