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Der Sozialstaat hat eine Zukunft | APuZ 48-49/1997 | bpb.de

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APuZ 48-49/1997 Krise der Arbeitsgesellschaft und Privatisierung der Sozialpolitik Der Sozialstaat hat eine Zukunft Leitlinien einer sozialpolitischen Reform Zukunft der Arbeit Chancen für eine Tätigkeitsgesellschaft? Weniger Erwerbsarbeit -mehr Eigenarbeit? Chancen und Potentiale Öffentlicher Eigenarbeit

Der Sozialstaat hat eine Zukunft

Gerhard Bäcker

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der aktuellen Debatte um die Perspektiven von Sozialstaat und Sozialpolitik geht es schon längst nicht mehr um die Regelung der einzelnen Sachprobleme in den Systemen der sozialen Sicherung. Wir befinden uns mitten in einer Grundsatzdiskussion über den Stellenwert des „Sozialen“ in einer entwickelten Marktgesellschaft, die nach Wertentscheidungen verlangt. Zu entscheiden ist, ob das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes noch ernst genommen wird und wie auf dieser Grundlage auf die neuen Herausforderungen reagiert werden soll. Der Beitrag plädiert für eine Verteidigung des Sozialstaates und zugleich für seine reformorientierte Weiterentwicklung; Reformpolitik und nicht Abrißpolitik ist gefordert. In einem zweiten Schritt wird überprüft, ob ein ausgebauter Sozialstaat überhaupt noch finanzierbar ist und im Wettbewerb der Nationen um Standortvorteile aufrechterhalten werden kann. Ergebnis der Analyse ist, daß zwar die ökonomischen und fiskalischen Rahmenbedingungen schwieriger geworden sind, keineswegs aber davon ausgegangen werden muß, daß der Abbau der sozialen Sicherung und die blinde Unterwerfung der Gesellschaft unter die Marktkräfte unvermeidlich sind. Der Sozialstaat hat dann eine Perspektive, wenn die politische Bereitschaft besteht, unsere Gesellschaft als ein demokratisches und soziales Gemeinwesen zu verstehen und weiterzuentwickeln.

I. Sozialstaat in der Grundsatzkritik

Hat der Sozialstaat, so wie er sich im Nachkriegsdeutschland entwickelt hat und mit der deutschen Vereinigung ohne Abstriche auf die neuen Länder übertragen worden ist, noch eine Zukunft? Folgt man dem Mainstream in der (Wirtschafts-) Wissenschaft, wird diese Frage vermehrt negativ beschieden. Die Diagnose lautet, daß der Sozialstaat mit seinen hergebrachten Institutionen, Leistungsprinzipien und seinem Ausgabenvolumen nicht mehr fortgeschrieben werden könne. Er sei der eigentliche Verursacher für Arbeitsmarktkrise, Wachstumsschwäche, Standortrisiken im internationalen Wettbewerb sowie für die prekäre Finanzlage der öffentlichen Haushalte, weil er sich wie Mehl-tau auf die Kräfte des Marktes gelegt habe und die Funktionsfähigkeit der Wettbewerbswirtschaft langsam aber sicher erdrossele. Die politische Schlußfolgerung aus dieser Diagnose ist so einfach wie jedem bekannt: Um den Marktkräften wieder Entfaltungsmöglichkeiten zu geben und Wachstumsdynamik freizusetzen, bedürfe es einer deutlichen Begrenzung des „Sozialen“ in der Marktwirtschaft. Nur so lasse sich die gegenwärtige Krise überwinden und eine Antwort auf die Herausforderungen der „Globalisierung“ finden.

Eine Alternative dazu gebe es nicht, da die Bedingungen des Weltmarktes eine Anpassung über kurz oder lang erzwängen. Je früher also die Politik reagiere, desto besser

Vertreter dieser Position, die mehr und mehr die politische Grundstimmung in der Bundesrepublik dominiert und Zug um Zug politisch umgesetzt wird, begnügen sich nicht mit der Forderung nach Korrekturen und einzelnen Einschnitten im Sozialleistungssystem. Es geht um einen grundlegenden Umbau des gesellschaftspolitischen Regimes, das die Bundesrepublik -und andere europäische Länder -als Modell des „rheinischen Kapitalismus“ geprägt hat. Neoliberale Positionen eines radikalen Umbaus der Gesellschaft sind in wenigen Jahren vom Rand ins Zentrum der Politikberatung und des politischen Diskurses vorgestoßen.

Das Diktum „Sozialabbau“ trifft diese Position nur unzureichend, ebenso unpräzise ist die oftmals geäußerte Befürchtung, die Sozialpolitik solle gänzlich „abgeschafft“ werden. Es geht vielmehr -wenn wir uns hier auf das System der sozialen Sicherung im engeren Sinne beschränken und andere, wesentliche Elemente des sozialstaatlichen Gefüges einmal außer acht lassen (wie u. a. Arbeitsrecht, kommunale Sozialpolitik, Tarifautonomie) -um eine schrittweise Neuorientierung der die soziale Sicherung (quantitativ wie qualitativ) prägenden Sozialversicherung. Die Entwicklung geht hin zu einer „schlanken“ Absicherung auf unterem Niveau; die Institutionen und Leistungen der Sozialversicherung sollen zwar nicht aufgelöst (für den radikalen Schritt eines abrupten Übergangs zur Grundrente/Grundsicherung finden sich [noch? ] keine Mehrheiten), aber doch durch ihre konsequente Anpassung an die Prinzipien der privaten Versicherung strukturell verändert werden. Die Stichworte in diesem Konzept lauten u. a.: Reduzierung des Leistungsniveaus, Ausgrenzung von Risiken und Leistungstatbeständen, Ausgliederung der sogenannten „versicherungsfremden“ Leistungen des sozialen Ausgleichs, Auflösung der paritätischen Beitragsfinanzierung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und Reduzierung des Leistungskatalogs auf eine Basis-versorgung. Der Sicherungsschutz nähert sich damit einer Art Minimalabsicherung knapp oberhalb des Sozialhilfeniveaus. Alles andere, also die bessere und angemessene Absicherung vor den Standardrisiken des Lebens, sollen die, die es sich leisten können, durch privatwirtschaftliche Vorsorge, basierend auf Vermögensbildung und dem Abschluß individueller Versicherungsverträge, eigenverantwortlich regeln.

Es besteht wenig Zweifel: Der die Bundesrepublik lange Jahre prägende sozialstaatliche Konsens, dessen Stabilität und Breitenwirkung zweifelsohne durch die Erfahrungen mit Faschismus und Krieg, aber auch durch die spezifischen Bedingungen der nachfolgenden Systemkonkurrenz, zu erklären sind, löst sich auf. In einer solchen Situation erhält die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates einen sehr grundsätzlichen Stellenwert. Die Diskussion beschränkt sich nicht mehr auf den Kreis der sachkundigen „Sozialpolitiker“; sie gewinnt den Charakter einer gesellschaftspolitischen Richtungsentscheidung. Es geht zunächst einmal um die normative Aussage über den Stellenwert des sozialen Ausgleichs in einer entwickelten Ökonomie und demokratischen Gesellschaft. Welches Bild einer gerechten, chancengleichen Gesellschaft und von humanen Lebensbedingungen, die die menschliche Würde und die persönliche Entfaltung sichern, haben wir vor Augen? Wie soll das mitmenschliche Zusammenleben politisch-demokratisch gestaltet werden; was soll bewahrt, was soll in Anpassung an den sozial-strukturellen Wandel, dem die Gesellschaft unterliegt, verändert werden

Läßt sich das -so die zweite, daran anschließende Frage -, was wir gesellschaftspolitisch anstreben, ökonomisch und fiskalisch auch durchsetzen -oder müssen wir wohl oder übel vor dem stummen Zwang des Weltmarktes kapitulieren und uns dem ökonomischen Zeitgeist bedingungslos anpassen?

Am Anfang der Debatte steht die Wertorientierung, denn Sozialstaat und soziale Sicherung sind keine abstrakten, akademischen Gebilde, die sich von Wissenschaftlern am Schreibtisch nach Belieben modellieren lassen. Es geht um die Lebensbedingungen und Perspektiven der Menschen in diesem Land, um die Teilhabe aller an den grundlegenden Bedürfnissen wie Bildung, Arbeit, Gesundheit, Wohnen, soziale Sicherheit. Ökonomische Kriterien wie wirtschaftlicher Erfolg auf den Märkten, Rentabilität und Renditemaximierung können deshalb nicht alleiniger Maßstab für die Ordnung der Gesellschaft sein. Deutschland ist eben nicht nur ein Wirtschaftsstandort, sondern auch ein „Lebensstandort“.

Schon mehren sich die Stimmen, die nicht nur den Sozialstaat, sondern das demokratische Prinzip überhaupt als lästigen Hemmschuh im Globalisierungswettbewerb ansehen Nachdrücklich ist deshalb darauf zu verweisen, daß das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz verankert ist und aus verfassungsrechtlicher Sicht ebenso wenig zur Dis-Position steht wie der Rechtsstaat. Der Sozialstaat, das heißt die Gestaltung der Gesellschaft nach den Maßstäben von Gerechtigkeit, Chancengleichheit, sozialem Ausgleich und Sicherung der personalen Freiheit, ist deshalb auch nicht lediglich Anhängsel von Marktwirtschaft und ökonomischer Effizienz oder gar ihnen untergeordnet, sondern essentieller Bestandteil eines demokratischen Staates. Sozialstaat und Freiheit, Kollektivität und Individualität schließen sich nicht aus, sondern bedingen und ergänzen einander. Der Sozialstaat ist Voraussetzung dafür, daß die Werte von Individualität und Freiheit nicht nur ein Privileg für die Einkommensstarken und Vermögenden sind; er garantiert auch jenen die aktive gesellschaftliche Teilhabe, deren Durchsetzungsfähigkeit begrenzt ist.

In einer (welt) wirtschaftlichen Situation, in der sich die Betriebe und die Beschäftigten unter einen radikalen Modernisierungsdruck gestellt sehen, sind soziale Unsicherheit, Angst vor sozialem Abstieg, Ausgrenzung und Armut Auslöser für gesellschaftliche Desintegration. Die Kehrseite einer blinden Unterwerfung unter die Kräfte des Marktes heißt Gewalt, Kriminalität, Ausländerhaß und politischer Extremismus.

II. Die Verteidigung des Sozialstaates setzt seine Reform voraus

Die oben genannten Zielsetzungen und Wertorientierungen werden von den Grundstrukturen des sozialen Sicherungssystems vergleichsweise gut erfüllt. Dies gilt auch und gerade für die Sozialversicherung, die mit ihren Elementen Lohn-und Beitragsorientierung, Lohnersatz und Leistungsdynamik sowie paritätische Mittelaufbringung und Selbstverwaltung besser als andere Systeme geeignet ist, die großen Lebensrisiken wie Invalidität, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und Unfall zuverlässig abzusichern. Ein Übergang zur Privatversicherung wäre weder kostengünstiger, noch könnte bei einer privaten Vorsorge der Schutz der gesamten Bevölkerung vor den elementaren Lebensrisiken gewährleistet werden. Konstitutiver Bestandteil der Sozialversicherung, der sie sowohl von der äquivalenzbezogenen Privatversicherung als auch von zentralstaatlichen Versorgungssystemen unterscheidet, ist vor allem die Verknüpfung von Versicherungs-und Solidarprinzip. Hier ergänzen sich Eigenverantwortung und sozialer Ausgleich, Leistungsorientierung und Lebensstandardsicherung. Diese Aussage versteht sich als Aufruf, das Erreichte zu verteidigen und nicht zum Abriß frei­ zugeben. Gleichwohl wäre es unzureichend, in einer Defensivposition zu verharren und der aktuellen, sich überschlagenden Debatte allein ein trotziges „Weiter so“ entgegenzusetzen. Gerade wenn das Sozialstaatsprinzip bewahrt werden soll, stellt sich die Aufgabe, einerseits die unübersehbaren Lücken, Defizite und Verwerfungen in den Systemen zu beseitigen und andererseits die sozialpolitischen Leistungen an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Reformpolitik und nicht Abbruchpolitik ist gefordert. Reform heißt, den Sozialstaat einfacher und überschaubarer zu gestalten, bürokratische Hemmnisse abzubauen " und Rationalisierungs-und Wirtschaftlichkeitsreserven (Überversorgungen, Doppelleistungen, Fehlsteuerungen) aufzuspüren Wenn es gelingt, die knappen Ressourcen zielgenauer und effizienter einzusetzen, lassen sich Qualitätsverbesserung und Kostensenkung sinnvoll miteinander verbinden. Reform und Weiterentwicklung bedeutet auch, den sozialstrukturellen Wandel in der Gesellschaft zu berücksichtigen und die individuellen Handlungsoptionen der Bürger zu erweitern.

Eine zentrale Aufgabe besteht aus meiner Sicht darin, die Voraussetzungen dafür zu verbessern, daß vom klassischen männlichen Bild der Normal-biographie und des Normalarbeitsverhältnisses abweichende Lebensformen und -entwürfe durch den Sozialstaat abgesichert werden. Damit ist die Aufgabe angesprochen, in den Systemen der sozialen Sicherung und der Familienpolitik die Orientierung am hergebrachten Familien-und Frauen-bild zu überwinden, die eigenständige soziale Absicherung von Frauen (dies auch durchaus zu Lasten der Männer) zu verbessern und zugleich die parallele Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich zu machen

Dringender Reformbedarf besteht auch bei der Sozialhilfe. Die kommunale Hilfe zum Lebensunterhalt ist in vielfacher Hinsicht überfordert, die ihr zugewachsene Funktion einer Grundsicherung zu erfüllen. Der kontinuierliche Anstieg der Zahl der Hilfeempfänger signalisiert, daß Hilfsbedürftigkeit längst kein Ausnahmefall mehr ist. Wir brauchen den Übergang zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung, die jedem Bürger entsprechend seinem Bedarf, aber auch seiner Bedürftigkeit zusteht. Dabei geht es nicht darum, die Sozialversicherung zu ersetzen; sie ist vielmehr durch einen unteren, steuerfinanzierten Mindestsockel zu ergänzen, der das sozialkulturelle Exi­ stenzminimum abdeckt Innerhalb der jeweiligen Systeme kommt es damit zu einer Verknüpfung von steuerfinanziertem Bedarfs-und lohn-und beitragsbezogenem Versicherungsprinzip.

Das Sozialversicherungssystem soll erhalten bleiben, und zwar deswegen, weil der größte Teil der Bevölkerung auch in Zukunft Zugang zur Erwerbsarbeit finden wird und nur der dynamisierte, umlagefinanzierte Lohnersatz Lebensstandardsicherung, Einkommenskontinuität und damit längerfristige Lebensplanung gewährleisten kann. Zugleich garantiert die Kombination von Grundsicherung und Sozialversicherung, also von Bedarfs-und Leistungsorientierung, daß Sozialstaat und sozialer Ausgleich die gesamte Gesellschaft umfassen und sich nicht nur auf jene beschränken, die zur privaten Vorsorge nicht fähig sind und sich von daher immer in der Situation befinden, als faule und unfähige Hilfeempfänger stigmatisiert zu werden.

III. Sozialstaat und soziale Gesellschaft

Unter der Fragestellung des Reformbedarfs ist noch ein weiterer Punkt zu benennen, der in der gesellschaftspolitischen Diskussion an Gewicht gewonnen hat. Es geht um die von der amerikanischen Kommunitarismusdebatte aufgeworfene Frage nach der Fähigkeit einer Gesellschaft, ihren sozialen und moralischen Zusammenhalt durch Bürgersinn, Gemeinwohlorientierung und bürgerschaftliches, soziales Engagement außerhalb von Markt und Sozialstaat zu sichern. Aus meiner Sicht kann es wenig Streit darüber geben, daß in der Tat eine solche Unterfütterung der Gesellschaft unverzichtbar ist; der Sozialstaat ersetzt kein soziales Engagement in der Familie und im Gemeinwesen, sondern baut vielmehr darauf auf. Die in den achtziger Jahren intensiv geführte Selbsthilfedebatte hat sich auf genau diese, also keinesfalls neue Fragestellung bezogen. Die Bürger und Bürgerinnen müssen befähigt und motiviert werden, Verantwortung für sich und das Gemeinwohl zu übernehmen und soziale Aufgaben auf freiwilliger Basis zu erfüllen. Es geht nicht nur um die wirtschaftliche Produktivität eines Gemeinwesens, sondern auch um die soziale Produktivität. Allerdings: Die „kleinen Netze“ und zwischenmenschlichen Solidaritätspotentiale greifen nicht, wenn den Betroffenen durch Sozialleistungsabbau der materielle und soziale Boden entzogen wird. Ein gesicherter Lebensunterhalt ohne Ansehen der Person und ein ungehinderter Zugang zur gesundheitlichen Versorgung lassen sich nur durch die großen Systeme organisieren. Ein Verzicht auf kollektive Sicherung wäre rückwärts-gewandt, er liefe auf traditionelle Armenfürsorge und großbürgerliche Barmherzigkeit hinaus.

Gemeinsinn und Selbsthilfepotentiale entwickeln sich nicht von selbst; auch moralische Appelle verhallen, wenn gleichzeitig die Politik die sozialen und kulturellen Voraussetzungen für bürgerschaftliches Engagement unterhöhlt, statt sie zu stärken. Wer, wie viele Konservative, von Gemein-sinn, Selbsthilfe und mitmenschlicher Solidarität spricht auf der anderen Seite aber in der Wirtschaftspolitik die marktradikale Konkurrenzökonomie propagiert, die alle Lebensbereiche durchdringt und die den Menschen nur unter dem Zerrbild von Eigennutz und Renditemaximierung sieht und ihn in diese Richtung formt, kommt in einen unauflösbaren Widerspruch. Politik kann nicht beides erreichen: eine auf Kosten und Nutzen verengte Ellenbogenökonomie und das freiwillige soziale Engagement.

Ebenso widersprüchlich ist es, den hohen Wert von Familie und familiärem Zusammenhalt zu betonen und zugleich die Menschen dem Diktat eines de-regulierten Arbeitsmarktes zu unterwerfen und bedingungslose Mobilität einzufordern. Wie soll die familiär-häusliche Versorgung von Kindern, Behinderten und (pflegebedürftigen) älteren Angehörigen praktiziert werden, wenn sich die Menschen einem Beschäftigungssystem anpassen müssen, das totale Flexibilität erfordert und weniger denn je Stabilität und Verläßlichkeit bietet? Arbeitszeiten rund um die Uhr und nach Dauer, Lage und Verteilung abhängig von den Vorgaben des Betriebes, immer weitere Wegezeiten, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, unkalkulierbare Perspektiven -diese Faktoren sind es, die familiäre Bindungen lockerer und Unterstützungsnetze brüchiger werden lassen.

Ursache und Wirkung werden verdreht, wenn in der konservativen Rhetorik die Rede davon ist, der ausgebaute Sozialstaat habe den einzelnen von seiner Sorge um den Nächsten in Familie, Verwandtenkreis, Nachbarschaft, lokaler Gemein-schaft suspendiert, Solidaritätspotentiale zugeschüttet und den familiären Zusammenhalt untergraben. Aus historischer Perspektive wissen wir, daß -umgekehrt -die Triebkräfte des Sozialstaates in der ökonomischen Entwicklung, in der sozial destruktiven Dynamik des Marktes liegen; die Bereitstellung von sozialen Leistungen, Einrichtungen und Diensten war und ist erforderlich, um die durch den wirtschaftlichen und sozial-strukturellen Umbruch aufgeworfenen sozialen Probleme und Defizite zu bewältigen. Bei der anhaltenden ökonomischen Dynamik das Rad zurückdrehen zu wollen und den Familien und Gemeinschaften wieder alte Aufgaben zu übertragen ist ebenso wenig möglich, wie traditionelle Familienstrukturen wiederzubeleben. Dahinter steht nichts anderes als der Versuch, das hergebrachte Leitbild von Versorgerehe und Hausfrauen-und Mutterrolle einzufordern.

Die Empirie zeigt uns, daß die Familien, und hier in erster Linie die Frauen, auch heute noch, den Großteil an sozialen Verpflichtungen und Dienstleistungen übernehmen. Der außerordentlich hohe Grad an familiär-häuslicher Versorgung von Pflegebedürftigen ist das beste Beispiel dafür. Diese Potentiale gilt es zu stützen und zu fördern, weil diese Aufgaben eben nicht allesamt professionalisiert und monetarisiert werden können. Das ist nicht nur ein Problem der Finanzierung, sondern auch eine Frage unserer Vorstellungen von einer humanen Gesellschaft. Familien zu stützen, heißt auf der einen Seite, das Angebot an ambulanten und teilstationären Pflege-und Hilfsdiensten auszuweiten, um eine stationäre Unterbringung zu vermeiden. Auf der anderen Seite müssen die Voraussetzungen dafür verbessert werden, daß beide Geschlechter Beruf und Familie, Erwerbsarbeit und soziale Aufgaben miteinander vereinbaren können. Das spricht für kürzere Arbeitszeiten und für eine Organisation des Arbeitslebens, die die Imperative des Marktes begrenzt und flexible Arbeitszeiten nach den familiären und sozialen Bedarfen ermöglicht. Statt der Deregulierung der Arbeitsmärkte besteht die Notwendigkeit ihrer familienpolitisch gezielten Re-Regulierung

Ein sinnvoller Weg zur Stärkung von Eigeninitiative und Hilfe zur Selbsthilfe stellt auch die Unterstützung und materielle Förderung von Selbsthilfegruppen und -Organisationen dar. Hilfe zur Selbsthilfe bedarf einer sozialen Infrastruktur, die nicht von selbst entsteht, sondern geschaffen werden muß, begonnen beim Wohnungs-und Städtebau bis hin zum Ausbau von Informationsund Koordinierungsstellen

IV. Finanzierungsperspektiven bei knappen Kassen

Die eingangs gestellte (zweite) Frage lautete: Sind nicht all diese Konzepte zwar gut gemeinte, aber dennoch idealistische Hirngespinste, die sich vor dem Hintergrund der ökonomischen Veränderungen überhaupt nicht mehr finanzieren und realisieren lassen? Erzwingt die Dynamik des Weltmarktes den Abschied von überkommenen Vorstellungen einer sozialen Gesellschaft?

Bei einer Ursachenanalyse der aktuellen Finanzierungsprobleme des Sozialstaates läßt sich schnell feststellen, daß nicht etwa sozialpolitische Leistungsausweitungen dafür verantwortlich sind, sondern externe Faktoren, nämlich in erster Linie die angespannte Arbeitsmarktlage sowie -mit der Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern zusammenhängend -die Finanzierung der deutschen Einheit. Unverändert gilt die Aussage: Nicht der Sozialstaat ist zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit, weil Unterbeschäftigung gleichzeitig die Ausgaben erhöht und die Einnahmen mindert Diese Scherenentwicklung von Einnahmen und Ausgaben macht sich bei jedem Finanzierungsverfahren bemerkbar, nicht nur bei der am Arbeitseinkommen bemessenen Beitragsfinanzierung, sondern auch bei einer Finanzierung aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Sinkende Beschäftigten-und steigende Arbeitslosenzahlen führen jedes System in die Klemme, da sich immer die Relation von Beitrags-bzw. Steuerzahlern zu Leistungsempfängern verschiebt. Auch steuerfinanzierte Mindestsicherungsleistungen bzw. Grundrenten, häufig als Alternative zur beitragsfinanzierten Arbeitslosen-und Rentenversicherung vorgeschlagen, entgehen diesem Dilemma einer sich verschlechternden Relation von Beitrags-bzw. Steuerzahlern zu Leistungsempfängern nicht, wie dies ja auch bei der kommunalen, steuerfinanzierten Sozialhilfe deutlich zu erkennen ist. Allerdings kommt bei der lohnbezogenen Beitragsfinanzierung das Problem hinzu, daß ein Parallelverlauf von Volkseinkommen und Einnahmen nur dann gewährleistet ist, wenn der Anteil der Beitragspflichtigen an allen Erwerbstätigen nicht sinkt und der Produktivitätszuwachs an die Einkommen aus abhängiger Arbeit weitergegeben wird. Beides aber ist nicht mehr der Fall: Beitragsfreie Beschäftigungsverhältnisse (Scheinselbständigkeit, geringfügige Beschäftigung u. a.) werden zu Lasten von versicherungspflichtiger Beschäftigung ausgedehnt, und zugleich sinkt die Lohnquote mit entsprechend negativen Folgewirkungen für die Aufkommensdynamik bei den Beiträgen.

Mit meinem Verweis auf die Arbeitslosigkeit als Verursachungsfaktor für die Finanzierungskrise ist die aktuelle Finanzierungsproblematik in den öffentlichen und Sozialversicherungshaushalten natürlich noch nicht gelöst. Und es ist offensichtlich, daß die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht kurzfristig zu beheben sind. Es bleibt also die Frage nach der Finanzierung des Sozialstaates auch unter den Bedingungen einer hohen Unter-beschäftigung. Daß die gegenwärtige Situation, geprägt durch die Doppelwirkung von Höchstständen in der Beitrags-und Steuerbelastung sowie (Neu-) Verschuldung, prekär ist, läßt sich nicht wegdiskutieren. Auch wenn der Sozialstaat nicht verantwortlich für die Finanzierungskrise der öffentlichen Haushalte ist, so ist er natürlich ein Teil des Problems einer Konsolidierungsstrategie. Zwar muß über das Tempo der Konsolidierungspolitik gestritten werden, vor allem dann, wenn -wie derzeit -eine prozyklische Haushaltspolitik gefahren wird und Wachstums-und Beschäftigungseinbrüche die Folge sind, aber an der Notwendigkeit, die Haushaltsdefizite zu reduzieren, führt kein Weg vorbei. Dabei geht es weniger darum, die Maastricht-Konvergenzkriterien auf Punkt und Komma zu erfüllen. Wichtiger ist vielmehr, die Belastung der öffentlichen Haushalte durch Zinszahlungen zu begrenzen und Spielraum zu gewinnen für eine Politik des deficit-spending -Finanzierung von öffentlichen Investitionen über Kredite -, die im Fall einer erneut einbrechenden Konjunktur notwendig werden kann.

Wenn die öffentlichen Ausgaben auf den Prüfstand kommen, führt es nicht weiter, die Sozialausgaben per se aus dem Blickfeld zu nehmen. Einsparungen in den Sozialetats sollten aber an strenge Voraussetzungen gebunden werden: Erstens sind alle Möglichkeiten der Einnahmen-verbesserung und solidarischen und sachgerechten Finanzierung der sozialen Sicherung zu nutzen. Zweitens gilt es, die Effizienz-und Rationalisierungsreserven in den sozialen Sicherungssystemen auszuschöpfen; so gehen die Krankenkassen davon aus, daß allein im Gesundheitswesen Reserven in einer Größenordnung von 25 Milliarden Mark versteckt sind. Drittens ist nach den Prioritäten und Nachrangigkeiten aller öffentlichen Ausgaben zu fragen, viertens muß das Gebot der sozialen Ausgewogenheit und Gerechtigkeit handlungsleitend sein. Gerade in schwierigen Zeiten läßt sich eine Belastung vorrangig der sozial Schwachen durch nichts rechtfertigen. Ebensowenig gibt es eine Begründung dafür, die Schieflagen in der personellen Einkommensverteilung durch Steuerentlastungen noch zu verschärfen.

Ein stabiler Sozialstaat kann nicht zugleich ein „billiger“ Staat sein. Wer dem Staat -mitten in einer Finanzierungskrise der öffentlichen Haushalte -mit der Steuerreform die finanziellen Mittel entziehen will, erzwingt eine Situation fortgesetzter sozialpolitischer Leistungskürzungen und eine Austrockung von öffentlicher Daseinsvorsorge und Infrastruktursicherung. Gesetzt wird auf die Interessen jener, die glauben, daß der Sozialstaat nur denen etwas gibt, die die Leistungen nicht verdient haben.

Die Frage nach einer gerechten Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sich gerade infolge der laufenden Beitragssatzanhebungen die Nettorealeinkommen der Arbeitnehmer seit Jahren negativ entwickeln und auch von daher der Sozialstaat in eine massive Akzeptanzkrise gerät. Der verteilungs-wie allokationspolitisch motivierten Frage nach Umschichtungen im Bereich der Beitrags-und Steuerfinanzierung sollte also nicht ausgewichen werden. Auch gibt es keinen Anlaß dafür, eine stärkere, am Prinzip der Leistungsfähigkeit orientierte Besteuerung von Renten und anderen Alterseinkommen voreilig zum Tabu zu erklären. Bei der Finanzierung der Sozialversicherung ist es überfällig, allgemeine, nicht sozialversicherungstypische Aufgaben durch Steuermittel (so vor allem in der Bundesanstalt für Arbeit und der Gesetzlichen Rentenversicherung) in Form höherer und regelgebundener Bundeszuschüsse abzudecken, um damit die Beitragssätze senken zu können. Dies ist der bessere und gerechtere Weg, als die Absenkung des Solidaritätszuschlages. Überfällig sind ebenfalls eine Anhebung der Beitrags-und Versicherungspflichtgrenzen sowie die Aufhebung der Beitragsfreiheit von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen sowie bei Scheinselbständigkeit.

Die Diskussion über die Prioritätensetzung sozial-staatlicher Aufgaben führt zwangsläufig zu der Frage, welches Leistungsspektrum und Leistungsniveau notwendig ist, was also öffentlich und was privat finanziert werden soll. Die Grenzziehung zwischen öffentlichen und privaten Aufgaben und öffentlicher und privater Finanzierung ist stets neu zu überprüfen, und an den veränderten Lebensformen und Lebensrisiken zu bemessen. Wenn festgestellt werden kann, daß ein wachsender Teil der Bevölkerung von Unterversorgungslagen bis hin zur Armut betroffen ist, dann muß auf der anderen Seite auf hohe Leistungsniveaus -so insbesondere bei der Beamtenversorgung -hingewiesen werden. Ebenso auf den Prüfstand gehört die ungleiche Absicherung von Männern und Frauen in den Systemen der Alterssicherung, die auf die unterschiedlichen Lebens-und Arbeitsbedingungen der Geschlechter keine Rücksicht nehmen. Der Ausbau der eigenständigen Alterssicherung von Frauen kann nicht deshalb in fernere Zukunft verschoben werden, weil die Rentenkassen äußerst angespannt sind und keine Bereitschaft besteht, für Einschnitte bei der traditionellen, abgeleiteten Hinterbliebenenversorgung einzutreten.

V. Ausgaben-und Kostensenkung durch Privatisierung?

Es ist nicht zu bestreiten, daß sich im Zuge der Wohlstandsvermehrung und zugleich der Differenzierung der Gesellschaft der Kreis derer vergrößert hat, die der Sozialversicherungspflicht und des Solidarausgleichs nicht bedürfen und sich wegen ihrer Einkommensposition und „guten Risiken“ kostengünstiger in einer Privatversicherung absichern können. Ein soziales Sicherungssystem jedoch, das sich nur noch aus denjenigen zusammensetzt, die der Solidarität bedürfen -nämlich den Armen, chronisch Kranken, Kinderreichen und Alten -, und von den Leistungs-und Finanzierungsfähigen, die allein Solidarität leisten können, verlassen wird, ist nicht mehr tragfähig und verkommt zu einer diskriminierten Versorgung „zweiter Klasse“ nach amerikanischem Muster. Die in der politischen Rhetorik gängige Formel, die Leistungen der Sozialpolitik auf die „wirklich Bedürftigen“ zu konzentrieren, scheint gerade bei knappen Kassen einleuchtend, zielt aber darauf ab, daß sich die Leistungsfähigen der Versicherungspflicht und dem Solidarausgleich entziehen können. Auch hinter den so versicherungstechnisch lautenden Fragen wie „Versicherungspflichtund Beitragsbemessungsgrenzen“, „Regel-, Wahl-und Zusatztarife“, „Beitragsrückerstattung“, „Pflicht-und Gestaltungsleistungen“, „Koppelung von Beitragssatzanstieg und Zuzahlungen“ usw. verbergen sich Grundentscheidungen über die Zielrichtung des Sozialstaates. Die aktuelle Diskussion um die „Reform“ der Krankenversicherung (1. und 2. Neuordnungsgesetz) demonstriert dies. Es geht im Kern um die Frage, inwieweit sich jene mit „guten Risiken“ durch Sonderregelungen entlasten können. Wenn diese aber aufgrund ihresguten Gesundheitszustandes Beitragsrückserstattungen erhalten oder Wahltarife mit hoher Selbstbeteiligung in Anspruch nehmen, dann fallen die Kosten des Gesundheitssystems und der Krankenversicherung vermehrt bei den (chronisch) Kranken an

Auch in einem weitgehend privatversicherungsförmigen Vorsorgesystem ist die soziale Absicherung nicht kostenlos zu haben. Unabhängig von der Organisationsform gilt, daß die Erwerbseinkommensbezieher für die soziale Sicherung der nicht (mehr) Erwerbstätigen -also der Rentner, der Kranken, Arbeitslosen, Invaliden usw. -immer Bestandteile aus ihrem verfügbaren Einkommen abzweigen müssen, die dann für den individuellen Konsum nicht mehr zur Verfügung stehen Bei privaten Versicherungen treten an die Stelle solidarischer Sozialversicherungsbeiträge risikobezogene Prämien, die lediglich die personelle Belastungsstruktur verschieben, nicht aber das gesamtwirtschaftliche Belastungsniveau senken. So weisen denn Privatversicherungen, die in ihrem gesamten Leistungsspektrum mit Kostenerstattung, Selbstbeteiligungs-und Wahltarifen operieren, keine geringere Ausgabendynamik auf als die gesetzlichen Kassen. Da allerdings die Privatversicherung keinen Solidarausgleich kennt -weder bei den Leistungen noch bei der Finanzierung -, werden diejenigen finanziell am stärksten belastet, die aufgrund von Geschlecht, Familienstand, Alter und Berufssituation die höchsten Risiken tragen. Zugleich wissen wir, daß diejenigen Versicherten im besonderen Maße gesundheitlich beeinträchtigt sind und einen entsprechend großen Bedarf an Leistungen des Gesundheitssystems haben, die über das niedrigste Einkommen verfügen. Damit kommt es bei einer Privatversicherung unweigerlich zu einem sozial gespaltenen Zugang zu und der Verteilung von Leistungen im Gesundheitssystem. Es ist auch ein Irrglauben anzunehmen, eine über das Kapitaldeckungsverfahren finanzierte Alters-vorsorge könne die demographischen Belastungen leichter bewältigen. Immer noch gilt die „Makkenroth-These“ wonach das, was eine Gesellschaft für die Versorgung der älteren Generation (und noch allgemeiner: der Nicht-Erwerbstätigen) aufwendet, vom laufenden Sozialprodukt abge­ zweigt werden muß. Den Konsumansprüchen der Älteren steht nichts anderes zur Verfügung als die Ergebnisse der jeweils aktuellen Produktion, die von der mittleren, erwerbstätigen Generation erwirtschaftet wird. Während bei der Umlagefinanzierung steigende Belastungen zu Beitragssatzerhöhungen führen, erfolgt bei einer kapitalfundierten Altersvorsorge die Belastung der mittleren Generation in der Phase des demographischen Umbruchs durch die Auflösung von Vermögensanlagen (Geld-wie Sachvermögen) zu Konsumzwekken mit entsprechenden negativen Rückwirkungen auf Zins, Realwert von Kapitalanlagen, Preisniveau und Wachstumsrate

Da private Käufe auf dem Sozial-und Gesundheitsmarkt und Prämien für Privatversicherungen statistisch nicht als „Sozialausgaben“ bewertet werden, kommt es dazu, daß in Ländern mit weitgehenden privaten Vorsorgesystemen, wie in den USA, die Sozialleistungs-und Staatsquote deutlich unterhalb des deutschen Niveaus liegt. Dieser rein statistische Effekt besagt aber nicht, daß die volkswirtschaftliche Belastung durch soziale Ausgaben in den USA niedriger ist als in der Bundesrepublik. Nach Angaben der OECD beansprucht das Gesundheitswesen in den USA mit 14, 2 Prozent des Bruttosozialproduktes (1994) -und damit nicht trotz, sondern wegen der weitgehend privat-förmigen Vorsorge -deutlich mehr als das Gesundheitssystem in Deutschland mit einem Anteilswert von 10, 4 Prozent.

VI. Sozialstaat in der Globalisierungsfalle?

Dominiert wird die Debatte über die Grenzen des Sozialstaates durch die Sorge um die strukturelle Kostenkrise der deutschen Wirtschaft im Vergleich zu den ausländischen Wettbewerbern auf den Export-wie Importmärkten, die keine ausreichende Kapitalrendite mehr sichere und den Produktionsstandort Deutschland in der Weltmarkt-konkurrenz zurückfallen lasse; dies infolge des Zusammenspiels von überhöhten und unzureichend differenzierten Löhnen, verkürzten Arbeitszeiten, arbeits-und umweltrechtlichen Regulierungen aller Art, hohen Steuern und -last but not least -steigenden Lohnnebenkosten. Diese Diskussion über die Gefährdung der Stellung Deutschlands in der Weltwirtschaft (die im übrigen nicht nur in der Bundesrepublik geführt wird, aber hier besonders intensiv) hat das Ziel „Standortsicherung“ mittlerweile zum Leitbild der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft erhoben. Da, so die verbreitete Auffassung, Sozialstaat und Sozialpolitik dieses Leitbild verletzen, bestehe ein unausweichlicher Sachzwang zu einer Fundamentalkorrektur.

Nun ist es eine unbestrittene und triviale Aussage, daß soziale Leistungen finanziert werden müssen und nur das verteilt werden kann, was auf dem Markt auch produziert und erwirtschaftet worden ist. Der Sozialstaat ist insofern auch immer ein Kostenfaktor für die im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen. Allerdings läßt sich die verbreitete These, ein möglichst niedriges Niveau an sozialen Leistungen und Standards und eine breite Spreizung in der Einkommensverteilung nach oben und unten seien die besten Voraussetzungen für eine günstige Position auf dem Weltmarkt, für die Vergangenheit empirisch keineswegs bestätigen. Die bange Frage ist allerdings, ob dies auch für die Zukunft so bleibt. Denn zweifelsohne hat sich die Weltmarktkonkurrenz deutlich verschärft und sind mit den Ländern Mittel-und Osteuropas sowie den asiatischen Schwellen-ländern neue Anbieter auf dem Markt, die bei insgesamt niedrigen Arbeitskosten inzwischen auch Hochtechnologieprodukte anbieten. Unübersehbar ist auch, daß es längst nicht mehr nur um die traditionelle Konkurrenz „nationaler“ Endprodukte geht, sondern daß sich mittlerweile ganze Volkswirtschaften mit ihren sozialstaatlichen Regulationssystemen in Konkurrenzbeziehungen befinden. Als neue Qualität der Globalisierung läßt sich schließlich die Internationalisierung der Geld-und Kapitalmärkte beschreiben, die einer nationalen Geldpolitik enge Grenzen setzt. Gleichwohl sind keine Anzeichen dahingehend zu erkennen, daß die Bundesrepublik mit ihrem Lohnniveau und sozialstaatlichen System in diesem verschärften Konkurrenzkampf zu unterliegen droht, Wachstums-und Wohlstandsverluste auftreten bzw. die Bevölkerung „über ihren Verhältnissen lebt“ und lediglich durch eine radikale Revision des Sozialstaats der drohende Niedergang abgewendet werden kann. Die Gründe dafür lassen sich benennen: Bei den Arbeits-und Sozialkosten liegt es auf der Hand, daß diese nicht in ihrer absoluten Höhe zu bewerten sind (es ist trivial, daß die Löhne und Sozialstandards und damit das Niveau des Lebensstandards in Deutschland höher liegen als beispielsweise in den Ländern Osteuropas oder Asiens). Aussagefähiger Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit ist lediglich die Höhe der Arbeitskosten in ihrem Verhältnis zur Stunden-produktivität. In der Produktivität spiegeln sich Qualifikation und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten, Kapitalausstattung und technologischer Standard, aber auch die Arbeitsorganisation wider. So ermittelt, ergeben sich trotz hoher Arbeitskosten vergleichsweise niedrige Lohnstückkosten, weil auch die Arbeitsproduktivität hoch ist. Hohe Löhne und hohe Produktivität bedingen also einander. Von einer generellen Kostenkrise in Westdeutschland kann folglich nicht gesprochen werden; die Steigerung von Lohnkosten wie von Lohnnebenkosten einschließlich der Arbeitgeber-beiträge zur Sozialversicherung sind durch Produktivitätssteigerungen „verdient“ worden

In der öffentlichen Debatte stoßen diese Fakten weitgehend auf Unglauben. Auch die hohen und wachsenden Überschüsse in der Handelsbilanz ändern wenig daran, daß sich die These, Deutschland produziere zu teuer und sei im Wettbewerb unterlegen, in den Köpfen festgesetzt hat. Eine noch größere Überraschung wird durch den Hinweis erreicht, daß in diesen Arbeitskosten sowohl die Lohnnebenkosten als auch die Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahre berücksichtigt sind: Grundlage für die Berechnungen der Arbeitskosten sind die Arbeitsgesamtkosten pro Stunde, in denen entsprechend der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung die Sozialleistungen der Arbeitgeber (Sozialversicherungsbeiträge, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, betriebliche Altersversorgung), also all das, was mit dem Stichwort „Lohnnebenkosten“ erfaßt wird, bereits enthalten sind! Da es sich um die Kosten je Arbeitsstunde handelt, lassen sich auch die für Deutschland typischen kürzeren individuellen Arbeitszeiten nicht als zusätzlicher Kostenfaktor in Anrechnung bringen, wie dies mit der These vom „Kostenweltmeister Deutschland“ mit den kürzesten Arbeitszeiten, den höchsten Löhnen, den höchsten Lohnnebenkosten und der besten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall popularisiert wird. Übersehen wird schließlich, daß der Sozialstaat -als unproduktiver „Kostgänger“ der wirtschaftlichen Leistungskraft denunziert -selbst als produktiver Faktor positiv auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zurückwirkt. Ohne sozialen Ausgleich und eine garantierte soziale Absicherung gegen die sozialen Risiken und Wechselfälle des Lebens verliert ein marktwirtschaftliches Wettbewerbssystem an gesellschaftlicher Akzeptanz. Sorge um die Existenz und Angst vor sozialem Abstieg sind kein Leistungs-und Motivationsanreiz, sondern schwächen die Innovationskraft der Gesellschaft. Sozialpoli­ tik federt den technologischen und Strukturwandel ab und vergrößert damit die Bereitschaft der Beschäftigten, diesen Wandel aktiv mitzutragen, statt sich diesem aus Angst vor den sozialen Folgen entgegenzustemmen

Diese so positive Einschätzung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Sozialstaats Deutschland sollte allerdings nicht zu euphorischen Schlußfolgerungen verleiten. Relativierungen sind notwendig:

Erstens: Wenn der Anstieg der Lohn-und Lohn-nebenkosten durch die hohe Produktivitätssteigerung aufgefangen wird, dann heißt das auf der anderen Seite auch, daß die arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen dieser Produktivitätsentwicklung, die in einem radikalen Arbeitsplatzabbau in der Industrie bestehen, berücksichtigt werden müssen.

Zweitens: Die gesamtwirtschaftliche Durchschnittsentwicklung sagt noch nichts über die durchaus schwierige, ja existenzgefährdende Lage einzelner Branchen aus; der sich hier niederschlagende weltwirtschaftliche Strukturwandel wird unter dem Druck der Arbeitsmarktlage zu einer Bedrohung der Beschäftigten und gibt Anlaß, Verschlechterungen der Arbeits-und Sozialbedingungen jeglicher Art durchzudrücken.

Drittens: Auch wenn es richtig ist, daß ein ausgebauter Sozialstaat den „sozialen Frieden“ sichert, so zeigt doch die internationale Entwicklung in den letzten Jahren, daß der soziale Friede mittlerweile -nicht zuletzt wegen des Machtverlustes der Gewerkschaften -„preiswerter“ zu haben ist, wie dib Verhältnisse in den USA oder in Großbritannien belegen.

Viertens: Die ökonomischen Daten lassen sich auch so interpretieren, daß sich die Bundesrepublik Deutschland mitten in einem internationalen Wettbewerb um Deregulierung, Arbeitskostensenkung und Sozialabbau befindet, daß sie in ihm mithalten und ihre Position verteidigen kann, allerdings um den Preis einer kontinuierlich sinkenden Lohnquote und der Verschlechterung sozialer Leistungen. Eine Fülle von Indikatoren verweisen darauf, daß wir uns gerade in dieser Situation einer sozialpolitischen Abwärtsspirale befinden: Alle Länder sehen sich gezwungen mitzuziehen, aber keines kann sich auf Dauer verbessern. In diesem verhängnisvollen sozialpolitischen Abwer­ tungswettlauf ist die Bundesrepublik als große Exportnation und stärkstes Mitglied der EU Initiator und Motor und nicht etwa nur hilfloses Opfer.

Der Ausweg aus einer solchen Situation liegt weder in den Rezepten wirtschaftsliberaler Standortpolitik noch in Protektionismus und Abschottung vom Weltmarkt. Erfolgsaussichten bietet der Versuch, die auf nationalstaatlicher Ebene geringer werdende wirtschafts-und sozialpolitische Handlungsfähigkeit des Staates auf europäischer Ebene wiederherzustellen. Eine sozialstaatlich verfaßte, wirtschafts-, finanz-und sozialpolitisch handlungsfähige Europäische Union hätte gute Chancen, im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, auch in Konkurrenz mit Gesellschaften, die einem anderen Entwicklungstyp folgen als dem europäischen Sozialstaatsmodell.

Mit dem Verweis auf die Verteidigung und Weiterentwicklung des Sozialstaates im euopäischen Kontext wird man den Herausforderungen, vor die das Sozialstaatsmodell in der Bundesrepublik selbst gestellt ist, sicherlich nicht gerecht. Solange es nicht gelingt, die mittlerweile zur Glaubenslehre gewordene Auffassung zu revidieren, der Sozialstaat sei das entscheidende Hindernis für Innovationen, Wachstum, Beschäftigung und Standortstärke, bröckelt das politisch-moralische Fundament einer der Marktlogik entgegengesetzten und sie korrigierenden sozialstaatlichen Gestaltung der Gesellschaft. Der Sozialstaat verteilt Einkommen und Lebenslagen um und beansprucht dafür ein erhebliches Finanzvolumen. Es bedarf deshalb der Bereitschaft der Bevölkerung, die hohen Lasten, die ein ausgebautes Sozialsystem unweigerlich verursacht, mit den entsprechenden Einbußen im verfügbaren Einkommen auch zu tragen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn diejenigen, die glauben zu den Verlierern der Umverteilung, nämlich zu den Zahlern zu gehören, ohne einen entsprechenden Nutzen zu haben, orientieren sich vermehrt auf für sie vermeintlich oder tatsächlich kostengünstigere . private Vorsorgeformen.

In dieser Verengung des sozialpolitischen Denkens auf kurzfristige Kosten-Nutzenkalküle geht aber die eigentlich entscheidende Frage unter, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, welches Leitbild von gesellschaftlichem Zusammenhalt gelten soll. Die Debatte über die Zukunft des Sozialstaates führt damit zu der Frage nach der Einschätzung seines übergreifenden gesellschaftlichen, moralischen Nutzens in einer demokratischen Gesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. für viele: Norbert Berthold, Sozialstaat und marktwirtschaftliche Ordnung -Ökonomische Theorie des Sozialstaates, in: Karl-Heinz Hartwig (Hrsg.), Alternativen der sozialen Sicherung -Umbau des Sozialstaates, Baden-Baden 1997, S. 10 ff.; Rüdiger Soltwedel, Wettbewerb, Verantwortung und Solidarität -Soziale Marktwirtschaft als Erfolgsfaktor in einer zusammenwachsenden Welt, Gütersloh 1997; Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Bundestagsdrucksache 13/6200, S. 223 ff. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Cornelia Schurid und Norbert Berthold in diesem Heft.

  2. Vgl. Gerhard Bäcker, Welche Gesellschaft wollen wir? Leistungsgrenzen und Lebenschancen im Sozialstaat, in: Frank von Auer/Franz Segbers (Hrsg.), Markt und Menschlichkeit. Kirchliche und gewerkschaftliche Beiträge zur Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft, Reinbek 1995, S. 210 ff.

  3. Vgl. Christoph Wagner, Inszenierung einer Systemkrise, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1997) 9, S. 1062 ff.

  4. Vgl. Gerhard Bäcker/Thomas Ebert, Defizite und Reformbedarf in ausgewählten Bereichen der sozialen Sicherung, Düsseldorf 1996.

  5. Vgl. Gerhard Bäcker/Brigitte Stolz-Willig, Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Zukunftsaufgabe des Sozialstaats, in: dies. (Hrsg.), Kind, Beruf, Soziale Sicherung, Köln 1994.

  6. Vgl. Gerhard Bäcker, Sozialpolitischer Reformbedarf: Das Konzept der sozialen, bedarfsorientierten Grundsicherung, in: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), Armut -soziale Wirklichkeit in einem reichen Land?, München 1996. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Cornelia Schurid und Norbert Berthold in diesem Heft.

  7. Vgl. Wolfgang Schäuble, Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag?, in: Matthias Möhring-Hesse u. a. (Hrsg.), Wohlstand trotz alledem, München 1997, S. 201 ff.

  8. Vgl. Gerhard Bäcker/Brigitte Stolz-Willig, Vorstellungen für eine familienorientierte Arbeitswelt der Zukunft -Der Beitrag von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Nr. 30. 2, Bonn 1994.

  9. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch die Beiträge von Gerhard Mutz und Irene KUhnlein in diesem Heft.

  10. Vgl. Gerhard Bäcker, Sind die Grenzen des Sozialstaats überschritten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25-26/95, S. 15 ff.

  11. Vgl. Thomas Steffens, Die Zukunft der Gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Markt und Strukturkonservatismus, in: Prokla, (1997) 106, S. 29 ff.

  12. Vgl. Gerd Wagner, Perspektiven der sozialen Sicherung, in: Karl-Heinz Hartwig (Hrsg.), Alternativen der sozialen Sicherung -Umbau des Sozialstaates, Baden-Baden 1997.

  13. Vgl. Winfried Schmähl, ökonomische Grundlagen sozialer Sicherung, in: Bernd von Maydell/Franz Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, Neuwied 1996, S. 125 ff.

  14. Vgl. Hans-Jürgen Krupp/Joachim Weber, Pro und Kontra Grundrente -eine Analyse aus volkswirtschaftlicher Sicht, in: Deutsche Rentenversicherung, (1997) 3-4, S. 205 ff.

  15. Vgl. Ralf Köddermann, Sind Löhne und Steuern zu hoch?, in: IFO-Schnelldienst, (1996) 20, S. 6 ff.; Claus Hof-mann, Lohnstückkosten: Deutsche Wettbewerbsvorteile, in: Bundesarbeitsblatt, (1996) 11, S. 5 ff.

  16. Vgl. Bert Rürup, Die Marktwirtschaft des Sozialen nicht berauben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Juni 1996.

Weitere Inhalte

Gerhard Bäcker, Dr. rer. pol., geb. 1947; Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Sozialpolitik an der Fachhochschule Niederrhein in Mönchengladbach, Fachbereich Sozialwesen. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Brigitte Stolz) Zwischen Beruf und Pflege -Betriebliche Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, in: Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Band 106. 2, Stuttgart 1997; (zus. mit Walter Hanesch) Arbeitnehmer und Arbeitnehmerhaushalte mit Niedrigeinkommen in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1997.