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Weniger Erwerbsarbeit -mehr Eigenarbeit? Chancen und Potentiale Öffentlicher Eigenarbeit | APuZ 48-49/1997 | bpb.de

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APuZ 48-49/1997 Krise der Arbeitsgesellschaft und Privatisierung der Sozialpolitik Der Sozialstaat hat eine Zukunft Leitlinien einer sozialpolitischen Reform Zukunft der Arbeit Chancen für eine Tätigkeitsgesellschaft? Weniger Erwerbsarbeit -mehr Eigenarbeit? Chancen und Potentiale Öffentlicher Eigenarbeit

Weniger Erwerbsarbeit -mehr Eigenarbeit? Chancen und Potentiale Öffentlicher Eigenarbeit

Irene Kühnlein

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit Eigenarbeit werden in den Sozialwissenschaften unterschiedliche selbstbestimmte und produkt-orientierte Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit bezeichnet. Sie findet besondere Aufmerksamkeit in der aktuellen Krise der Arbeitsgesellschaft: Selber machen -so wird erhofft -könne den Überfluß an Zeit und den Mangel an Einkommen von Arbeitslosen ausgleichen und gleichzeitig die öffentlichen Haushalte entlasten. Doch diese Rechnung geht nicht auf: Alle empirischen Untersuchungen zeigen, daß in den Bereichen jenseits der Erwerbsarbeit Arbeitslose unterrepräsentiert sind. Freie Zeit reicht keineswegs als einzige Voraussetzung für Eigenarbeit aus. Erforderlich sind weitere Ressourcen wie Raum (als Werkstatt oder Treffpunkt), spezifische Qualifikationen (Wissen, Fertigkeiten, soziale Kompetenzen) und nicht zuletzt Kapital (zur Materialbeschaffung oder zur Finanzierung von Unkosten). Sofern Menschen keinen Zugang zu diesen zusätzlichen Ressourcen haben und auf ihre individuellen Möglichkeiten beschränkt bleiben, verstärken sich bestehende soziale Ungleichheiten. Andere Wege eröffnen sich im Rahmen von Öffentlicher Eigenarbeit mit einem mehrdimensionalen Angebot an handwerklicher, sozialer und kultureller Eigenarbeit in selbständiger Tätigkeit und mit der Möglichkeit von fachlicher Beratung. Dieses Modell bietet zukunftsweisende Perspektiven für eine gestaltende und ressourcensteigernde Sozialpolitik.

I. Vorbemerkungen

Wenn das Volumen der Erwerbsarbeit sinkt und die Arbeitslosigkeit steigt, werden nicht nur die Einkommen der privaten Haushalte, sondern auch die öffentlichen Finanzen knapp. Auf den ersten Blick gibt es eine einfache Lösung: Wenn die sozialstaatlichen Institutionen nicht mehr ihre Aufgaben erfüllen können, dann wird von den Individuen mehr Eigeninitiative, Selbsthilfe und bürgerschaftliches Engagement gefordert. Der einzelne Bürger solle wieder mehr Verantwortung für die eigenen Belange übernehmen, sowie Güter und Dienstleistungen in Eigenarbeit erbringen. Eigenarbeit könne insbesondere für Arbeitslose neben dem Mangel an Einkommen auch den Überfluß an Zeit und die fehlende Sinnerfüllung ausgleichen und gleichzeitig auf gesellschaftlicher Ebene den Sozialstaat entlasten So gesehen erscheint die Forderung nach mehr Eigenarbeit als ein praktisches Patentrezept, das die laufenden Einsparungen bei den sozialstaatlichen Leistungen ergänzen könnte.

II. Eigenarbeit ist ein komplexes Konzept

Erste sozialwissenschaftliche Überlegungen zu Eigenarbeit Ende der siebziger Jahre entstanden jedoch keineswegs aus solchen sozialstaatlichen Sparüberlegungen. Vielmehr stand, wie bei der Selbsthilfebewegung, der emanzipative Aspekt im Vordergrund. Die Diskussion zur Eigenarbeit basierte auf der damals häufig formulierten Kritik am passiven Konsum der Bürger und an der fremdbestimmten Lohnarbeit im Erwerbssystem. Für erste prominente Vertreter wie Christine und Ernst von Weizsäcker ist Eigenarbeit „die ursprüngliche Form der Arbeit. Die Arbeit, deren Produkte man kennt und vielleicht liebt und die einem zu eigen sind, bis man sie für seine Hausgemeinschaft verwendet oder verkauft; die Arbeit, deren Risiko man kennt und zu verantworten weiß.“ In gleicher Weise äußert sich Ivan Illich: „Eigenarbeit soll der Ersatz von Ware durch eigene Tätigkeiten heißen.“ In jüngerer Zeit knüpft der amerikanische Philosoph Frithjof Bergmann mit seinem Modell der New Work an diesen Aspekten der Eigenarbeit an. Ihm geht es darum, Wege zu finden, damit die Menschen ihre erwerbs-arbeitsfreie Zeit dazu nutzen können, „zu tun, was sie wirklich, wirklich wollen“

Damit bleibt Eigenarbeit aber sehr vage bestimmt, und es erstaunt nicht, daß völlig verschiedene Tätigkeiten unter diesen Begriff subsumiert werden. Sie variieren, je nach den theoretischen, gesellschaftspolitischen oder weltanschaulichen Konzepten, in die Eigenarbeit integriert wird: So wird Eigenarbeit aus einer steuerrechtlichen Perspektive als „Schwarzarbeit“ bezeichnet, insbesondere wenn sie in Form von familiärer oder Nachbarschaftshilfe (zum Beispiel beim Haus-bau) stattfindet. Unter ökonomischen Gesichtspunkten wird Eigenarbeit vor allem als „Sparen durch selber hersteilen, statt käuflich erwerben“ verstanden und dann mit „Selbstversorgung“ umschrieben. Aus ökologischer Sicht werden Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit durch Wiederverwertung von Materialien, Reparaturen und/oder sorgfältigeren Umgang mit selbst hergestellten Gebrauchsgegenständen mit Eigenarbeit verknüpft. Eigenarbeit -so folgert Rainer Duhm -„wird daher bei uns entweder verniedlicht bzw. kommerzialisiert (z. B. als Hobby), mystifiziert (z. B. als mütterliche Opferbereitschaft), in vorgegebenen Reservaten geduldet (z. B. als Eigenleistung und Nachbarschaftshilfe am Bau) oder sie wird diskriminiert bzw. strafrechtlich verfolgt (als Schwarzarbeit oder Arbeitsplatzklau)“

Minimalkonsens ist, daß Eigenarbeit (auch „informelle Ökonomie“ oder „Schattenwirtschaft“ genannt aus makrotheoretischer Perspektive nicht Bestandteil von Erwerbsarbeit ist Aus mikrotheoretischer Sicht kann Eigenarbeit als „Tätigsein im eigenen Auftrag, mit den eigenen Kräften, nach eigenem Konzept und für sich selber“ gekennzeichnet werden. Auf der individuellen Ebene sind Selbstbestimmtheit (die Arbeit wird gemäß den eigenen Bedürfnissen, Vorstellungen und Kapazitäten durchgeführt) und Zielgerichtetheit (die Arbeit ist produktbezogen, nicht nur konsumorientierte Freizeitbeschäftigung oder reiner Selbstzweck, zum Beispiel zur Bewußtseinserweiterung oder Selbstverwirklichung) die zentralen Bestimmungsmerkmale von Eigenarbeit.

1. Eigenarbeit ist nicht voraussetzungslos

Entgegen den sozialpolitischen Hoffnungen und Appellen zeigen die bisherigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen übereinstimmend, daß die meisten Varianten der Eigenarbeit nicht umstands-los realisiert werden können. Ein wesentlicher Grund dafür ist, daß jede Form der Eigenarbeit an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft ist.

An erster Stelle steht freie Zeit, die zur Verfügung stehen muß, um entsprechende Aktivitäten entfalten zu können. Zeitknappheit gilt nicht zufällig als wesentlicher Grund dafür, daß Menschen Tätigkeiten an andere Personen delegieren (Haushaltshilfe), sie automatisieren (Autowaschanlage) oder fertig hergestellte Produkte kaufen (Möbel, Kleidung), anstatt diese Arbeiten selbst durchzuführen. Steht die Zeit zur Verfügung, dann erscheint Eigenarbeit als eine billigere, ja oft sogar kostenlose Tätigkeit. Dies gilt jedoch nur sehr eingeschränkt, denn als zweite zentrale Voraussetzung zur Eigenarbeit wird finanzielles Kapital benötigt, um beispielsweise Verbrauchsmaterial und Werkzeug zu beschaffen. Eine dritte wichtige Vorbedingung ist, daß Raum als Werkstatt, zur Lagerung von Arbeitsmaterialien und Werkzeugen oder auch als Treffpunkt zur Verfügung steht. Hausbesitzer -insbesondere auf dem Lande -, die diesen notwendigen Raum in der Regel besitzen, sind daher außerhalb der Erwerbsarbeit oft aktiver als Stadtbewohner in Mietwohnungen Schließlich müssen die Menschen über ein fachbezogenes Wissen, Vorerfahrungen, Fertigkeiten und Geschicklichkeiten verfügen und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten haben. Auch darüber hinausgehende berufliche und psychosoziale Qualifikationen erleichtern es, im eigenen Aufträge aktiv zu werden

Bleiben Menschen auf ihre ganz persönlichen Möglichkeiten verwiesen, dann verstärkt sich die soziale Isolation (jeder arbeitet für sich alleine) und soziale Ungleichheit (nur wer Zugang zu diesen Ressourcen hat, kann tätig werden). Deshalb ist es wichtig, daß zur Eigenarbeit unterstützende und qualifizierende Angebote bereitgestellt werden: „Vor allem die Ärmeren und schlechter Ausgebildeten müssen überhaupt erst selbsthilfefähig werden.“ 2. Mehr Eigenarbeit bei steigender Arbeitslosigkeit?

Die sozialwissenschaftlichen Studien zeigen weiter, daß die von politischer Seite geäußerten Hoffnungen und Erwartungen im Hinblick auf die Potentiale zur Eigenaktivität der Bürger illusorisch sind, wenn sie sich auf Arbeitslose richten. Fehlende Erwerbsarbeit ist nicht durch vermehrte Eigenarbeit zu ersetzen. So konstatierten Raymond Pahl und Claire Wallace: „Der Besitz eines Arbeitsplatzes und Selbstversorgung laufen eher zusammen, als daß das eine an die Stelle des anderen tritt.“ Mehr noch: Es zeichnet sich ab, daß Erwerbstätige (und finanziell abgesicherte Hausfrauen, insbesondere nach der Erziehungsphase) Tätigkeiten in unterschiedlichsten Bereichen akkumulieren, während Arbeitslose nicht nur aus dem Erwerbsarbeitssystem ausgeschlossen sind, sondern auch bei den Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit eher , außen vor'bleiben. Sie sind auch in allen anderen Bereichen jenseits der Erwerbsarbeit (ehrenamtliches Engagement, Vereinstätigkeit, Selbsthilfe usw.) unterrepräsentiert Dies hat neben der Problematik reduzierter materieller und sozialer Ressourcen auch damit zu tun, daß sich Arbeitslose in einer besonderen Lebenssituation befinden. Während Erwerbstätige mit ihren Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit häufig eine Um-und Neuorientierung ihrer Lebensgestaltung anstreben, geht es den meisten Arbeitslosen in erster Linie darum, den vergangenen Zustand der Erwerbstätigkeit wiederherzustellen. Erwerbstätigkeit bleibt weiterhin ein wichtiger identitätsstiftender Faktor. Neuorientierungen auf ehrenamtliche Tätigkeiten oder Eigenarbeit hin sind zudem äußerst schwierig, solange diese Tätigkeiten gesellschaftlich wenig anerkannt sind: „Allein wer Zugang zum Beruf hat, ist frei, sich für Eigenarbeit zu entscheiden.“

3. Private und Öffentliche Eigenarbeit

Sofern unterstützende Angebote zur Durchführung von Eigenarbeit notwendig sind, ist die Frage berechtigt, ob diese öffentlich bereitgestellt werden sollen. Damit wird Eigenarbeit aus einem sozialpolitischen Blickwinkel thematisiert, und es wird die Trennlinie zwischen privat und öffentlich entscheidend. Bei privater Eigenarbeit handelt es sich um Tätigkeiten im häuslichen Umfeld (Selbstversorgung, Herstellung von Nutzgegenständen usw.), die, historisch gesehen, mit zunehmender Industrialisierung professionalisiert und damit aus dem privaten Sektor ausgegliedert wurden Damit sind kulturelle und motivationale Grundlagen für eine Selbstversorgung verlorengegangen, und private Eigenarbeit wurde dequalifiziert Die Forderung nach mehr Eigenarbeit bedeutet aber, daß solche Tätigkeiten rückverlagert und privathaushaltliche Potentiale aktiviert werden müssen. Dies ist, wie oben dargestellt, an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Das Konzept der Öffentlichen Eigenarbeit eröffnet dazu neue Wege: Ausgangspunkt dieses Konzeptes ist ein öffentlicher Raum, ein Bürgerhaus, das einer breiten Bevölkerungsschicht den Zugang zu einem gemischten Angebot an kulturellen, sozialen und handwerklichen Aktivitäten in gemeinschaftlicher Tätigkeit ermöglicht

III. Chancen und Potentiale Öffentlicher Eigenarbeit

Bürgerhäuser, in denen Öffentliche Eigenarbeit stattfinden kann, beinhalten konstruktive Potentiale und Chancen für die Zukunft der Arbeitsgesellschaft Wesentlich dafür sind bestimmte räumliche und konzeptuelle Bedingungen: Ein entscheidender Schritt für die Realisierung Öffentlicher Eigenarbeit ist die Bereitstellung eines breit gefächerten und offenen Angebotes. Dieses bildet den Rahmen, in dem sich Menschen unterschiedlichster Berufe, Altersstufen und persönlicher Lebenssituationen zusammenfinden können, die aus sehr verschiedenen Motiven, Bedürfnissen und Zielen in das Haus kommen. Entscheidend ist es, ein Tätigsein in der Gemeinschaft und eine , Begegnung über das Werkstück zu ermöglichen -ohne den individuellen Intensitäts-bzw. Aktivitätsgrad beim Arbeiten vorzugeben. Besonders integrativ ist deshalb ein zentral gelegener Raum, der -am besten verknüpft mit einem Bewirtungsangebot -einen sozialen Treffpunkt im Hause für Erholungspausen oder unverbindliche Begegnungen darstellt. Wichtig ist darüber hinaus, daß neben den Werkstätten auch Räume für selbstorganisierte kulturelle Veranstaltungen (, kulturelle Eigenarbeit) oder Gruppenaktivitäten (, soziale Eigenarbeit) vorhanden sind. Je mehr diese Bereiche ineinander verwoben sind, desto umfassender sind die Auswirkungen der Öffentlichen Eigenarbeit. Diese ermöglicht dann eine gemeinschaftliche Nutzung von Angeboten für selbstbestimmte Tätigkeiten. Zugleich ist der Zugang zu einer Gemeinschaft geschaffen, in der nicht Kommunikation oder geselliges Beisammensein an erster Stelle stehen. Um die Eigenverantwortung der Nutzer zu stärken, benötigt ein solches offenes Nutzungsangebot von Räumen und Werkzeugen einen überschaubaren und ansprechenden Rahmen, eine persönliche Atmosphäre sowie äußere Anreize (zum Beispiel Selbstbedienung und Selbstentsorgung im Cafe-Bereich).

Wie die private Eigenarbeit ist auch die Effektivität Öffentlicher Eigenarbeit an mehrere Bedingungen geknüpft: a) Die professionelle Ausstattung: Eine wichtige Voraussetzung für den handwerklichen Bereich sind professionell ausgestattete Werkstätten. Arbeitsplätze, Maschinen und Werkzeuge müssen hohen Standards genügen, um ein ergebnisorientiertes und effektives Arbeiten zu ermöglichen und nicht in einer Hobby-und Bastelatmosphäre verhaftet zu bleiben. Weitgefächerte und produkt-bezogene handwerkliche Angebote, einschließlich alltagspraktischer Reparaturmöglichkeiten, erhöhen die Attraktivität des Hauses. b) Das nutzerorientierte Beratungsangebot: Zur Steigerung der individuellen Fähigkeiten muß das freie Nutzungsangebot durch Beratungsstunden und Kurse ergänzt werden, in denen fachlich qualifizierte Experten für Anleitung und Hilfestellung zur Verfügung stehen. Ein solches Kurs-und Beratungsangebot darf nicht auf reine Wissensvermittlung beschränkt sein. Wichtig ist ein didaktisches Konzept, das Eigeninitiative und Selbstvertrauen fördert und den Nutzern zur Seite steht, damit diese ihre persönlichen Vorstellungen und Pläne entfalten können. c) Die Finanzierung: Unstrittig ist, daß für die Nutzung des Hauses Gebühren erhoben werden. Wenn aber gesichert sein soll, daß Öffentliche Eigenarbeit allen Interessierten offensteht, dann müssen die Nutzungspreise dem Einkommen entsprechend gestaffelt sein. Gerade um finanziell schlecht gestellte Bevölkerungsgruppen nicht auszuschließen, ist deshalb eine Subventionierung dringend erforderlich. Öffentliche Eigenarbeit kann unterschiedlichen Nutzungsmotiven entgegenkommen: a) Strategische Nutzung: Öffentliche Eigenarbeit ist wertvoll für geübte private Eigenarbeiter oder Heimwerker, die ein konkretes handwerkliches Vorhaben durchführen wollen, das sie mit der eigenen Ausrüstung oder in der heimischen Werkstatt nicht bewältigen können. Die allgemein zugängliche professionelle Ausstattung ist für sie die wesentliche Vorbedingung, um ihre Projekte auf hohem Niveau verwirklichen zu können. Öffentliche Eigenarbeit hat hier einen genossenschaftlichen Charakter. b) Kreativ-künstlerische Nutzung: Ein weiteres wichtiges Motiv besteht darin, daß Interessierte ihre eigenen kreativen Potentiale entdecken und erweitern können. Dazu ist neben den konkreten Möglichkeiten einer Werkstatt auch eine allgemein anregende Atmosphäre im Haus und die Vielfalt und Offenheit der verschiedenen Nutzungsangebote sehr förderlich. Öffentliche Eigen-arbeit kann damit den Menschen die Möglichkeit geben, eine zweckfreie Seite des Arbeitens wiederzuentdecken. c) Sozial-kommunikative Nutzung: Das Angebot der Öffentlichen Eigenarbeit kann auch unterschiedliche kommunikative Bedürfnisse befriedigen. Dazu gehört die , stille Teilhabe an der Gemeinschaft ebenso wie das intensive persönliche Gespräch, aber auch die gemeinsame Arbeit. Dadurch entsteht ein sozialer Treffpunkt, eine städtische Variante des früheren Dorfbrunnens', an dem sich ganz unterschiedliche Menschen treffen und miteinander kooperieren können. Einzigartig ist diese soziale Begegnungsstätte dadurch, daß der kommunikative Aspekt mit einem produktiven Anliegen verknüpft ist. Dies kommt dem Ideal von Herstellen und Handeln nahe, wie es Hannah Arendt beschreibt d) Die Nutzung als allgemeine Bildungs-und Entwicklungseinrichtung: Durch die professionelle Ausstattung und das nutzerorientierte Beratungsangebot können Menschen bei der Öffentlichen Eigenarbeit individuell etwas dazulernen und sich qualifizieren. Die verschiedenen Angebote an freier Eigenarbeit, Fachberatungsstunden und umgrenzten Kursen geben viel Spielraum, die Werkstätten dem jeweiligen Können und Selbstvertrauen entsprechend zu nutzen. Sofern das Beratungsangebot nicht auf Wissensvermittlung eingeschränkt ist, entfallen Einstufungen in . Anfänger und . Fortgeschrittene', und es finden sich Personen aller Erfahrungsgrade gleichzeitig in einer Werkstatt. Durch die Förderung der individuellen Ideen und Pläne werden in der Gemeinschaft völlig unterschiedliche Projekte realisiert, die wiederum Anregungen und Ermutigungen für die anderen darstellen. Idealerweise wird dadurch eine zweckfreie Form des , Sich-Bildens‘ ermöglicht und damit eine andere Form der Aneignung von gesellschaftlicher Erfahrung. Eine Weiterqualifizierung birgt zudem die Möglichkeit zur Verbesserung von Chancen im Erwerbsbereich. Die Erfahrungen mit Öffentlicher Eigenarbeit zeigen, daß zwei zentrale Merkmale dieses Angebotes über die ursprünglichen Kennzeichen von Eigenarbeit als selbstbestimmte Herstellung von Produkten hinausgehen: Zum einen bewirkt die fachliche Unterstützung bei der Umsetzung eigener Ideen nicht nur eine größere Zuversicht und ein verstärktes Selbstvertrauen für die Realisierung konkreter Projekte. Erfahrene Eigenarbeiter berichten auch davon, daß sich insgesamt ihre Problemlösungskompetenz und die Aktivität ihrer Lebensgestaltung gesteigert hätten. Arbeitslose mit Vorerfahrungen in der Öffentlichen Eigenarbeit gestalten diese Lebensphase aktiver und sind dadurch weniger demoralisiert. Ein zweiter entscheidender Aspekt ist das Gemeinschaftsgefühl: Das Erleben kooperativen Handelns bei individuell unterschiedlichen Zielen und Fähigkeiten, die Teilhabe an den Aktivitäten anderer, sowie die geteilte Verantwortung für das Haus vermitteln Erfahrungen, die als ein Baustein für stärker selbstverantwortliches und gemeinschaftsbezogenes Handeln (zum Beispiel für freiwillige gemeinnützige Tätigkeiten) dienen können.

IV. Kann Öffentliche Eigenarbeit zu einer Zukunft der Arbeit beitragen?

Wenn Öffentliche Eigenarbeit sozialpolitisch nützlich sein soll, dann muß es auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu Veränderungen kommen. Eine Grundvoraussetzung ist die Umverteilung von gesellschaftlicher Arbeit. „Derjenige, der nicht im Erwerbssystem tätig ist, darf dafür nicht länger bestraft werden, sondern der Verzicht auf Lohnarbeit muß, im Gegenteil, belohnt und der informelle Sektor durch gezielte Maßnahmen attraktiv gemacht werden.“ Es wird deshalb wichtig, neben Flexibilitätsmodellen innerhalb der Erwerbsarbeit (zum Beispiel der Einführung von Arbeitszeitkonten oder variabler Jahres-oder Lebensarbeitszeiten) auch offenere Wege der Verknüpfung zwischen Erwerbsarbeit und anderen Formen der Arbeit zu finden und aktiv politisch zu fördern. Dies gilt um so mehr, als davon auszugehen ist, daß sich Menschen zukünftig nicht länger auf einen Beruf und einen Arbeitskontext im Verlauf ihres Erwerbslebens einstellen können, sondern als „Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft“ unterschiedliche berufliche und soziale Fähigkeiten flexibel kombinieren müssen. Befunde aus der dynamischen Arbeitslosigkeit'verweisen zudem darauf, daß Arbeitslose und Arbeitsplatzbesitzer zukünftig ständigen Wechseln unterworfen sein werden Die Vorstellung von Arbeitslosen als einer Problemgruppe, die von staatlicher Seite bis zu einem dauerhaften Wieder-eintritt ins Erwerbssystem finanziell abgesichert wird, ist längst nicht mehr zutreffend. Dieses Modell schafft langfristig zu viele Hilfsbedürftige, die von staatlichen Leistungen abhängig sind. „Aufgabe der Politik ist es nicht, die Gesellschaft zu bedienen, sondern sie zu aktivieren.“ Öffentliche Eigenarbeit ist ein Modell, das konkrete Vorschläge für eine solche aktivierende Sozialpolitik bereitstellen kann.

In der Vielfalt von Öffentlicher Eigenarbeit liegt ein innovatives Potential für eine veränderte sozial-staatliche Orientierung. Gefördert wird die Integration unterschiedlichster Interessenlagen sowie die Begegnung und Kooperation in der Gemeinschaft statt der Trennung verschiedener Bevölkerungsschichten. Das Angebot einer Öffentlichen Eigen-arbeit ist ressourcenorientiert: Nutzer müssen sich nicht als Zugehörige einer bestimmten Problem-oder Randgruppe definieren, wie dies zum Beispiel in Selbsthilfegruppen oder Arbeitsloseninitiativen der Fall ist. „Gestaltende Sozialpolitik muß Abschied nehmen von der Idee einer , Notversor-gung‘ der Armen und Schwachen, sondern sollte von der Idee der Förderung und Schaffung von Ressourcen sozialer Selbstgestaltung bestimmt sein.“ Die multidimensionalen Angebote der Öffentlichen Eigenarbeit mit ihren vielfältigen Begegnungs-, Freizeit-, Bildungs-und Handlungs-angeboten bieten dafür Gelegenheitsstrukturen. Bürgerhäuser der Öffentlichen Eigenarbeit entsprechen den Erfordernissen in einer individualisierten Gesellschaft nach einer bedürfnisorientierten Lebensgestaltung. Mehr noch: Sie könnten in einer Erweiterung ihres Blickwinkels auf eine städtische Nachbarschaftshilfe'auch einen wichtigen Beitrag als Zentren für die Entwicklung von aktiver stadtteilbezogener bzw. öffentlich-gemeinnütziger Arbeit leisten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In diesen Beitrag sind Ergebnisse einer empirischen Studie über das Haus der Eigenarbeit (HEi) in München eingeflossen, die im Auftrag der gemeinnützigen Forschungsgesellschaft anstiftung durchgeführt wurde. „Ein wesentliches Argument für die politische Wiederentdeckung der informellen sozialen Aktivitäten (von der Nachbarschaftshilfe über ehrenamtliche Arbeit bis hin zu Selbsthilfegruppen) dürfte die erwartete Kostenentlastung der öffentlichen v. a.der kommunalen Haushalte darstellen.“ Claus Offe/Rolf G. Heinze, Am Arbeitsmarkt vorbei. Überlegungen zur Neubestimmung , haushaltlicher‘ Wohlfahrtsproduktion in ihrem Verhältnis zu Markt und Staat, in: Leviathan, 14 (1986), S. 471 -495, hier S. 483.

  2. Christine von Weizsäcker/Ernst von Weizsäcker, Eigen-arbeit in der dualen Wirtschaft, in: Joseph Huber (Hrsg.), Anders arbeiten -anders wirtschaften. Dualwirtschaft: Nicht jede Arbeit muß ein Job sein, Frankfurt am Main 1979, S. 91 -103.

  3. Ivan Illich, Vom Recht auf Gemeinheit, Reinbek b. Hamburg 1982, S. 51 f.

  4. Frithjof Bergmann, Arbeitslosigkeit durch Automatisierung -Neue Arbeitszeitmodelle, Vortragsmanuskript, 1994, S. 4"

  5. Rainer Duhm, Eigenarbeit -neue Kultur einer postindustriellen Arbeit?, in: Kulturpolitische Gesellschaft e. V. (Hrsg.), Zukunft der Arbeit -Zukunft der Freizeit und Kultur. Materialien und Diskussionsergebnisse, Dokumentation Nr. 20, Hagen 1984, S. 95.

  6. Vgl. diese begrifflichen Gleichsetzungen bei: Johann Jessen/Walter Siebel/Christa Siebel-Rebell/Uwe-Jens Walther/Irmgard Weyrather, Mythos informelle Ökonomie, in: Leviathan, 13 (1985), S. 398-419; Claus Offe/Rolf G. Heinze, Organisierte Eigenarbeit. Das Modell Kooperationsring, Opladen 1990; Raymond Pahl/Claire Wallace, Arbeitsstrategien von Haushalten in Zeiten wirtschaftlicher Rezession, in: Jürgen Krämer/Rainer Neef (Hrsg.), Krise und Konflikte in der Großstadt im entwickelten Kapitalismus, Basel 1985, S. 333367; Walter Siebei, Der Mythos Schattenwirtschaft, in: Die Zeit, Nr. 18 vom 25. April 1986, S. 33-36.

  7. Ganz allgemein gesprochen umfaßt der Begriff Eigen-arbeit „ . nützliche Tätigkeiten 1 in der Grauzone zwischen Freizeitkonsum und Erwerbsarbeit“. C. Offe/R. G. Heinze (Anm. 6), S. 95.

  8. Jens Mittelsten Scheid, Mehr Eigenarbeit. Bausteine für eine menschliche Zukunft, in: das baugerüst, (1995) 1, S. 5659.

  9. Zu diesem Befund kommen alle sozialwissenschaftlichen Studien, vgl. etwa Hartmut Häußermann/Karin Lüsebrink/Werner Petrowsky, Die Bedeutung von informeller Ökologie und Eigenarbeit bei Dauerarbeitslosigkeit, in: Rolf G. Heinze/Claus Offe (Hrsg.), Formen der Eigenarbeit. Theorie, Empirie, Vorschläge, Opladen 1990, S. 87-104; R. Pahl/C. Wallace (Anm. 6).

  10. So spielt Eigenarbeit bei Beziehern höherer Einkommen mit besserer beruflicher Qualifikation eine größere Rolle als bei jenen Haushalten, die über geringere Einkommen aus beruflicher Arbeit verfügen. Vgl. Wolfgang Glatzer/Regine Berger-Schmitt (Hrsg.), Haushaltsproduktion und Netzwerk-hilfe, Frankfurt am Main 1986.

  11. W. Siebei (Anm. 6), S. 36.

  12. R. Pahl/C. Wallace (Anm. 6), S. 356.

  13. Für den Anteil von Arbeitslosen bei Ehrenämtern vgl. Teresa Bock, Ehrenamt -Definition, historische Entwicklung, Perspektiven, in: Akademie für politische Bildung/Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), Ehrenamt -Krise oder Formwandel?, Tutzing 1994, S. 3-20. Für die aktive Vereinsarbeit vgl. Erwin K. Scheuch, Vereine als Teil der Privatgesellschaft, in: Heinrich Best (Hrsg.), Vereine in Deutschland. Vom Geheimbund zur freien gesellschaftlichen Organisation, Bonn 1993, S. 143-208.

  14. Ulrich Mückenberger, Allein wer Zugang zum Beruf hat, ist frei, sich für Eigenarbeit zu entscheiden, in: R. G. Heinze/C. Offe (Anm. 9), S. 197-211.

  15. Vgl. C. v. Weizsäcker/E. v. Weizsäcker (Anm. 2); F. Bergmann (Anm. 4).

  16. Vgl. Claus Offe/Rolf G. Heinze, Am Arbeitsmarkt vorbei. Überlegungen zur Neubestimmung „haushaltlicher“ Wohlfahrtsproduktion in ihrem Verhältnis zu Markt und Staat, in: Leviathan, 14 (1986) 4, S. 471-495.

  17. Vgl. Gerd Mutz/Irene Kühnlein/Martina Burda-Viering/Boris Holzer, Eigenarbeit hat einen Ort. Öffentliche Eigen-arbeit im HEi, München 1997.

  18. Vgl. die Übersichten von Johann Jessen/Walter Siebei, Wohnen und informelle Arbeit, ILS-Schriften 19, Dortmund 1989; Elisabeth Redler, Projekte der Eigenarbeit, Vortrags-manuskript, Neudietendorf 1997.

  19. Vgl. J. Jessen/W. Siebei (Anm. 18); G. Mutz/I. Kühnlein/M. Burda-Viering/B. Holzer (Anm. 17); Elisabeth Redler, Einladung zum Abenteuer Eigenarbeit. Forschungsbericht Projekt „Eigenarbeit“, München 1991.

  20. Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1981.

  21. Wolfgang Bonß, Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Vortragsmanuskript, Ottobrunn 1996, S. 26.

  22. Christian Lutz, Leben und Arbeiten in der Zukunft, München 1995.

  23. Vgl. Gerd Mutz/Wolfgang Ludwig-Mayerhofer/Elmar Koenen/Klaus Eder/Wolfgang Bonß, Diskontinuierliche Erwerbsverläufe, Opladen 1995.

  24. Warnfried Dettling, Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Gütersloh 1995, S. 21.

  25. Heiner Keupp, Chancen des Umbruchs -das soziale Kapital in Deutschland, Vortragsmanuskript, München 1997, S. 15.

Weitere Inhalte

Irene Kühnlein, Dr. phil., geb. 1954; Diplompsychologin, Sozialforscherin und Psychotherapeutin; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg. Veröffentlichung u. a.: (Mitautorin) Eigenarbeit hat einen Ort. Öffentliche Eigenarbeit im HEi (Haus der Eigenarbeit), Forschungsberichte der anstiftung, München 1997.