„Europa der Regionen“ Entwicklung und Perspektiven
Udo Bullmann/Dieter Eißel
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Zusammenfassung
Das Schlagwort vom „Europa der Regionen“ ist vieldeutig: Neben der Hoffnung, durch größeren Freiraum für eine regionale Vielfalt von Kulturen den Vereinheitlichungstendenzen der Brüsseler Zentrale zu entgehen, steht das Bestreben, durch Nutzung regionaler Ressourcen den komplexen Modemisierungsanforderungen in Staat und Wirtschaft zu begegnen. Im Zuge der sozial und politisch noch wenig flankierten Binnenmarktvollendung entstehen jedoch auch neue, z. T. rechtsextreme regionale Bewegungen, die ein Ende der gebietsübergreifenden Ausgleichszahlungen an die ärmeren Regionen fordern und einem regionalen Egoismus und Chauvinismus das Wort reden. Bisherige Anstrengungen und Strategien der nachholenden Entwicklung haben ein weiteres Wohlstandsgefälle zwischen den peripheren Regionen (Irland, Portugal, Griechenland, Teile Spaniens und Italiens sowie die neuen Bundesländer) und den wirtschaftsstarken Zentren nicht verhindern können. Die Auflagen der Wirtschafts-und Währungsunion verpflichten die Mitgliedstaaten zu einer restriktiven Ausgabenpolitik und Haushaltsdisziplin, die gerade die strukturschwachen Regionen mit einem sozial brisanten Subventionsabbau treffen werden. Hinzu kommt, daß mit dem Ende der nationalen Währungshoheit die bisherige Möglichkeit der Kompensation von Wettbewerbsnachteilen durch Abwertung entfällt. Ohne ausreichende Finanzhilfe der EG (etwa nach Vorbild des bundesdeutschen Länderfinanzausgleichs) einerseits und ohne handlungsfähige, mit rechtlichen und administrativen Kompetenzen ausgestattete Regionen andererseits wird es den armen Ländern nicht gelingen, die Herausforderungen durch Arbeitslosigkeit und Umweltprobleme auf dezentraler Ebene zu bewältigen. Weitere Entvölkerungen und Wanderungsbewegungen in die jetzt schon überbelasteten Ballungsräume werden dann eintreten. Schon aus Eigeninteresse können die reicheren Regionen dies nicht zulassen. Inwieweit die Regionen zu Innovationsfaktoren im ökonomischen und politischen Einigungsprozeß werden, hängt nicht nur von ihrer „außenpolitischen“ Aufwertung ab, sondern auch davon, ob sie „intern“ zu einer kreativen Ressourcenmobilisierung in der Lage sind und partizipative Entwicklungsmuster in Gang bringen. Europas subnationale Territorien sind politisch wie verfassungsrechtlich sehr verschieden ausgestattet und müssen in bezug auf dezentrale Modemisierungsanforderungen als äußerst unterschiedlich vorbereitet angesehen werden. So kommt es gegenwärtig in zahlreichen Mitgliedsländern zu Veränderungen im innerstaatlichen Beziehungsgeflecht, die auch weiterhin Aufmerksamkeit verdienen.
I. Programmatischer Anspruch der EG
Bereits im EWG-Vertrag von 1957 drückten die vertragschließenden Staaten in der Präambel die Absicht aus, „ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen den einzelnen Gebieten verringern“. Diese Harmonisierungspolitik wurde im Vertrag über die Einheitliche Europäische Akte von 1986 und durch den Vertrag über die Verwirklichung der Politischen Union 1992 auf eine neue Stufenleiter gehoben. So verpflichten sich die Regierungen -allerdings auf Druck von Spanien, das als Sprecher der armen Länder auftrat -zu einer Kohäsionspolitik, die -neben Vorhaben im Bereich der Umwelt -insbesondere dem Ausbau der transeuropäischen Netze in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations-und Energieinfrastruktur dienen soll. Diese Vernetzung soll gleichzeitig dazu beitragen, „insulare, eingeschlossene und am Rande gelegene Gebiete mit den zentralen Gebieten der Gemeinschaft zu verbinden“ Vor allem den vier ärmsten Ländern (Irland, Griechenland, Portugal und Teile Spaniens) und jetzt auch Ostdeutschland soll geholfen werden.
Im Vertrag über die Europäische Union werden diese Integrationsziele der Europäischen Gemeinschaft präzisiert: Aufgabe ist es, „... eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, ein beständiges, nicht inflationäres und umweltverträgliches Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern“
Diese Erklärungen und insbesondere die Vollendung des Binnenmarktes ab 1993 werden offiziell zum Anlaß genommen, Optimismus im Hinblick auf die regionale Annäherung in der EG zu verbreiten. Es gibt jedoch empirisch und theoretisch begründete Zweifel, ob dieser Optimismus im Hinblick auf die bislang zu konstatierenden Ungleichheiten in Westeuropa berechtigt ist.
II. Markt oder Staat als Garant der Konvergenz?
Abbildung 2
Abbildung 2
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Bisher deutet vieles darauf hin, daß sich die schon bestehenden regionalen Disparitäten eher verschärfen werden. Bereits 1984 stellte die Kommission der EG in ihrem 2. Regionalbericht fest: „Die Entfernung von den Hauptzentren der wirtschaftlichen Tätigkeit (stellt) ein beträchtliches Handikap für die ausgewogene Entwicklung peripherer Regionen und eine Quelle erheblicher Benachteiligungen dar... Die zentralen Regionen genießen zur Zeit gewisse Vorteile gegenüber der Mehrheit der peripheren Regionen; dies gilt vor allem für den Zugang zu Märkten, Lieferanten, hochqualifizierten Arbeitskräften, nationalen und internationalen Informationsnetzen, Kosteneinsparungen infolge wachsender economies of scale und den leichteren Zugang zu den Kapitalmärkten.“ Öffentliche Hilfen sind unter diesen Bedingungen mehr denn je notwendig. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß die Nationalstaaten noch immer über mehr politische Macht und über weitaus mehr finanzielle Ressourcen als die EG verfügen. Sie sind daher nicht aus der Verantwortung zu entlassen, obwohl im Sinne des regionalen Finanzausgleichs eine zentrale Umverteilung -und das würde konkret wesentlich mehr Steuereinnahmen für die EG bedeuten -angemessener wäre.
Das Stichwort vom „Europa der Regionen“ könnte allerdings auch eine Entlastungsstrategie der EG-und Nationalhaushalte induzieren, wenn darunter zu verstehen wäre, daß die Annäherung der Lebensverhältnisse in Selbsthilfe bzw. regionaler Zuständigkeit zu geschehen hat. Eine solche unsolidarische Entkopplungspolitik könnte dabei sogar auf marktdogmatische Unterstützung zählen. Daß ein Interventionsbedarf besteht, wird nämlich aus Sicht der vorherrschenden Neoklassik im Kern geleugnet. Schon Müller-Armack, der geistige Wegbereiter des bundesrepublikanischen Modells, erklärte in seinen Grundsätzen über die Soziale Marktwirtschaft, daß Wachstum an sich schon sozial sei, weil dadurch alle am Wohlstand beteiligt würden Diese These läßt sich auch auf alle Regionen der EG übertragen. So geht der berühmte Cecchini-Bericht von der Prognose aus, daß allein die Freisetzung der Marktkräfte in der EG zu einer Schaffung von 1, 8 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen führen würde. Dabei wird stillschweigend unterstellt, daß auch die rückständigen Länder von den Segnungen des Binnenmarktprojekts in gleicher Weise profitieren. Sozialpolitische Korrekturen und Hilfen wären von daher im Prinzip nicht notwendig.
Daß diese wachstumspolitische Botschaft realitätsnah ist, wird allerdings selbst von der ansonsten eher markttheoretisch argumentierenden EG-Kommission bezweifelt, die eine erhebliche Auf-stockung der regionalen Strukturfonds befürwortete. Im Zeitraum von 1989 bis 1993 sind für die Regionen mit Entwicklungsrückstand insgesamt 38, 3 Milliarden ECU von insgesamt 60, 3 Milliarden ECU verausgabt worden. Das ursprüngliche Delors-II-Paket von 1992, das in Fortschreibung und unter Berücksichtigung der finanziellen Folgen der Wirtschafts-und Währungsunion (WWU) eine Erhöhung der für Gemeinschaftsaufgaben zur Verfügung stehenden Mittel von einem 1, 2-Prozent-Anteil des Bruttosozialprodukts (BSP) auf 1, 37 Prozent (1997 rund 20 Mrd. ECU mehr) vorgesehen hatte, wurde inzwischen durch den Gipfelbeschluß von Edinburgh „gedeckelt“ und zeitlich gestreckt. So soll die Eigenmittel-Obergrenze nach diesem Kompromiß erst bis 1999 auf nur 1, 27 Prozent des BSP angehoben werden. Dies wird eine deutlich langsamere Steigerung der Struktur-und Kohäsionsfondsmittel nach sich ziehen, als von der Kommission seinerzeit beabsichtigt.
Optimistische Prognosen über eine sich quasi autonom vollziehende Konvergenzleistung des Binnenmarktprojektes sind daher unangebracht. Ohne die finanzielle Hilfe der Zentralstaaten und der EG wird eine nachholende Entwicklung der Peripherieländer nicht gelingen. Andererseits müssen die Regionen selbst die dezentral vorhandenen Innovationspotentiale mobilisieren. Diese Aufgabe kann ohne demokratische Legitimation und politische Kompetenz -selbst bei massiver Aufstockung der Regional-und des Kohäsionsfonds -nicht gelingen. Erst wenn die Herausforderung in der Region (z. B. Arbeitslosigkeit, Umwelt, Armut) zur selbstverantwortlichen Aufgabe wird, die den betroffenen Bürgern Einfluß und Identifikation erlaubt und die regionalen Parlamente und Behörden in die Pflicht nimmt, können die materiellen Hilfen in aussichtsreichere Selbsthilfe umgesetzt werden. Regional abgestimmte Wirtschaftsbeziehungen können Synergieeffekte besser nutzen und zu einer ressourcenschonenderen Produktion führen, wenn dezentrales Problembewußtsein und vor Ort vorhandenes Entwicklungs-Know-/zow einbezogen werden Die „Rolle der Gemeinschaft im Bereich der räumlichen Entwicklung (kann) kein Ersatz für nationale, regionale und lokale Verantwortung sein“ Der Transfer von finanziellen Ressourcen aufgrund eines mindestens in Ansätzen ausgebildeten regionalen Finanzausgleichs und eine kompetente wie demokratisch legitimierte Mobilisierung der Entwicklungspotentiale „von unten“ bedingen einander.
III. „Europa der Regionen“ als multikulturelle Vision?
Die politisch und ökonomisch gebotene Stärkung der regionalen Ebene erscheint auch geeignet, gegen die Vereinheitlichungstendenzen des Binnenmarktes und der Politischen Union eine kulturelle Vielfalt sicherzustellen. Mit der Aufrechterhaltung und Entwicklung regionaler Identitäten könnte der Schritt in eine offene europäische Kulturgesell-Schaft verbunden sein, in der sich die diversen Bevölkerungsgruppen wechselseitig anerkennen und tolerieren. Dieser Entwicklung drohen jedoch nicht unerhebliche Gefahren eines bornierten, engstirnigen, fremdenfeindlichen Regionalismus. Gerade in den Gewinnerregionen kann ein „Wohlstandschauvinismus“ entstehen, der sich auf fatale Weise mit den Zukunfts-und Existenzängsten vor allem der Modemisierungsverlierer kombinieren läßt. Die Ausgrenzung von „Fremden“, das aggressive Sichwehren gegen ein „Teilen mit den Schwachen“ hat nicht nur in national-populistischen und rechtsextremen Gruppen wie der „Lega Lombarda“ eine Basis, die mit der Formel „Verjagen wir die Südstaatler“ zur zweitstärksten Regionalpartei der Lombardei aufstieg Wenn sich solche Entwicklungen verbreiten, entsteht anstelle von wechselseitiger Toleranz und Solidarität eine schärfere soziale und räumliche Differenzierung im Zuge der vollen Durchsetzung einer zwischen den Regionen ausgetragenen Wirtschaftsstandortkonkurrenz
Erst wenn in allen Regionen der Europäischen Gemeinschaft die wichtigsten materiellen Voraussetzungen für eine eigenständige Entwicklungsperspektive gegeben sind, werden sich auch die Ansprüche auf Verwirklichung von kultureller Autonomie, regionaler Selbständigkeit und Identität voll entfalten lassen. Ohne die reale Aussicht auf ein ausreichendes Pro-Kopf-Einkommen und die Chance, einen Arbeitsplatz vor Ort zu finden, werden vor allem die mobileren und leistungsfähigeren Teile der regionalen Bevölkerung die Peripherie verlassen und unter Verstärkung des Agglomeration-und Zuzugsdrucks ihr Glück in den Wachstumszentren suchen.
IV. Erosion nationalstaatlicher Handlungskompetenzen als Folge der Wirtschafts-und Währungsunion
Bisher lag die sozialpolitische Verantwortung für Beschäftigungssicherung und für einen Ausgleich der Lebenslagen in den Regionen bei den Nationalstaaten. Bei Wohlstandsgefälle konnten die einzelnen Staaten ihre Währungs-und Geldpolitik zugun-steh einer antizyklischen Konjunkturpolitik und für sozial orientierte regionale Subventionen einsetzen. Eine eigenständige Währungspolitik erlaubte es den schwächeren Nationen, durch Abwertung ihrer nationalen Währungen Exportvorteile zu erzielen bzw. Importvorteile der wirtschaftsstarken Partner zu kompensieren. In die gleiche Richtung zielte eine Geldpolitik, die mit Hilfe staatlicher Kreditaufnahme Beschäftigungsprogramme finanzierte. Die Stabilitätskriterien, die aufgrund der Maastrichter Beschlüsse der Regierungschefs vom Dezember 1991 als Prüfsteine für die Aufnahme in die Währungsunion wirksam werden, und die vorgesehene Übertragung der Geldpolitik an eine EG-Zentralbank als Hüterin der Währung beseitigen diese bisherige Schleusenfunktion national-staatlich agierender Geldpolitik „In einer Wirtschafts-und Währungsunion wirkt die Möglichkeit der Wechselkursänderung ex definitione nicht mehr als Druckmittel für zusätzliche Stabilitätsbemühungen, noch steht sie als letzter Ausweg aus einer geldpolitischen Dilemmasituation zur Verfügung.“
Im einzelnen ist die Stabilitätspolitik im Sinne der Konvergenzkriterien insbesondere auf Budget-disziplin durch Verschuldungsabbau und niedrige Kreditaufnahme sowie auf eine Beschränkung der Geldentwertung gerichtet Wer Ende des Jahrzehnts Mitglied der Währungs-und Wirtschaftsunion werden möchte, muß schon jetzt eine restriktive Haushaltspolitik betreiben und die nationalen Verteilungsspielräume verengen. Aufgrund der bisherigen Daten in den neunziger Jahren zeigt sich jedoch, daß viele Mitgliedstaaten die Ziele der Stabilitätsgemeinschaft nicht erreicht haben. Dies belegt, daß ohne massive öffentliche Finanzhilfe, die notfalls auch eine wachsende Verschuldung und Inflation in Kauf nimmt, die katastrophale Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in vielen Krisenregionen (z. B. Ostdeutschland) nicht gemildert werden kann und die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen zum Wiederaufbau der Wirtschaft nicht durchführbar sind. Die Marktkräfte allein sind angesichts derartiger Strukturen überfordert. Als aktuelles Problem kommt hinzu, daß angesichts eines weltwirtschaftlichen Klimas, das sich nach einer ungewöhnlich langen Prosperitätsphase eintrübt, die meisten Länder der EG noch größere Schwierigkeiten als bisher haben werden, die Konvergenzkriterien des Stabilitätspaktes zu erfüllen. Konjunkturbedingte Mindereinnahmen und der Wunsch nach antizyklischen Maßnahmen der konjunkturellen Belebung geraten dann noch stärker mit den neoklassischen Stabilitätszielen in Konflikt. Dies trifft vor allem die Peripheriestaaten, weil sie wesentlich größere Probleme und damit auch größeren „keynesianischen“ Handlungsbedarf als die sechs Gründungsmitglieder und Dänemark als „harter Kern“ der Gemeinschaft haben. Statt zu einem konsequenten Ausbau der EG-Regionalhilfen hat diese Situation zu dem Vorschlag geführt, die Wirtschafts-und Währungsunion in Europa mit zwei Geschwindigkeiten zu erreichen. Dieser Vorschlag ist jedoch umstritten, weil er die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Gemeinschaft in sich birgt. Mit Blick auf das ganze Europa sind die Maastrichter Beschlüsse ohnehin schon jetzt problematisch: Sie berücksichtigen die völlig veränderten Entwicklungen in Mittel-und Osteuropa nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten nur unzureichend und könnten auf diese Weise die vorhandene Spaltung noch vertiefen.
Vor dem Hintergrund der Vollendung des Binnenmarktes ist zusätzlich zu den schlechten Konjunkturaussichten davon auszugehen, daß sich der ruinöse Konkurrenzkampf zwischen bislang z. T. geschützten und subventionierten Wirtschaftszweigen der Länder verschärfen wird. Dies trifft besonders die Regionen, in denen bisher erhebliche Produktivitätsnachteile und hohe Arbeitsplatzrisiken mit Hilfe staatlicher Subventionen gemildert wurden. Wenn die Peripherieländer -wie gewünscht -Budget-und Verschuldungsdisziplin üben, werden diese Subventionen eingestellt und die betroffenen nationalen Branchen einem härteren „survival of the fittest“ ausgeliefert, was die Arbeitsmarktrisiken sprunghaft wachsen läßt.
Wenn z. B. die Absichtserklärungen der spanischen Regierung, die Staatsverschuldung auf 1 Prozent des BSP statt der nach den Konvergenz-kriterien geforderten 3 Prozent zu kürzen, in die Tat umgesetzt werden, bedeutet dies, daß die Subventionen insbesondere für die Industrieregion Nordspaniens (Bergbau, Stahl-und Eisenproduktion) abgebaut und unrentable Staatsbetriebe geschlossen werden. Aufgrund der Sparpolitik der Regierung werden dann rund 40 000 Arbeitsplätze allein in den Kohlenrevieren Asturiens verloren-gehen. Ein ähnliches Schicksal droht auch den Stahlwerken (z. B. Altos Hornos in Bilbao), wenn die staatlichen Zuschüsse ausbleiben. Innerhalb kurzer Zeit wird so eine rigide Konsolidierungspolitik rund 100000 Arbeitsplätze vernichten. Hinzu kommt, daß infolge der EG-Agrarpolitik, insbesondere der Quotenregelung, nahezu eine halbe Million Kühe allein in Asturien geschlachtet werden müssen, was neben einer Bedrohung der bäuerlichen Existenz zu einer zusätzlichen Vernichtung von Arbeitsplätzen in Nordspanien führt. Die Neuansiedlungen, die bisher stattfanden, können diesen Aderlaß nicht kompensieren
V. Regionales Wohlstandsgefälle als Herausforderung an eine europäische Sozial-und Strukturpolitik
Generell zeigt sich, daß Einkommen und Beschäftigung in der EG sehr ungleich auf die Regionen verteilt sind. Das Pro-Kopf-Einkommen in den zehn einkommensschwächsten Regionen -sie liegen durchweg in Griechenland und Portugal -beträgt weniger als ein Drittel desjenigen in den zehn einkommensstärksten Gebieten Mit der Süderweiterung der EG hatte sich das Wohlstands-gefälle deutlich erhöht. Heute noch ist das Pro-Kopf-Einkommen in den wohlhabendsten Mitgliedsländern Deutschland und Dänemark etwa viermal so hoch wie in den ärmsten Ländern Portugal und Griechenland (vgl. Tabelle Seite 7 u. Karte S. 9).
Aber auch in vielen Teilen Spaniens und Italiens ist die Lage kaum besser. So leben in Süditalien 26 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von rund 750 000 Lire für zwei Personen pro Monat (ca. 975 DM). Dies geht aus einem Bericht einer Regierungskommission zum Thema „Armut in Italien“ hervor. Nicht erfaßt wurden hierbei Obdachlose, Flüchtlinge aus Entwicklungsländern und Roma. Im Gegensatz zum Süden leben im Norden nur 9 Prozent unterhalb der Armutsgrenze In ähnlichen Dimensionen zeigen sich auch die Unterschiede in den Inflationsraten und der Arbeitslosigkeit. Demnach verfügt die EG bisher auf der einen Seite über ein gut entwickeltes Zentrum und auf der anderen Seite über geringer entwickelte Regionen an der Peripherie -mit Ausnahme von Dänemark. Zu den letzteren zählen: Irland, Schottland, Portugal, Andalusien, der Mezzogiorno, Griechenland und die fünf neuen Bundesländer. Diese Peripherieregionen haben insgesamt ein unterdurchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen sowie eine geringere wirtschaftliche Leistungskraft und damit schlechtere Aussichten für die Sicherung zukünftiger Arbeitsplätze und Erwerbseinkommen.
Betrachtet man die Wachstumsphase von 1983 bis 1988, dann zeigt sich, daß alle Regionen mit EntWicklungsrückstand (Ziel-l-Regionen) gegenüber dem Durchschnitt der EG verloren haben, und zwar von 67, 9 Prozent auf 66, 9 Prozent des Durchschnitts des Bruttosozialproduktes, gemessen in Kaufkraftstandards pro Kopf der EG. Griechenland hatte dabei den niedrigsten Stand mit 55 Prozent des Durchschnitts, Irland und Portugal hatten 67 Prozent und Spanien 77 Prozent des Durchschnitts erreicht. Auch hinsichtlich der Arbeitslosigkeit sind die Peripherien im Durchschnitt benachteiligter. Sieht man von kleineren Regionen ab, dann lagen die Schwerpunkte der Arbeitslosigkeit im Mezzogiorno, Spanien und Irland, aber nicht -was zunächst aufgrund der peripheren Lage vermutet werden könnte -in Griechenland und Portugal. Es scheint offensichtlich, daß Regionen mit einer eher handwerklichen und kleinbetrieblichen sowie bäuerlichen Struktur weniger (registrierte) Arbeitsmarktprobleme hatten als Regionen mit großbetrieblicher Struktur und einem hohen Anteil an strukturschwachen Branchen, die eine Region stark (monostrukturell) prägen. Dies würde z. T. erklären, warum Griechenland und Portugal (bisher) trotz der Position am Ende der Wertschöpfungsskala geringere Arbeitslosenraten hatten als beispielsweise Irland und Spanien. Man sollte jedoch nicht übersehen, daß aufgrund sehr unterschiedlicher sozialer Absicherung von Arbeitslosigkeit auch die exakte Erfassung von Arbeitslosigkeit beeinträchtigt werden kann. In der wissenschaftlichen Literatur herrscht die verbreitete Sicht, daß sich die Kluft zwischen den zur Zeit existierenden wettbewerbsfähigen Zentren und den rückständigen Regionen zumindest in naher Zukunft eher noch verschärfen wird Die schon jetzt wirtschaftlich starken Regionen werden auch von der Binnenmarktvollendung am stärksten profitieren; dies schon deshalb, weil ihr Handelsaustausch am stärksten gefördert wird. Zunächst werden die bestehenden Vorteile der Agglomeration wie das hohe Nachfragepotential, kurze Wege für Zulieferer und Absatz, gebündelte Infrastruktur, hohe Verkehrsanbindung (Urbanisationseffekte) sowie die räumliche Branchenkonzentration (Lokalisationseffekte) die zentralen Regionen begünstigen. Ob in einer zweiten Stufe der Entwicklung die peripheren Gebiete diese Dynamik des zentralen Europa einholen werden und wann dies sein wird, steht dahin. Vergleicht man die Wachstumsraten der EG-Länder in der letzten Phase von 1989 bis 1991, dann zeigt sich zwar, daß die iberischen Länder mit 4, 1 Prozent pro Jahr (Portugal) und 3, 7 Prozent (Spanien) über dem Durchschnitt der EG mit insgesamt 2, 3 Prozent lagen. Nur Westdeutschland hatte noch eine ähnliche Entwicklung. Griechenland konnte dagegen nur durchschnittliche Wachstumsraten von 1, 3 Prozent verbuchen.
Doch bedeutet dies bei realistischer Betrachtung, daß z. B. Portugal trotz der relativ hohen Zuwachsraten des BSP -gleichbleibende Zuwachsraten vorausgesetzt -auch in über hundert Jahren den EG-Durchschnitt noch nicht eingeholt haben würde, sondern immer noch 10 Prozent darunter läge. Hinzu kommt, daß sich das Wachstum auf wenige, bereits existierende exportorientierte Industriebranchen konzentriert, die in zunehmendem Maße durch ausländische Investoren kontrolliert werden. In weiten Landstrichen Portugals herrscht zudem eine extreme Monostruktur vor; in einigen Regionen sind bis zu 80 Prozent der Erwerbstätigen von der Bekleidungs-und Textilindustrie abhängig. Solche Monostrukturen bergen jedoch -wie wir z. Z in den Werftenregionen Mecklenburg-Vorpommerns sehen -große regionale Risiken. Eine Diversifikation fand nicht statt, was regionale Disparitäten wachsen ließ. Außerdem galten für Portugal nach dessen EG-Beitritt weiterhin in vielen Bereichen Schutzzollbestimmungen, die in den neunziger Jahren entfallen
Das nach wie vor beachtliche Gefälle der Arbeitsund Einkommenschancen, das sich mit Abstrichen auf die peripheren Gebiete konzentriert, hat eine wesentliche Ursache in der Sektorstruktur. Es läßt sich ein Nord-Süddualismus feststellen: Im Süden dominieren lohnintensive, technisch anspruchslosere Produktionen, eine eher mittelständische Unternehmensstruktur und ein inter-industrieller Handel. Im Norden konzentrieren sich die Hightech-Produktionen, unternehmensnahe Dienstleistungen, multinationale Unternehmen und eher intra-industriell geprägte Handelsbeziehungen. Diese Strukturen beeinflussen ganz erheblich die Chancen für eine eigenständige (nachholende) Entwicklung. Während der Norden bereits jetzt Vorteile wegen seiner sektoralen Strukturen hat und lediglich die Europäisierung des intra-industriellen Handels und die Wirkung der econotnies ofscale voranzutreiben braucht, ist der Süden auf die nachholende Entwicklung und eine nachhaltige sektorale Strukturpolitik angewiesen.
VI. Strategien der nachholenden Entwicklung
Spanien und Portugal setzen bei der nachhholenden Entwicklung an den vorhandenen arbeitsintensiven Sektoren an und versuchen, ihre relativen Kostenvorteile unter Beibehaltung einer interindustriellen Arbeitsteilung auszuspielen Vergleicht man die Stundenlöhne in der Industrie, dann zeigt sich, daß 1989 -in DM umgerechnet -in Portugal nur 3, 76 DM bezahlt wurden. Zum Vergleich: In (West-) Deutschland wurde mehr als fünfmal so viel (19, 29 DM) an Lohn gezahlt. Auch Griechenland hatte mit umgerechnet 6, 35 DM noch theoretische Kostenvorteile. In Spanien betrug der Stundenlohn in der verarbeitenden Industrie bereits 12, 61 DM, in Irland 13, 59 DM.
Berücksichtigt man die Entwicklung der Arbeitskosten in den Zeiträumen seit 1973, dann ergibt sich allerdings, daß die jährlichen Veränderungsraten gerade in den südlichen strukturschwächeren EG-Ländem schneller stiegen als in den fortgeschritteneren Industrieländern Es gibt demnach auf lange Sicht eine Angleichung der Arbeitskosten. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß internationale Lohnkostenvergleiche für die Beurteilung von Standortvorteilen einer Region unzureichend sind. Eine solche Standort-diskussion, die sich auf Arbeitskosten konzentriert übersieht, daß ein Unternehmen selbst unter Zugrundelegung enger betriebswirtschaftlicher Kriterien auch die Produktivität und nicht nur das Lohnniveau berücksichtigt.
Vergleicht man jedoch die Lohnstückkosten, in denen beide Faktoren aufgehoben sind, dann sind die Unterschiede zwischen den EG-Ländern gar nicht mehr so hoch. Ein niedriges Lohn-niveau korreliert mit einer niedrigen Produktivität und umgekehrt Nicht zuletzt spielen auch aus Sicht der Unternehmen sogenannte weiche Standortfaktoren (z. B. politische Stabilität, soziales Klima, Solidität der Wirtschaftspolitik) eine erhebliche Rolle
Entgegen der verbreiteten Annahme, daß nur Faktorpreise entscheidend für die Mobilität von Arbeitskräften, Kapital und Dienstleistungen sind, zeigt die Realität, daß für Standortentscheidungen sehr verschiedene und vielfältige Faktoren gelten. So konnten offensichtlich komparative Kostenvorteile, insbesondere in bezug auf die Arbeitskräfte, die Nachteile der Standorte Portugal und Griechenland nicht ausgleichen. Hier scheinen vor allem der Mangel an qualifiziertem Personal (Portugal) und nicht ausgereifter Institutionen und politischer Strukturen (Griechenland) ausschlaggebend zu sein.
Portugals und Spaniens Weg einer nachholenden Entwicklung konzentriert sich z. Z. auf eine interindustrielle Arbeitsteilung. Sie setzen vorsichtig an den bestehenden Produktionsstrukturen, z. B. an den vorhandenen arbeitsintensiven Bekleidungs-, Textil-und Schuhindustrien, an und versuchen ein moderates upgrading. Sie kalkulieren dabei eine Verringerung der innergemeinschaftlichen Handels-und auch Kapital-kosten infolge der Vollendung des Binnenmarktes ein und rechnen demzufolge mit kurzfristigen erheblichen Gewinnen. Längerfristig würde eine solche Strategie jedoch die bestehende räumliche Arbeitsteilung innerhalb der EG mit einer Konzentration von Forschungs-und Entwicklungs(F & E) sowie kapitalintensiven Industrien in den Zentren und arbeitsintensiven Industrien mit niedriger Technologie in den Peripherien und damit die bestehenden regionalen Disparitäten zementieren. Hinzu kommt, daß die rückständigen Gebiete sehr empfindlich gegenüber dem verstärkten Wettbewerb von sogenannten Niedriglohnländern in Osteuropa und den Entwicklungsländern würden. Die jüngsten Einbrüche bei der Ausfuhr in den Bereichen Textil, Bekleidung und Schuhe der südlichen EG-Länder bele-gen, daß dies eine realistische Befürchtung ist Für die iberischen Länder hängt daher in Zukunft viel davon ab, ob es gelingt, eine Diversifikation ihrer Produkte zu erreichen und auch Unternehmen mit mittlerer und mit Hochtechnologie in ihre Wirtschaft einzubeziehen, um so ihre regionale Wirtschaftsbasis zu stärken und zu erweitern.
Irland geht einen unter sozialen Aspekten vielleicht noch unsichereren Weg als die iberischen Länder, indem es auf die Karte der Ansiedlung von High-tech-Unternehmen durch vielfältige Anreize setzt. Wie die bisherige Entwicklung zeigt, haben diese Unternehmen jedoch nicht als Katalysator für die örtliche Wirtschaft gewirkt, sondern bilden innerhalb einer dualistischen Struktur eine zweite Wirtschaftskraft. Die von außerhalb neu angesiedelten Industrien (z. B. Pharmaindustrie, Computer-und Telekommunikationsindustrie sowie dauerhafte Konsumgüter-produktion) haben bisher keine Verbindung zur heimischen Industrie hergestellt und damit die Schaffung eines wettbewerbsstarken Sektors von nationalen Unternehmen nicht fördern können. Die starke Dominanz „volantiler (d. h.sehr mobiler) Auslandskonzerne und das Entstehen , dualistischer'Wirtschaftsverhältnisse“ wird Irland vermutlich in eine schwierige Lage bringen Auch hinsichtlich ihrer Arbeitsplatzeffekte sind diese transnationalen Unternehmen eher negativ zu beurteilen Die Strategie der intraindustriellen Arbeitsteilung ist für Irland eine prekäre Hypothek für die Zukunft.
Als Fazit kann man festhalten, daß die Strategien der nachholenden Entwicklung der Peripherieländer bislang die unerwünschten regionalen Disparitäten nicht verhindern konnten und auch in Zukunft risikoreich bleiben werden. Aus eigener Kraft werden die ärmeren Länder die Kohäsionsziele der EG nicht erreichen können. Die Solidarität der reicheren Länder ist gefordert.
VII. Zur Kritik der Förderpraxis
Insgesamt stellt sich die Frage nach einem regionalen Finanzausgleich, den die regionalen Strukturfonds der EG übernehmen könnten. Die entwickelteren Länder müssen hierfür stärker als bisher Finanzhilfen mobilisieren. „Relativ zu ihrem Pro-Kopf-Einkommen tragen die ärmeren Mitgliedstaaten mehr zur Finanzierung der EG-Ausgaben bei als die reicheren.“ So zahlte z. B. das relativ reiche Dänemark 1990 rund 2 Prozent der Beiträge zum EG-Haushalt, erhielt jedoch 1989 3, 1 Prozent an Rückflüssen. Ähnliches gilt für die Niederlande: Auch sie waren Nettogewinner bei Zahlungen von 6, 1 Prozent und Rückflüssen von 11, 2 Prozent. Damit erhielten die Niederlande 1989 40 Prozent mehr an Zuschüssen aus dem EG-Haushalt als Portugal und Irland zusammen Dies ist vor allem eine nicht akzeptable Folge der EG-Agrarsubventionen. Hier muß dringend eine Änderung eintreten: Die hohen Anteile der Agrarausgaben (1992: 75 Mrd. DM von insgesamt 125, 2 Mrd. DM bzw. das Neunfache der Regionalfonds sind generell zu kürzen und insgesamt zugunsten einer stärkeren direkten Einkommensstabilisierung und Berücksichtigung von ökologischen Belangen auszurichten. Schon dies würde zusätzliche Mittel für die Entwicklung der benachteiligten Regionen freisetzen.
Aber auch Nettozahler wie Deutschland sind in einer besseren Position, als der Blick auf den EG-Haushalt zunächst suggeriert, und sollten mehr zahlen. Nach Angaben des EG-Finanz-kommissars Henning Christophersen werden von 1989 bis 1993 durch die Strukturfonds in Höhe von rund 120 Mrd. DM in der EG rund 500000 Arbeitsplätze geschaffen. In einer Halbzeitbilanz schätzte die EG, daß zwischen 20 und 45 Prozent dieser Ausgaben in Form von Aufträgen an die Geberländer und vor allem an Deutschland zurückfließen Mit der Haupt-wirkung einer Stabilisierung (west) -deutscher Arbeitsplätze wäre aber die Intention der EG-Regionalfonds verfehlt.
VIII. Die Kompetenzausstattung der Regionen
Das Stichwort vom „Europa der Regionen“ erfährt seine stärkste Schubkraft durch die „mittleren“, zwischen Kommunen und Zentralstaat angesiedelten politischen Ebenen, die sich um eine eigenständigere politische Rollendefinition bemühen. So erklärten die deutschen Bundesländer bereits vor der Änderung des Artikels 23 GG, daß sie die Gestaltung des zukünftigen Europas nicht länger als alleinige Angelegenheit einer zentralstaatlichen Außenpolitik, sondern als europäische Innenpolitik verstehen, an der sie laut Verfassung zu beteiligen sind.
Nach einer ersten Initiative der bayerischen Staatsregierung von 1989 fanden zahlreiche Konferenzen zum Thema „Europa der Regionen“ statt, um die Anliegen der „dritten Ebene“ zu formulieren Die Forderungen haben zum Teil Eingang in den Maastrichter Vertrag gefunden. Dies gilt für die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, die Möglichkeit zur Beteiligung von Regionsvertretern im Rat und für den allerdings nur mit beratender Stimme einzurichtenden Regionalausschuß.
Mehrere regionale Gebietskörperschaften organisieren grenzübergreifende Kooperationen. Bekannt geworden sind transnationale Zusammenschlüsse wie EUREGIO (eine Kommunal-gemeinschaft im Raum Rhein, Ems, Ijssel), der „Eurodistrikt“ der Städte Saarbrücken und Metz, die Zusammenarbeit des Saarlandes mit Lothringen und Luxemburg z. B. in der Stahlpolitik als Saar-Lor-Lux-Verbund sowie die Forschungsund Industrieentwicklungskooperation der Wirtschaftsregionen Baden-Württemberg, Katalonien, Lombardei und Rhone Alpes („Europas vier Tiger“) Während sich kleinere grenzüberschreitende Zusammenschlüsse auf kommunaler Ebene vorwiegend in der Mitte der siebziger Jahre gegründeten „Arbeitsgemeinschaft der europäischen Grenzregionen“ (AGEG) zusammenfinden, widmet sich die Mitte der achtziger Jahre ins Leben gerufene „Versammlung der Regionen Europas“ (VRE) mit inzwischen rd. 180 Mitgliedern ebenfalls zunehmend der Stiftung von transnationalen Kooperationen. Daneben verfügen zahlreiche Bundesländer über bilateral vereinbarte Verträge zur Zusammenarbeit mit ausländischen Regionen.
Die Brüsseler Kontaktbüros, die viele Länder unterhalten, werden nach und nach zu regelrechten „Auslandsvertretungen“ ausgebaut. Diese Aufwertungsversuche der Länder und Regionen gelten hier sicherlich in erster Linie der Sicherung der eigenen Kompetenzen und des institutioneilen Fortbestands im Zuge der Neuformierung der europäischen Staatsstrukturen. Sind die europäischen Regionen hinter ihren „außenpolitischen“ Erfolgen aber auch „innenpolitisch“ aufgrund ihrer Kompetenzausstattung in der Lage, dem Anspruch auf eine stärkere Selbststeuerung der eigenen Entwicklung gerecht zu werden? Ein Vergleich der verschiedenen Staatsstrukturen ergibt, daß die Regionalisierungs-bzw. Dezentralisierungstiefe in den verschiedenen EG-Mitgliedstaaten als sehr unterschiedlich anzusehen ist. Dabei lassen sich einer Untersuchung des Instituts für Europäische Politik folgend bei allen Schwierigkeiten der Zuordnung in Einzelfällen vier Gruppen bilden: „unitarische“, „unitarisch-dezentralisierte“, „regionalisierte“ und „föderale“ Staats-typen: -„Unitarische Staaten“ (Dänemark, Griechenland, Irland, Luxemburg und letztlich auch das Vereinigte Königreich) besitzen nachgeordnete Gebietskörperschaften zum Teil nur auf der lokalen Ebene. Deren Existenz und Rechte beruhen in jedem Fall nur auf einfach-gesetzlicher (nicht auf verfassungsrechtlicher) Grundlage. -Der „unitarisch-dezentralisierte Staatstyp“ (Frankreich, Niederlande, Portugal) verfügt, dagegen über nachgeordnete regionale Körperschaften, die von der Verfassung vorgesehen oder mindestens über einen gewissen verfassungsrechtlichen Schutz gesichert werden. -Im „regionalisierten Staat“ existieren nach-oder nebengeordnete Gebietskörperschaften mit Verfassungsrang, weitreichender Autonomie und Gesetzgebungsbefugnissen. Im Gegensatz zum voll „föderalisierten Staat“ läßt der Staatsaufbau aber mindestens eines der Prinzipien „Autonomie“, „Beteiligung“, „geregelte Konfliktlösung“, „Subsidiarität“ und „Zusam-menarbeit“ außer acht Hierunter fallen Belgien, Spanien und Italien. -Einen vollständig föderalisierten Staatsaufbau hat z. Z. nur die Bundesrepublik Deutschland. Belgien hat sich allerdings inzwischen für den Weg einer vollen Föderalisierung entschieden und auch der Staatsaufbau in Spanien weist bereits durchaus föderative Momente auf.
Belgien, Italien und Spanien sind so neben der Bundesrepublik die Länder, in denen die Regionen mit den weitestgehenden Kompetenzen ausgestattet sind. Nur in diesen Staaten existieren auf regionaler Ebene Gesetzgebungsbefugnisse. Die Regelungsbereiche in regionaler Kompetenz erstrecken siqh dabei insbesondere auf das Recht zum autonomen Aufbau der Verwaltung, regionale Wirtschaftsförderung und Raumordnung, kulturelle Zuständigkeiten, Landwirtschaft, Tourismus, Infrastruktur (z. B. Straßenbau), Umweltpolitik sowie verschiedene Bereiche der Versorgungswirtschaft (Energie-und Wasserwirtschaft). Während in Italien der Zentralstaat in jedem Fall die Befugnis zur staatlichen Rahmengesetzgebung behält und die Regionsgesetze einer präventiven Kontrolle unterstellt, erstrecken sich die Rechte des Zentralstaats zur Rahmengesetzgebung in Spanien nur auf einige Bereiche. In Belgien sind die verschiedenen Regelungsfelder dem Zentralstaat bzw.den Regionen als ausschließliche Kompetenzbereiche zugewiesen. Der Zentrale kommen dabei Residualbefugnisse zur Aufrechterhaltung der Rechts-und Wirtschaftseinheit zu. In den anderen EG-Mitgliedstaaten mit Ausnahme der Bundesrepublik verfügen die regionalen Körperschaften lediglich über Kompetenzen im Bereich der Administration.
Die Regionsbefugnisse fallen im einzelnen sehr unterschiedlich aus und lassen sich zusammenfassend so darstellen: -Den regionalen Körperschaften sind häufig Planungs-und Koordinierungsaufgaben übertragen worden, während direkte Vollzugsaufgaben oftmals eher den Kommunen als den Regionen zufallen. In Großbritannien und Irland sind der Ebene des „local govemment“ vorwiegend Vollzugsaufgaben zugewiesen. -In zahlreichen Mitgliedstaaten gehört es ferner zu den Aufgaben der Regionen, infrastrukturelle bzw. personenbezogene Dienstleistungen zu organisieren (Gesundheit, Erziehung, Wasser-und Energieversorgung). -Aufsichtsfunktionen über nachgeordnete Gebietskörperschaften (Kreise, Gemeinden etc.) kommen der regionalen Ebene außer in Belgien, Italien, Spanien und Deutschland nur in den Niederlanden zu.
Das Prinzip demokratischer Vertretung und Interessenrepräsentation hat sich dagegen insgesamt EG-weit auch auf regionaler Ebene durchgesetzt. Mit Ausnahme der griechischen „Regionen“ existieren in den territorialen Gliederungen aller übrigen Mitgliedstaaten direkt vom Volk gewählte Versammlungen, die wesentliche Entscheidungen (über Haushalte, Planungsvorhaben etc.) fällen. Teilweise gehören den regionalen Institutionen aber auch noch Zentralstaatsvertreter („Präfekte“ oder „Kommissare“) an, die über Kontroll-bzw. teils auch über Entscheidungsrechte verfügen.
Ein zentrales Problem ist die Versorgung der dezentralen Ebenen mit hinreichenden Finanzmitteln. Selbst wenn das Prinzip der notwendigen Parallelität von Aufgabenzuschnitt und Finanzausstattung allgemein anerkannt und teilweise gesetzlich verankert wurde, sind allenthalben fehlende autonome Gestaltungsspielräume bei gleichzeitig unzureichenden Transferleistungen und damit insgesamt eine mehr oder weniger ausgeprägte Abhängigkeit der Regionen vom Zentralstaat zu konstatieren. Insbesondere in Großbritannien hat der Zentralstaat während der achtziger Jahre eine Politik der harten Einschränkung von Finanzspielräumen gegenüber den unteren Ebenen betrieben.
Bilanziert man das Verhältnis zwischen Regionen und Zentralstaat in der jüngeren Entwicklung, so läßt sich insgesamt eine Tendenz zur generellen Neuformierung der Beziehungen zwischen zentralen und dezentralen Staatsebenen ausmachen. Art und Richtung der Veränderung in den verschiedenen Staatsstrukturen können dabei aber nicht als einheitlich bezeichnet werden: -In den meisten unitarischen und unitarisch-dezentralisierten Staaten kam es seit Anfang der achtziger Jahre zu Kompetenzverschiebungen zugunsten der Regionen bzw.dezentralen Ebenen im Verwaltungsbereich, ohne daß damit in jedem Fall ein realer Zugewinn an regionaler Selbstbestimmung zu verzeichnen wäre. Umgekehrt darf aber auch der Stellenwert einer Dezentralisierung von Vollzugsaufgaben nicht unterschätzt werden Staatsreformbemühungen dieser Art weisen auf jeden Fall auf den in den --Regionen wachsenden Handlungsbedarf hin und dürfen nicht an der Elle des deutschen Föderalismus gemessen werden. Am französischen Beispiel und der hier vorhandenen Konkurrenz zweier regionaler Ebenen (der Regionen und der erheblich traditionsreicheren und ebenfalls mit eigenen Kompetenzen ausgestatteten Departements) wird allerdings die Gefahr von Kompetenzzersplitterungen deutlich, während sich etwa in Irland oder Großbritannien ein typischer Verwaltungsregionalismus („administrative devolution“) ohne dezentrale Kompetenzvermehrung zeigt.
In den traditionell zentralistischen Staaten Belgien, Spanien und Italien wurden durchgreifende, „nachträgliche“ Regionalisierungen sowohl bei den Verwaltungszuständigkeiten wie in der Gesetzgebungskompetenz erreicht. In Spanien und Italien können die Regionen ihre Befugnisse allerdings nur unzureichend ausschöpfen, da sie durch eine extensive Wahrnehmung zentralstaatlicher Rahmenkompetenz behindert werden. Diese Staaten, insbesondere Belgien, rücken an föderative Grundordnungen heran, wiewohl jeweils noch Elemente föderativer Staatsgebilde fehlen.
In ihrer Ausrichtung schlägt sich die Neuformierung innerstaatlicher Beziehungen meist als Dezentralisierungsbewegung, oft in der Form stärkerer „Politikverflechtung“, nieder, ohne daß die Art der nationalstaatlich gefundenen „kooperativen“ Regulierung dabei den in der Bundesrepublik entwickelten innerstaatlichen Arrangements gleichen muß. Wie ein Staats-vergleich zeigt, können die Bemühungen zur Entlastung des Zentralstaats bzw. zur Erweiterung seiner Steuerungsressourcen zu durchaus unterschiedlichen Politikmustern führen. So wurden in Frankreich in den achtziger Jahren Kompetenzen auf die dezentralen Gebietskörperschaften verlagert, während in Großbritannien die restriktive Finanzierungspolitik bzw. sogar die Aufhebung kommunaler Selbstverwaltungseinheiten der Übertragung von Problemlösungen auf den privaten Sektor dient
Zu weit gespannte Illusionen auf umfassende föderale Staatsreformen sind schon von daher fehl am Platz. Wer die öffentliche Debatte über „Maastricht“ in Großbritannien, aber auch in Frankreich und Dänemark verfolgt hat, wird schnell damit konfrontiert, daß die Durchsetzung föderalstaatlicher Strukturen auf erhebliche Widerstände stoßen wird
IX. Handlungsfähigkeit der Regionen als Zukunftsaufgabe
Ohne handlungsfähige, mit hinreichenden Finanz-mitteln sowie mit rechtlichen und administrativen Steuerungskompetenzen ausgestattete Regionen werden die Herausforderungen der ökonomischen, ökologischen und sozialen Problemkumulation auf dezentraler Ebene aber nicht %u bewältigen sein Regionsentwicklung wird damit auch zu einer Frage von Teilhabe und Abstimmung sich ergänzender Akteursstrategien. Den regionalen Körperschaften fallen so neue konzeptionelle, initiierende und moderierende Aufgaben zu, die weit über die „Außenvertretung“ des eigenen institutionellen Interesses im europäischen Politikprozeß hinausgehen. Bisher ist die Regionalszene offenbar in der Lage, zu gemeinsamen Vorhaben und Forderungen zu finden, wenn in der Sache leicht in Übereinstimmung zu bringende Interessen (etwa an mehr Einfluß und Mitwirkung) gegen „Dritte“ (EG-Institutionen, Nationalstaaten) gerichtet werden. Sind Regionsversammlungen aber auch dazu fähig, „heterogene“ (Lepsius) und -bei der vorhandenen Wirtschaftsstandortkonkurrenz eher der Normalfall -sogar gegensätzliche Interessen untereinander zu regulieren? Bemerkenswert ist hier das Beispiel der deutschen Bundesländer, die gerne die europapolitische Vorreiterrolle übernehmen, einer ausgleichenden europäischen Finanzpolitik, etwa im Rahmen des Delors-II-Paketes, aber äußerst skeptisch gegenüberstehen und die Realisierung von Konvergenzzielen grundsätzlich in der Verantwortung eines jeden Mitgliedstaats belassen sehen wollen
So wichtig die Stärkung der dezentralen Ebenen für den europäischen Integrationsprozeß ist, so wenig dürfen daher inter-und supraregionale Regulationsfunktionen aus den Augen gelassen werden. Fragen des zwischenregionalen Finanz-ausgleichs werden nur auf zentraler europäischer und nationaler Ebene zu klären sein. Das gleiche gilt für zwischen den Regionen anfallende ökologische Schadensrechnungen: Europäische Bestimmungen müssen greifen, wo Wirtschaftsregionen ihren eigenen ökonomischen Reichtum auf Kosten der Umweltschädigung in anderen Gebieten produzieren.
Regionalisierung und Dezentralisierung können ihre Leistungsfähigkeit erweisen, wo es statt um Verteilungsfragen um die Lösung von (immer kontextabhängigen und situationsbezogenen) Entwicklungsproblemen geht Regional verantwortete Entwicklungspolitik meint dann aber mehr als auf ökonomistische Sichtweisen verkürzte Wirtschaftsstandortkonkurrenz. Die Regionen werden ihrer gewachsenen Bedeutung vielmehr in dem Maße gerecht werden, wie ihnen bei der Entwicklung ihrer Räume eine neue Integration von ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielsetzungen gelingt. Die Ausbildung und Umsetzung von integrierten Konzepten, die solchen Anforderungen genügen, bleibt dabei im doppelten Sinn auch ein Demokratieproblem: Einen EG-weiten Finanzausgleich und verläßliche politische Rahmensetzungen wird es wohl letztlich erst unter dem Druck eines europäischen Parlamentes mit politikverantwortlichen Abgeordneten und vollen Kompetenzen geben Die Regionen selbst werden ihre Möglichkeiten der Potentialerschließung und Ressourcenbündelung aber auch erst zur vollen Anwendung bringen können, wenn ihnen innovatives Problemlösungsverhalten und entsprechende Selbststeuerungsleistungen im politischen Prozeß abverlangt werden.
Udo Bullmann, Dr. rer. soc., geb. 1956; wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Veröffentlichungen u. a.: Kommunale Strategien gegen Massenarbeitslosigkeit. Ein Einstieg in die sozial-ökologische Erneuerung, Opladen 1991; Zur „Identität der lokalen Ebene“, in: Bernhard Blanke (Hrsg.), Staat und Stadt, Opladen 1991. Dieter Eißel, Dr. phil., Dipl. -Pol., geb. 1941; apl. Professor für Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Veröffentlichungen u. a.: Mitverfasser des seit 1975 jährlich erscheinenden Memorandums der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik; Mitautor von „Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik“, München 19928; zahlreiche Beiträge zur Bildungs-, Kommunal-, Wirtschafts-und Umweltpolitik.
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