Alltägliche Lebensführung im ostdeutschen Transformationsprozeß
Margit Weihrich
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Zusammenfassung
Entgegen der landläufigen Annahme, der ostdeutsche Transformationsprozeß folge einer gerichteten Entwicklung, in deren Verlauf sich die DDR-Gesellschaft der bundesrepublikanischen angleiche, wird hier die prinzipielle Offenheit dieses Prozesses betont. Denn einer qualitativen Paneluntersuchung zufolge, in der die Handlungen der betroffenen Akteure im Mittelpunkt der Analyse stehen, passen sich die Menschen in den neuen Bundesländern nicht einfach den Erwartungen an, die das neue System an sie stellt. Vielmehr orientieren sie sich bei ihren Alltagsentscheidungen an ihrer alltäglichen Lebensführung -einem Regelsystem, das sie über die Zeit hinweg entwickelt haben und das ihren Handlungen einen Zusammenhang gibt. Wir haben damit etwas vor uns, was über die Turbulenzen des Transformationsprozesses hinweg stabil bleibt: Die Akteure ziehen ihre alltägliche Lebensführung als Richtschnur für ihre Entscheidungen im neuen System heran. Das aber hat Folgen: Letztendlich entscheiden die neuen Institutionen darüber, ob die etablierte alltägliche Lebensführung zum neuen System „paßt“.
I. Einleitung
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unmittelbar Vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Ich stelle dieses Marx-Zitat meinem Beitrag voraus, weil dieser zum Thema hat, daß sich Menschen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und damit einhergehenden Erwartungen nicht umstandslos anpassen, sondern eigensinnig damit verfahren. Obwohl ich betone, daß Menschen voluntaristische Akteure sind, ihr Handeln also nicht determiniert ist, nehme ich ernst, was Marx sagt: Ihr Eigensinn unterliegt nicht vollends freien Stücken. Sie müssen sich tagaus, tagein und ihr Leben lang mit „Vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ auseinandersetzen, mit ganz unterschiedlichen Situationen und mit allzuoft auch ganz widersprüchlichen Verhaltenserwartungen, so daß es nicht selten passiert, daß die Umstände die eigenen Vorhaben durchkreuzen. Wie aber verfahren Akteure mit dieser Situation, oder, anders gefragt, wie gelingt es ihnen, mit ihrem Leben zurechtzukommen?
Meine These lautet, daß Akteure für all die Handlungsentscheidungen, die sie in den verschiedenen Sphären des Alltags -in Beruf und Familie, in der Freizeit und im Freundeskreis -und entsprechend eigenen Ansprüchen oder fremden Erwartungen Tag für Tag zu treffen haben, ein System von Entscheidungsregeln entwickeln, das ich . Alltägliche Lebensführung'nenne. Mit diesem Regelsystem haben sie eine Richtschnur in der Hand, die es ihnen erleichtert, Handlungsentscheidungen zu treffen, denn auf diese Weise müssen sie nicht in jeder Situation aufs neue nach Anhaltspunkten für ihre Entscheidungen suchen. Durch den Einsatz eines solchen über die einzelnen Handlungssituationen hinweg stabilen Regelsystems stehen die einzelnen Handlungen eines Akteurs in einem Zusammenhang, den man rekonstruieren kann.
Im hier untersuchten Fall sind die Bürger und Bürgerinnen der neuen Bundesländer die Akteure; sie müssen ihre Handlungsentscheidungen jetzt innerhalb eines für sie neuen Institutionensystems treffen. Wenn meine These stimmt, richten sich Akteure auch bei Handlungsentscheidungen in ungewohnten Situationen nach ihren selbst erstellten Lebensführungsregeln; für den hier zu untersuchenden Fall bedeutet dies, daß sich unsere Akteure bei ihren Entscheidungen an Regeln orientieren, die sie unter Bedingungen erworben haben, die es nun nicht mehr gibt. Da diese Regeln nicht nur Entscheidungen erleichtern, sondern auch Handlungsprobleme lösen sollten, stellt sich die Frage, ob dies den Akteuren gelingen kann, wenn sie sich an Lebensführungsregeln halten, die unter ganz anderen Bedingungen etabliert worden sind.
Ich werde im Folgenden herausarbeiten, wie sol-che Lebensführungsregeln aussehen und damit den Blick auf etwas richten, von dem ich annehme, daß es in den Turbulenzen des Transformationsprozesses stabil geblieben ist; ich werde untersuchen, wie alltägliche Lebensführung in neuen Situationen praktiziert wird, und ich werde ein Modell vorschlagen, mit Hilfe dessen man etwas über die Folgen der Anwendung eines solchen Regelsystems aussagen kann -über die Folgen für die Akteure selbst und für das neue Institutionensystem. Auf diese Weise machen die Menschen in der Tat ihre eigene Geschichte; wenn sie aber ihre eigene Geschichte machen, hat dies zur Konsequenz, daß das Ergebnis des Transformationsprozesses offenbleibt.
Ich werde in folgenden Schritten Vorgehen: In Kapitel II stelle ich meine Studie vor, die das empirische Material für meine Überlegungen liefert, in Kapitel III charakterisiere ich das Paradigma, von dem sich Transformationsforschung und Politik lei-ten lassen: die Erwartung einer gerichteten Entwicklung auf der Makroebene. Demgegenüber schlage ich in Kapitel IV vor, Prozessen auf der Makroebene eine Mikrofundierung zu unterlegen, indem ich die Handlungen der Akteure in die Analyse einbeziehe, und führe aus, warum diese Handlungen sinnvollerweise als ein Handlungszusammenhang begriffen werden sollten, dem ein Regelsystem unterliegt. Wie diese alltägliche Lebensführung aussehen kann und welche Rolle sie im Umbruch spielt, arbeite ich in Kapitel V anhand eines Blicks in meine Fallanalysen heraus. In Kapitel VI schließlich baue ich meine Ergebnisse in ein allgemeines Modell soziologischer Erklärungen ein und betone die Rolle, die Selektionsprozesse im Transformationsprozeß spielen.
II. Die Studie
Die empirische Grundlage meiner Überlegungen ist eine qualitative Paneluntersuchung der alltäglichen Lebensführung im ostdeutschen Transformationsprozeß, die ich im nachwendlichen Leipzig durchgeführt habe. Mit Hilfe wiederholter erzählungsgenerierender Leitfadeninterviews mit Leipziger Bürgerinnen und Bürgern bin ich der Frage nachgegangen, auf welche Weise Personen in ihrem alltäglichen Handeln in einer Situation verfahren, in der nichts mehr sicher ist, und welche Folgen ihr Handeln hat Die Interviewpartnerinnen und -partner waren verschiedenen Alters und gehörten unterschiedlichen Berufsgruppen an. In einem theoriegeleiteten Sampling wählte ich aus 40 im Frühjahr 1991 durchgeführten Interviews 12 Interviewpartnerinnen und -partner aus, die ich ein bzw. zwei Jahre später, als sich erste Konsolidierungen abzeichneten, ein zweites Mal interviewte. In detaillierten Fallanalysen arbeitete ich heraus, wie diese Personen mit all den Chancen und Zumutungen, die ihnen in diesen Jahren begegneten, verfahren sind. Meine Interviewpartnerinnen und -partner waren mit Kurzarbeit konfrontiert oder wechselten den Arbeitsplatz, gründeten Unternehmen oder lernten einen neuen Beruf, hatten neue Arbeitszeiten und mußten ihren Alltag mit arbeitslosen oder überarbeiteten Partnern oder Partnerinnen organisieren. Neben der Arbeitssphäre war der gesamte Alltag von Ver-änderungen betroffen. Das importierte Schulsystem, die neue Parteienlandschaft, die veränderten Einkaufs-und Freizeitmöglichkeiten und die neue Bürokratie beschäftigten meine Interviewpartner und -Partnerinnen; der Verlust langfristiger Planungshorizonte und die damit verbundene Unsicherheit brachte sie ins Grübeln; man entdeckte nachträglich, daß man zu DDR-Zeiten Entscheidungsalternativen gehabt habe, die man damals nicht sah; man lernte, sich die Folgen seines Handelns selbst zuzuschreiben, und man setzte sich intensiv mit dem Gesellschaftssystem und seinem Scheitern auseinander, in dem man sein bisheriges Leben verbracht hatte. Alles schien im Fluß.
Doch inmitten all dieses Trubels gibt es Beständiges.
Frau März, eine meiner Interviewpartnerinnen, die nach zwischenzeitlichem beruflichen Abstieg wieder eine einflußreiche Position in einem Dienstleistungsunternehmen innehat, charakterisiert im Wiederholungsinterview ihre Situation über den Umbruch hinweg so: „Gleichgebliebenist eigentlich gar nichts“, meint sie, „aber verändert, verändert hat sich eigentlich auch nichts. “ Und ein anderer Interviewpartner, Herr Tikovsky, den ich in diesem Text ausführlicher zu Wort kommen lassen werde, stellt im ersten Interview, obgleich gerade in Null-Stunden-Kurzarbeit und ohne große Aussicht auf Weiterbeschäftigung, die folgende Prognose für sein persönliches Leben: „Nun wird alles ein bißchen anders. Aber ich glaube, so wesentlich anders auch nicht“. Diese Paradoxie hat, wie ich ausführen werde, nicht nur mit dem Bedürfnis nach Kontinuität in turbulenten Zeiten zu tun, sondern auch damit, daß wir mitten im rasanten sozialen Wandel mit der alltäglichen Lebensführung etwas vor uns haben, was stabil geblieben ist; und das hat Folgen für die Handlungsspielräume des Akteurs und für die Etablierung des neuen Institutionensystems.
III. Transformationsforschung, Politik und Modernisierungstheorie
Entgegen einer solchen Stabilitätsannahme orientiert sich die äußerst produktive sozialwissenschaftliche Forschung zum ostdeutschen Transformationsprozeß großenteils an einer Transformationsfigur, die Rolf Reißig als „Transfer -Anpassungsprozesse -Angleichung“ charakterisiert In Ostdeutschland bleibt nichts stabil. Das westdeutsche Institutionensystem wurde auf die neuen Länder übertragen, und das Ergebnis dieser Übertragung sollte nichts anderes sein als eine vergrößerte Bundesrepublik. Der Maßstab, der zur Einschätzung des Gelingens des Transformationsprozesses herangezogen wird, legt die Werte des westdeutschen Systems zugrunde und beschränkt sich auf die Messung ihrer Realisierung. Wir haben es hier mit der Beschreibung eines Prozesses auf der Makroebene zu tun, dessen Ziel festzustehen scheint.
Dasselbe Transformationsmodell ist die Grundlage politischer Entscheidungen. Das Institutionensystem der DDR wurde aufgelöst, das der Bundesrepublik in seiner Gültigkeit auf die neuen Länder -die damit entstanden -ausgedehnt und mit seiner Hilfe in Gestalt des bundesrepublikanischen Wahlsystems die Zustimmung sichergestellt. Durch einen Staatsvertrag wurde der Geltungsbereich der neuen Institutionen geregelt, und ihre Träger siedelten sich in den neuen Bundesländern an. Über kurz oder lang, so die Erwartung, würde sich aus der DDR-Gesellschaft eine bundesrepublikanische entwickeln. Auch hier behandelt man den Transformationsprozeß als ein makrostrukturelles Geschehen mit definiertem Ziel Als wichtigster Indikator seines erwarteten Verlaufs dient die Entwicklung der Arbeitslosenquote in den neuen Ländern, von der allerdings schon sehr früh feststand, daß sie sich der in den alten Ländern nicht so recht angleichen würde
Grundlage dieser Hoffnung auf Angleichung in Transformationsforschung und Politik ist die zugrundeliegende Orientierung an modernisierungstheoretischen Annahmen. Die Integration der DDR-Gesellschaft in die demokratische und soziale Marktwirtschaftsgesellschaft mit ihren als typisch erachteten Verteilungen wird nicht nur als ein politischer Auftrag, sondern als eine gerichtete Entwicklung betrachtet, die lediglich bestimmter Anstöße bedarf Folgerichtig werden unerwartete Entwicklungsverläufe als prinzipiell vermeidbare Anpassungsschwierigkeiten diagnostiziert und müssen sich diverse Therapievorschläge gefallen lassen, worunter auch das geduldige Warten auf die prognostizierte Zustandsverbesserung zu fin-den ist Neuere modernisierungstheoretisch geleitete Abhandlungen haben die unübersehbaren Schwierigkeiten bei der Erreichung des Transformationsziels zwar mitberücksichtigt, sehen sie aber als prinzipiell unproblematische, weil vorübergehende Anpassungs-und Folgeprobleme des Ordnungswechsels an Selbstverständlich orientiert sich die Politik bei ihren Entscheidungen am modernisierungstheoretischen Paradigma der Transformationsforschung und setzt ihr Maßnahmenbündel unverdrossen mit der Hoffnung ein, daß sich die Lebensverhältnisse in den neuen endlich an die in den alten Länder anglichen. „Deutsche Einheit vollenden“ heißt der entsprechende Punkt im aktuellen Koalitionsvertrag. Der neue Bundeskanzler, der den . Aufbau Ost eben zur Chefsache erklärt hat, sollte sich erinnern lassen, daß das Unternehmen Transformation doch „wesentlich von der Absicht getragen war, die Abkehr vom Plan und vom Plandenken zu realisieren“ Denn die Denkfigur eines Institutionentransfers auf der Makroebene, der ein bestimmtes Ergebnis erzielen müsse, gerät durch die empirischen Fakten langsam in Bedrängnis. Diese Zweifel betreffen nicht nur den wirtschaftlichen . Aufbau Ost. Im öffentlichen Diskurs lassen sich kritische Stimmen vernehmen, die anmahnen, daß der Institutionentransfer über die Köpfe der Menschen hinweg vor allem nicht hingereicht hätte, Demokratie zu implementieren; man liest dies u. a. an der . neuen Rechten und ihrer konstatierten Verankerung in der Bevölkerung ab
Doch auch im gängigen Transformationsmodell stecken Annahmen über die Probleme der Akteure. Man ist sich in der Diagnose weitgehend einig, daß „eine ganze Gesellschaft mit ihren Werten und Nor-men durcheinandergewirbelt“ worden ist, „wichtige Wissensbestände nutzlos geworden (sind) und Hintergrundwissen, Routinen und Selbstverständlichkeiten des Alltagstrotts ihre Orientierungskraft verloren haben“ Das Rezept für eine neue Ordnung ist einfach: Den betroffenen Akteuren wird Anpassung verschrieben. Wo der verordnete Anpassungsprozeß nicht gelingt, fördert die Anamnese Modernisierungsunterschiede zwischen Ost und West zutage und für die Menschen in Ostdeutschland den Befund, diese seien mit „mentalen oder habituellen Dispositionen" behaftet, die „nun sozialmarktwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Transformationsprozesse blockieren“ Hierauf wird reagiert:
Mittlerweile gewinnt ein Szenario an Popularität, das mit dem Schlagwort „Ostalgie“ das Bemühen der Ostdeutschen bezeichnet, eine kulturelle Selbständigkeit zu etablieren Die zunehmende Sensibilisierung für Lebensstilunterschiede in Ost und West habe, so Michael Rutschky, zum Ergebnis, daß „erst jetzt die DDR entsteht“
Inzwischen greift jenseits dieser Erwartung gerichteter Entwicklungen und der Suche nach Gründen für diese Verzögerung die Einsicht Raum, daß es sich bei den immer deutlicher zu beobachtenden Turbulenzen und Gegenläufigkeiten nicht nur um das „Aufholen eines Modernisierungsrückstandes“ handelt, „um das letzte Stück eines langen, entbehrungsreichen und für viele auch leidvollen Umweges in die moderne Gesellschaft“, womit Rainer Geißler 1992 die Betroffenen zu trösten wußte. Man beginnt zu erkennen, daß Verlauf und Ziel des Transformationsprozesses nicht vorprogrammiert sein müssen, sondern prinzipiell offen sein können, hängt dessen Gestalt doch davon ab, was Akteure tun, mit wem sie koalieren und welche kollektiven Folgen ihr Handeln hat Diese theoretische Entscheidung möchte ich stützen nicht aber die aktuelle Propagierung, man solle bestimmte Situationen oder Phasen innerhalb des Transformationsprozesses mit verschiedenen soziologischen „Theorien“ untersuchen. Demnach sollten Theorien rationaler Wahl eher Revolutionen erklären, Systemtheorie für Reproduktionen bzw. Beständigkeiten zuständig sein und verstehende Handlungstheorie , Erblasten'bzw. . Mitgifte theoretisch fassen An der Verbreitung einer solchen „multiplen Paradigmatase“, an der nach Niklas Luhmann solche Theoriearbeit leidet und die die wechselseitige Kritik verschiedener Herangehensweisen und damit eine Verbesserung von Theorien verhindert, möchte ich mich nicht beteiligen. Ich nehme vielmehr eine scheinbar vergessene Anregung auf, die Bernd Giesen und Claus Leggewie bereits 1990 gemacht haben: Sie forderten in einer programmatischen Schrift dazu auf, „das Verhältnis zwischen Institutionen und Alltagshandeln zu untersuchen“ und zu fragen, auf welche Weise „angesichts zusammenbrechender oder grundlegend veränderter Institutionen noch Sicherheit und situationsübergreifendes Vertrauen erzeugt“ werden können Solche Fragestellungen innerhalb des „Experiments Vereinigung“ sollten einen dringend nötigen Paradigmenwechsel in Richtung einer Mikrofundierung der Sozialtheorie vorantreiben; anstatt die klassischen Gegensätze wie „Mikro und Makro, System und Wandel, Fortschritt und Krise“ weiterzubedienen, empfehlen sie, sich auf „die Strukturen sozialer Beziehungen als eigentliches Terrain der Soziologie“ zu konzentrieren
IV. Alltägliche Lebensführung
Will man den Blick von den verordneten Anpassungsprozessen und vom festgeschriebenen Ziel abwenden und ihn auf die Bemühungen der Akteure richten, mit ihrem Leben mitten im Umbruch zurechtzukommen, muß man die Makroebene, auf der die oben charakterisierte Transformationsforschung angesiedelt ist, für einen entscheidenden Analyseschritt verlassen. Denn Erklärungen, die auf der Makroebene verbleiben, können nicht zufriedenstellen: Wie denn wollen wir erklären, auf welche Weise die Bürger und Bürgerinnen in den neuen Ländern die sozialstrukturellen Verteilungen . produzieren, die für die Bundesrepublik gelten? Zum ersten müßten sie den Verhaltenserwartungen entsprechen, die das neue Institutionensystem an sie stellt. Vorausgesetzt, sie wollten das -woher würden die Akteure wissen, was in einem System, das sich selbst im Transformationsprozeß befindet, in welchen Situationen von ihnen erwartet wird? „Dort so und hier so, heute so, morgen so, erst soviel, dann soviel, das macht einen wahnsinnig“, beschreibt eine Interviewpartnerin die Situation, in der sie tagaus, tagein ihre Handlungsentscheidungen treffen muß, und erinnert uns damit eher an den von Emile Dürkheim beschriebenen Zustand der Anomie als an eine institutionell geregelte gesellschaftliche Ordnung Und zum zweiten: Wie wollen Akteure und Institutionen sichergehen, daß ihre Handlungsziele nicht von den aversiven Folgen kollektiven Handelns durchkreuzt werden? Um nur ein Beispiel zu erwähnen:
Was passiert mit einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich in großer Zahl für die propagierte berufliche Selbständigkeit entscheiden? Tun sie dies dem Angebot entsprechend vor allem im Versicherungsgewerbe, wird ein großer Teil seine Freibe-ruflichkeit aufgrund der starken Konkurrenz kaum aufrechterhalten können.
Stellen wir also die Behauptung, die Bürger und Bürgerinnen der neuen Länder würden in ihrem Handeln einen Anpassungsprozeß vollziehen, auf den Prüfstand und rücken das, was die Akteure tun, in den Vordergrund.
Wenn man nicht scheinbar erratische Einzelhandlungen analysiert, sondern die Handlungen einer Person über verschiedene Zeitpunkte und Handlungssituationen hinweg in ihrem Zusammenhang betrachtet, haben wir, so der zentrale Befund meiner Studie, inmitten der Turbulenzen des Alltags in der Transformationsgesellschaft etwas Stabiles vor uns: die alltägliche Lebensführung unserer Akteure. Wenn wir den Blick nicht nur darauf richten, was sie tun, sondern auch darauf, wie sie es tun, entdecken wir, daß unsere Akteure in Auseinandersetzung mit all den ganz verschiedenen und zum Teil widersprüchlichen Handlungsanforderungen, die ihnen in der DDR Tag für Tag begegnet sind, Verfahrensregeln entwickelt haben; diese werden beibehalten, auch wenn die Bedingungen, unter denen sie etabliert worden sind, verschwunden sind. Müssen Entscheidungen in unbekannten Situationen getroffen werden, wird die alltägliche Lebensführung als, Entscheidungshilfe'herangezogen.
Auf die Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ um Günter Voß geht die Entdeckung zurück, daß eine Person ihre Tätigkeiten, die sie in den ganz unterschiedlichen Sphären des Alltags unternimmt, in Einklang zu bringen versucht diese Alltagsorganisation ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, sondern eine eigenständige Leistung der Person. Jede Person muß ihre Tätigkeiten zu einem Arrangement binden; dieses Arrangement wurde von der Projektgruppe als alltägliche Lebensführung bezeichnet und „arrangiert in gewisser Weise, wo, wann und wie lange, mit welchem Inhalt, mit wem, warum und mit welchen Hilfsmitteln man in den verschiede-nen Bereichen tätig ist“ Nicht die Tätigkeiten in den einzelnen Bereichen des alltäglichen Lebens wie Arbeit, Familie, Freizeit usw. stehen im Mittelpunkt des Konzepts, sondern die Art und Weise, wie diese Tätigkeiten miteinander verbunden werden. Alltägliche Lebensführung meint also das vom Aktor selbst hergestellte Arrangement seiner Tätigkeiten in den verschiedenen Sphären des All-tags. Schon damals wurde unterstellt, daß eine gewisse Selbstläufigkeit eines einmal erzielten Arrangements bestehen müsse. Günter Voß spricht von der alltäglichen Lebensführung als einem „System sui generis“, das nicht so leicht außer Kraft zu setzen ist, selbst wenn die Person das möchte. Diese Stabilitätsthese wurde empirisch nicht weiterverfolgt; die Forschungsgruppe hat vielmehr nach typischen Mustern alltäglicher Lebensführung gesucht, die mit bestimmten beruflichen Anforderungen korrespondieren und letztendlich eine modernisierungstheoretische These verfolgt: Die alltägliche Lebensführung würde durch aktuelle Entwicklungen der Moderne wie flexible Arbeitszeitmuster, die zunehmende Unsicherheit der Lebensplanung und die abnehmende Selbstverständlichkeit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungsmuster immer mehr selbst zur Arbeit
Eine Paneluntersuchung über alltägliche Lebensführung in einer Zeit, in der nichts mehr sicher ist, erlaubt demgegenüber einen empirischen Nachweis der Stabilität alltäglicher Lebensführung und die Rekonstruktion der Folgen ihrer Anwendung auf neue Handlungssituationen. Anhand eines Blicks in meine Fallgeschichten werde ich versuchen, diese Stabilität zu plausibilisieren, und zeigen, was es bedeutet, daß alltägliche Lebensführung nicht so leicht außer Kraft gesetzt werden kann. Das Voßsche „System sui generis“ wird hierzu in ein handlungstheoretisches Modell transformiert, dem eine „Rationalität sui generis“ unterliegt. Wenn man empirisch herausarbeiten kann, worin diese Rationalität liegt, und ihre Etablierung und ihre Anwendungsfolgen theoretisch erklären kann, könnte man es rechtfertigen, dem Konzept der alltäglichen Lebensführung jenen Rang einer „Vermittlungskategorie“ zwischen gesellschaftlichen Institutionen und individuellem Handeln, den die Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ propagiert zuzuweisen.
V. Ein Fallbeispiel: Die Null-Stunden-Kurzarbeit
Ich will dies im Folgenden an einem Fallbeispiel versuchen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse im letzten Kapitel in ein Modell soziologischer Erklärungen einbauen. Mein Fallbeispiel ist die Situation der Null-Stunden-Kurzarbeit in der Industrie, in der sich einige meiner Interviewpartner befanden. Null-Stunden-Kurzarbeit wurde in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wende in großem Ausmaß als ein arbeitsmarktpolitisches Instrument eingesetzt und zeichnete sich für die Betroffenen dadurch aus, daß eine Situation geschaffen wurde, in der man zwischen allen Stühlen saß: Obwohl man seinem Betrieb weiter angehörte, war man faktisch arbeitslos; da man auf eine Weiterbeschäftigung zumindest hoffen konnte, war man nicht gezwungen, nach einem neuen Arbeitsplatz zu suchen Diese Situation habe ich als ein Moratorium beschrieben, als eine Situation zwischen einem , Nicht mehr'und einem , Noch nicht, in der wichtige Bedingungen, an denen unsere Interviewpartner bislang ihren All-tag ausrichteten, verschwunden sind, ohne daß neue bereits institutionalisiert sind Was würden die Betroffenen in einer solchen Situation tun? Muß der gesamte Alltag neu organisiert werden, und wenn ja, nach welchen Gesichtspunkten würde eine solche Umstrukturierung unternommen? Herr Tikovsky, ein Industriearbeiter Ende 30, ist zum Zeitpunkt meines ersten Interviews seit einem halben Jahr in Null-Stunden-Kurzarbeit. Seine Frau hat einen neuen Arbeitsplatz, und Herr Tikovsky ist den ganzen Tag zu Hause. Ich habe mir erzählen lassen, wie er sein Leben zu der Zeit geführt hat, als er seinen Arbeitsplatz noch hatte, und ich habe mir berichten lassen, womit er nun seine Zeit verbringt. Vieles von dem, was er tut, hat sich verändert; doch wenn man die Art und Weise vergleicht, wie Herr Tikovsky mit seinen früheren und seinen jetzigen Lebensumständen verfahren ist bzw. verfährt, findet sich etwas, was gleichgeblieben ist: Man kann die Regeln rekonstruieren, nach denen sich Herr Tikovsky bei seinen Handlungsentscheidungen richtet.
Herrn Tikovskys alltägliche Lebensführung dreht sich früher wie heute um seine sozialen Beziehungen. Die Kontakte mit der Familie, mit Freunden und Kollegen sind Herrn Tikovskys erste Präferenzen und damit wichtiger als der Arbeitsinhalt oder gar die Karriere; mit einem frühen Parteiaustritt, für den er unter anderem den Grund angibt, er habe über das, was in den Parteiversammlungen besprochen wurde, nicht mit seinen Kollegen sprechen sollen, hatte er eine Karriere ohnehin abgewählt. Um diese Präferenzen zu realisieren, braucht Herr Tikovsky disponible Zeit und Sozialkapital; letzteres setzt sich zusammen aus persönlichen Ressourcen wie Herrn Tikovskys ausgeprägter Empathiefähigkeit und infrastrukturellen Ressourcen wie dem Haus, in dem Herr Tikovsky seit seiner Geburt wohnt, und dem Schrebergarten sowie der Eckkneipe nebenan, wo er sich mit seinen Gartenfreunden und Arbeitskollegen trifft; wichtig ist ihm auch die Stadt, in der er viel unterwegs ist und von der er sagt, „nein, nie“ würde er von hier Weggehen, „noch nie hat das für mich in Frage gestanden“. Und nicht zuletzt war es sein Betrieb, in dem Herr Tikovsky seine Kontaktbedürfnisse befriedigen konnte: „Da hast du einen ganzen Tag gebraucht, um dich von allen zu verabschieden“, sagt er -damals, als die Produktion eingestellt wurde.
In der Zeit der Null-Stunden-Kurzarbeit trifft sich Herr Tikovsky etwas seltener, aber so oft es geht, mit Freunden, diskutiert leidenschaftlich über Politik und gesellschaftliche Entwicklungen, wobei er aufgrund seiner guten Informiertheit auch Verhaltensratschläge geben kann und „so die andern ein bißchen aufbaut“. Seine Arbeitskollegen vermißt er sehr: „Meine Frau sagt immer, mittwochs hab ich die beste Laune, da ist nämlich immer Betriebsversammlung.“ Dabei kann Herr Tikovsky seine verfügbare Zeit -bis endlich Frau und Kinder nach Hause kommen -einigermaßen für sich sinnvoll nutzen: Er liest sich mit Begeisterung durch die neue Presselandschaft, holt sich via Talkshows fiktive Gesprächspartner ins Wohnzimmer und übernimmt die gesamte Hausarbeit. Letzteres freilich ist kein Novum für Herrn Tikovsky; Hausarbeit hat er auch früher schon gemacht hier hat sich zwar der Umfang, nicht aber der Inhalt der Tätigkeit geändert. Was seine Zukunftspläne betrifft, läßt er sich von der Hoffnung auf einen Aufschwung tragen und sucht noch nicht nach einem neuen Arbeitsplatz. Dies ist eine durchaus rationale Entscheidung vor dem Hintergrund seiner Präferenzen, wäre es ihm doch das liebste, in seinem Betrieb weiterzuarbeiten, um seine Sozialkontakte nicht zu verlieren. Wie oben zitiert, bringt Herr Tikovsky diese Stabilität inmitten von Veränderungen selbst auf den Punkt: „Nun wird alles ein bißchen anders. Aber ich glaube, so wesentlich anders auch nicht“, sagt er.
Das bedeutet, und das ist mein erstes Ergebnis, daß Herr Tikovsky mit seiner etablierten Lebensführung eine Richtschnur in der Hand hat, die seine Handlungsfähigkeit auch in Situationen erhält, in denen Handlungsentscheidungen unter großen Unwägbarkeiten getroffen werden müssen Damit ermöglicht die Aufrechterhaltung der alltäglichen Lebensführung die Stabilität der Person. Wie meine Empirie zeigt, werden durch die Persistenz alltäglicher Lebensführung auch institutioneile Zusammenhänge aufrechterhalten: geschlechtsspezifische Arbeitsteilungsmuster, Arbeitszusammenhänge in einem nicht mehr produzierenden Betrieb, die Schrebergartenbrigade oder auch alte Netzwerke in neuer Form, wie Journalistenstammtische oder PDS-Ortsvereine. Auf diese Weise werden antizipierbare Sicherheiten für Bezugspersonen produziert, und man kann durchaus so weit gehen und die These aufstellen, daß auch das neue Institutionensystem an solche Institutionalisierungen besser anschließen kann als an voneinander unabhängige Einzelentscheidungen individueller Akteure. Dieser Beitrag alltäglicher Lebensführung zur Stabilität des Gesellschaftssystems über den Systemwechsel hinweg wäre freilich eine nichtintendierte Folge des individuellen Einsatzes alltäglicher Lebensführung.
In allen Interviews, die ich ein bzw. zwei Jahre später, als das Moratorium zu Ende war, mit denselben Personen geführt habe, finden sich die in den ersten Interviews rekonstruierten Regeln alltäglicher Lebensführung wieder Auch der inzwischen arbeitslose Herr Tikovsky orientiert sich weiterhin an der Wichtigkeit seiner Sozialkontakte. So sieht er die Motivationslehrgänge des Arbeitsamts als eine Möglichkeit, die regelmäßigen Kontakte zu seinen Arbeitskollegen wiederherzustellen; er geht zu den Montagsdemos, die nun die IG Metall veranstaltet, und nutzt sie als Diskussionsforum, nicht ohne sich über seine früheren Mitstreiter vom Neuen Forum zu beklagen: „Die ham’sich zurückgezogen und reden untereinander mit sich, aber nicht mehr mit den anderen.“ Nach wie vor übernimmt er die ganze Hausarbeit und verbringt viel Zeit mit seiner Familie auf dem Balkon und im Schrebergarten. Der erste Befund, nach dem alltägliche Lebensführung als Entscheidungsregel beibehalten wird, wird durch die Wiederholungsinterviews gestützt; man sieht aber auch, und dies ist das zweite Ergebnis, das ich hier vorstellen will, daß die etablierte alltägliche Lebensführung schon im Vorfeld der Entscheidung als Wahrnehmungsinstrument der neuen Handlungssituation dient. Die lebensführungsspezifische Rahmung der neuen Situation schließt den Handlungsspielraum, ermöglicht damit aber überhaupt erst die Anwendung einer Entscheidungsregel. So nimmt unser Herr Tikovsky die gesellschaftlichen Veränderungen in erster Linie als einen Verlust von Sozialkontakten wahr; daher gilt es, Kontakte zu pflegen, so gut es geht.
Einen neuen Arbeitsplatz indes hat Herr Tikovsky bislang nicht gefunden, und es ist nicht mehr unstrittig, ob die Aufrechterhaltung der etablier-ten Lebensführung für Herrn Tikovsky weiterhin von Nutzen ist. Denn nach dem Ablauf des Moratoriums rächt sich für Herrn Tikovsky der bislang rationale Verzicht auf Weiterqualifizierung; in seiner Branche zählt er nun zu den Risikogruppen des Arbeitsmarktes. Seinen Wunsch, im sozialen Bereich zu arbeiten und sich so die sozialen Beziehungen selbst zum Arbeitsgegenstand zu machen, kann er wegen fehlender formaler Vorbildung nicht realisieren; auf ein früheres Angebot von seiten der Partei hatte er verzichtet. Selbst sein Einfühlungsvermögen erweist sich als ein Nachteil bei der Arbeitssuche: Er scheut offene Konkurrenz, gibt dann lieber gleich auf und beruhigt sich mit einer Relativierung seiner Situation: „Ja was nützt mir denn eine Arbeit, wenn wir wieder ein rechter Staat werden und uns nicht um die dritte Welt kümmern. Mir geht’s ja noch gut.“ Hier nun rückt die Anschlußfähigkeit der alltäglichen Lebensführung an das neue Institutionensystem in den Blick. Herrn Tikovskys Lebensführung macht sich, was die Teilnahmechancen auf dem Arbeitsmarkt betrifft, als Restriktion bemerkbar.
Für einen anderen Interviewpartner, Herrn Flieger, stellt seine etablierte Lebensführung hingegen eine Ressource dar. Herr Flieger, zu DDR-Zeiten Politoffizier bei der Nationalen Volksarmee und damit gelernter Ideologieverkäufer, konnte mit seiner Lebensführung an einer lukrativeren Stelle andocken. Schon immer bestrebt, „aus dem Möglichen das Möglichste rauszuholen“, was Lebensstandard und soziale Anerkennung betrifft, bietet sich das Versicherungsgewerbe bei seiner Qualifikation geradezu an. Statt Ideologie verkauft er nun Versicherungen, und das rechnet sich auch noch direkt. Seine Frau stellt derweil das „Hinterland“, auch das eine Ressource, auf die Herr Tikovsky und mit ihm alle Frauen meines Samples nicht zurückgreifen können. Das dritte Ergebnis meiner Studie ist demnach die Tatsache, daß die etablierten Lebensführungsmuster zur Ressource oder Restriktion bei der Auseinandersetzung mit den neuen Bedingungen geworden sind. Dabei ist es vorab nicht bestimmbar, welche der etablierten Regulierungsvorschläge für Alltagsentscheidungen sich als Ressourcen und welche sich als Restriktionen erweisen werden.
Meine Befunde widersprechen damit der Auffassung, daß sich die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer den Anforderungen des neuen Institutionensystems aktiv anpassen werden und dies auch können. Sie lassen vielmehr den Schluß zu, daß für die Anschlußfähigkeit an das neue Institutionensystem nicht Anpassungsprozesse, sondern Selektionsprozesse die entscheidende Rolle spielen, und das hat seinen Grund darin, daß die alltägliche Lebensführung nicht umstandslos außer Kraft gesetzt wird. Auch wo Herr Tikovsky sieht, daß sich seine Lebensführung als eine Restriktion erweist, verändert er sie nicht, sondern tröstet sich lieber damit, daß er sich noch schlimmere Szenarios ausmalt. Und auch Herr Flieger hat sich nicht für das „Selbstunternehmertum“ nachsozialisieren lassen, wie in der Transformationsdiskussion angenommen wird er besaß die entsprechenden Ressourcen bereits. Die logische Folge dieser Persistenz ist, daß es die neuen Institutionen sind, die als Selektoren wirken. So konnte Herr Tikovsky bislang lediglich über die Arbeitslosigkeit ans neue System anschließen, ganz im Gegensatz zu Herrn Flieger, der seine alltägliche Lebensführung ebensowenig verändert hat wie Herr Tikovsky -nur paßt diese besser zu einer Karriere unter den neuen Bedingungen. Für dieses Passungsverhältnis spielt auch der Zeitpunkt eine wichtige Rolle. Herr Flieger wartete nicht ab. Daß er nicht mit einer entsprechenden Position in der Bundeswehr rechnen konnte, war ihm schon Anfang 1990 klar; aufgrund seiner ausgeprägten Karriereorientierung wollte er nicht passiv auf eine Besserung seiner Situation hoffen und fand deshalb als einer der ersten im neuen Versicherungsgeschäft ideale Startbedingungen vor. Herrn Tikovsky wäre es am liebsten gewesen, in seinem Betrieb weiterzuarbeiten. Sein durchaus rationales Warten auf eine Wiederaufnahme der Produktion führte ihn schließlich viel später als Herrn Flieger auf einen inzwischen geschlossenen Arbeitsmarkt.
Das bedeutet, daß zu den . harten'Ressourcen und Restriktionen in bezug auf den Umgang mit neuen Zumutungen und Chancen und für den Platz im System sozialer Ungleichheiten neben Alter, Geschlecht, Qualifikation und Branche auch die alltägliche Lebensführung zu zählen ist -denn mit ihr werden diese . harten'Ressourcen und Restriktionen wahrgenommen, bearbeitet und auch reproduziert. Doch was früher rational war, muß es nun nicht mehr sein; was früher Restriktion war,kann sich im Gegenzug als Ressource entpuppen; was früher nur ein kleiner Nachteil war, kann jetzt ein großer werden
VI. Alltägliche Lebensführung und die Logik soziologischer Erklärungen
Ich möchte zum Schluß den Vorschlag machen, die konzeptuellen Ergebnisse über die Stabilität alltäglicher Lebensführung und ihre Voraussetzungen und Folgen in ein allgemeines Modell einer soziologischen Erklärungslogik einzubauen. Der amerikanische Soziologe James S. Coleman hat gezeigt, wie man die Mikrofundierung von Ereignissen oder Verteilungen auf der Makroebene betreiben sollte, und hat hierfür ein Modell entworfen, auf das ich mich beziehen will: die soge-nannte Colemansche Badewanne -wie das Modell wegen seiner charakteristischen Form genannt wird.
Folgt man seinem Weg einer soziologischen Erklärung, kann man auf der Makroebene überhaupt keine erklärende Verbindung zwischen Ereignissen oder Verteilungen herstellen; entsprechend sehen wir in der folgenden Abbildung auch keinen Pfeil, der von Situation 1 direkt zu Situation 2 führen würde. Die oben zitierten Transformationsforscher und -forscherinnen lägen demnach mit ihrer Erklärungsweise nicht richtig: Daß sich die DDR-Gesellschaft zwangsläufig in eine bundesrepublikanische verwandle -etwa weil sie in einen Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung eingebunden sei würde Coleman nicht gelten lassen. Nur über den Weg über die Akteure und ihre Interessen, so das Credo, kann es gelingen, die Dynamik eines sozialen Wandlungsprozesses auf der Makroebene zu modellieren. Damit rückt das, was die Akteure tun, in eine analytische Schlüsselposition für die Untersuchung sozialer Prozesse.
Wenn man meine Befunde zur alltäglichen Lebensführung von Akteuren in Colemans Modell soziologischer Erklärungen einbaut, kann man den Stellenwert genauer bestimmen, den die alltägliche Lebensführung als Vermittlungskategorie zwischen Mikro-und Makroebene, oder, wenn man so will, zwischen Individuum und Gesellschaft hat; man kann das, indem man den Colemanschen Weg nachzeichnet, der über die Makroebene zum Handeln von Akteuren und über dessen Folgen wieder zurück zur Makroebene geht.
Als ersten Schritt gilt es, die Situation zu beschreiben, in der unser Akteur seine Handlungsentscheidung treffen will. Für diese Beschreibung ist nun nicht ein wie auch immer gearteter Blick von außen auf die Situation hinreichend, sondern man muß rekonstruieren, wie der Akteur die Handlungssituation wahrnimmt: es geht, wie das Hartmut Esser formuliert, um die Definition der Situation durch den Akteur selbst. Und bei dieser Definition spielt, wie ich gezeigt habe, die alltägliche Lebensführung unseres Akteurs eine wichtige Rolle: Sie dient ihm als Wahrnehmungsinstrument, denn er macht sich seinen eigenen, lebensführungsspezifischen Reim auf die strukturellen Parameter. Wenn wir an Herrn Tikovsky denken, definiert er Situationen, indem er sie daraufhin anschaut, inwieweit sie seinem Bedürfnis nach Sozialkontakten entgegenkommen. Im zweiten Schritt -wir sind nun auf dem Boden der Wanne -geht es darum, wie unser Akteur seine Entscheidung trifft. Er tut dies, indem er auf seine etablierte alltägliche Lebensführung als Entscheidungsregel zurückgreift. So läßt sich Herr Tikovsky bei seinen Entscheidungen für seine berufliche Zukunft davon leiten, seine Kollegen nicht verlieren zu wollen. Er versucht deshalb, seinen alten Arbeitsplatz zu retten; Leipzig zu verlassen, um z. B. in den alten Bundesländern zu arbeiten, kommt für ihn schon gar nicht in Frage. Der Einsatz solcher Entscheidungsregeln hat freilich Folgen. Zwar spart der Akteur durch die Anwendung einer in verschiedenen Situationen gut getesteten Regel Entscheidungskosten -wenn man so will, kann man das auch so formulieren, daß er sich damit überhaupt erst in der Lage sieht, Entscheidungen in einer unsicheren Situation treffen zu können aber die Folgen, die die so getroffenen Entscheidungen haben, kann unser Akteur nicht mehr kontrollieren: Denn darüber entscheiden die neuen Institutionen. Auf diese Weise gelangen wir bei unserer Analyse wieder zur Makroebene zurück, indem wir uns anschauen, an welche Institutionen die jeweiligen Handlungsfolgen anschlußfähig sind. So führten Herrn Tikovskys Entscheidungen ihn in die formale Arbeitslosigkeit, während Herrn Flieger, dem Versicherungskaufmann, mit seiner Qualifikation zum Ideologieverkauf und seinem Ehrgeiz ein Traumstart in Richtung Berufskarriere gelang. Die alltägliche Lebensführung dient damit als Ressource oder Restriktion bei der Auseinandersetzung mit neuen Handlungssituationen und liefert, wie ich das ausgedrückt habe, das Material für Selektionsprozesse. Hinter dem Rücken der Akteure entscheidet sich, wo Lebensführung an gesellschaftliche Institutionen andocken kann und wo nicht, und so ist die Frage, was Restriktion und was Res-source ist, situationsabhängig und vorab nicht entscheidbar. Denn die Selektionswirkung der neuen Institutionen ist kein Naturgesetz -auch sie resultiert aus den rationalen Entscheidungen von Akteuren, in Anbetracht ihres Organisationszieles nur bestimmte lebensführungsspezifische Qualifikationen nachzufragen. Wo es sich um das Ange-bot von Arbeitsplätzen handelt, haben wirtschaftliche Organisationen eine starke Position. Von ihnen werden Herrn Fliegers Qualifikationen abgerufen, ihm wird eine Ausbildung und schließlich die selbständige Versicherungsvertretung angeboten. Für die Qualifikation von Herrn Tikovsky gibt es im Augenblick keinen Markt; wohl gibt es Bedarf für gesellschaftspolitisches Engagement oder nachbarschaftliche Unterstützungsleistungen, aber keine Finanzierung. Als , Anschlußangebot'bleibt die Arbeitslosigkeit.
Die Ergebnisse meiner Untersuchung sprechen dafür, die systematische Offenheit gesellschaftlicher Dynamik zu betonen und machen skeptisch gegenüber modernisierungstheoretischen Entwicklungsdiagnosen. Denn es hängt nicht nur die Reproduzierbarkeit der etablierten alltäglichen Lebensführung von der Selektionswirkung der neuen Institutionen ab; auch die neuen Institutionen sind darauf angewiesen, daß die Akteure deren Bestandsbedingungen nicht gefährden. Wenn, wie in unserem Falle, das gesamte gesellschaftliche Institutionensystem durch ein anderes ersetzt wird, die individuellen Akteure ihre Entscheidungen aber treffen, indem sie ein Regelsystem zugrundelegen, das sie unter ganz anderen gesellschaftlichen Umständen etabliert haben, bleibt es offen, welche Regeln oder Verteilungen sich schließlich am rechten oberen Rand unserer Badewanne finden werden.
Denn wenn man dieses Selektionsargument ernst nimmt, kann man damit auch Veränderungen erklären, die sich auf der Ebene von Einstellungen messen lassen und die nicht strikt den im westlichen Teil Deutschlands verbreiteten Werten fol-gen. Heiner Meulemann hat vor kurzem versucht, zu erklären, warum in den ersten Jahren nach der Wende „moralische Striktheit“, das Gewicht, das moralischen Geboten zugemessen wird, abnahm, während die Wertschätzungen von „Leistung“, „Familie“ und „Erziehungszielen der Konformität“ in den neuen Bundesländern nicht an Bedeutung verloren. Obschon alle diese Werthaltungen vom Staat oktroyiert waren, ist „der Untergang der alten Sozialverfassung“, so Meulemann, „eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, daß von ihr geprägte Einstellungen verschwinden. Sie können überleben, wenn sie helfen, die Folgen des Untergangs zu bewältigen.“ So seien familiale Werte und die Orientierung an konventionellen Erziehungsidealen in der Transformationsgesellschaft hilfreich, indem sie dem Handeln Orientierung geben -und, so muß man hinzusetzen, der einzelne bei ihrer Einhaltung keine Nachteile gewärtigen muß; die oktroyierte moralische Striktheit hingegen „muß in einer Situation zerbrechen, in der der einzelne ...selbständig nach verinnerlichten Kriterien und mit Blick auf kalkulierbare Sanktionen moralisch werten muß". „Weit entfernt davon, Orientierung zu geben, immobilisiert ... die hohe Striktheit in der pluralistischen Sozialverfassung.“ Dieser Befund ist mit meinem Selektionsmodell kompatibel: Es ist nicht so, daß sich moralisch rigide Menschen nun in familienorientierte verwandelten; vielmehr werden auf der als Selektionsmaterial angebotenen Wertpalette diejenigen Werte positiv ausgewählt, die zum neuen System „passen“
Freilich unterscheiden sich Einstellungen von alltäglicher Lebensführung; während Einstellungen in der Sozialforschung gerade nicht mikrofundiert erhoben, sondern als Verteilungen oder Korrelationen auf der Makroebene gemessen werden, verweist alltägliche Lebensführung auf den Zusammenhang der Handlungen einer Person und zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie nicht einfach aufgeteilt werden kann in Bestandteile, die nicht ins neue System passen und solche, deren Anschluß gelingen wird -im Blickpunkt steht das gesamte Arrangement.
Ein letzter Blick auf die Colemansche Badewanne zeigt dieses Problem noch einmal modelltheoretisch auf: Unser Akteur muß sich auch mit seiner eigenen Lebensführung auseinandersetzen, die ihm durchaus als eine situationale Anforderung entgegentreten kann. Und wenn man sich vorstellt, man würde eine weitere Badewanne anhängen und das Modell dynamisieren, dann wird klar, daß der Akteur die Folgen des Zusammentreffens seiner alltäglichen Lebensführung mit den neuen Institutionen wiederum mit denselben Mitteln bearbeiten wird, mit denen er bereits die Ausgangssituation bearbeitet hat. Die alltägliche Lebensführung unserer Akteure bietet damit Freiräume und Zwänge zugleich: Sie eröffnet Handlungsspielräume, indem sie ein Stück weit vor dem direkten Durchschlag gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen schützt und damit Möglichkeiten einräumt, neue selektionstaugliche Lösungen zu etablieren. Gleichzeitig aber verengt sich der Spielraum individueller Lebensführung durch die Verhärtung des selbstentworfenen Regelsystems.
Klaus Holzkamp spricht in seiner Kommentierung des Konzepts alltäglicher Lebensführung von der Alternative einer „doppelten Möglichkeit“:
Neben dem Handeln unter gesellschaftlichen Bedingungen stehe Handeln „in Erweiterung der in den Bedingungen liegenden Verfügungsmöglichkeiten“. Wenn wir Glück haben, steckt hierfür in der alltäglichen Lebensführung ein Potential, das die reine Kosten-Nutzen-Rechnung und damit die Übernahme der gesellschaftlich nahegelegten Präferenzen von Zielen und Mitteln sprengen kann. Doch die Befürchtungen, daß die etablierte Lebensführung solche Handlungsspielräume zu schnell schließt und damit in gewisser Weise betriebsblind macht, sind leider auch nicht von der Hand zu weisen. Frau Barzel als diejenige unter meinen Interviewpartnern und Partnerinnen, die den größten Abstieg erlebt hat, drückt diese Betriebsblindheit folgendermaßen aus: „Ich möchte mal gern in ein ganz fremdes Land, am liebsten immer dahin, wovon ich gerade lese. Zu den Indianern oder in die Karibik. Wo wirklich mal Ruhe ist, Ruhe von allem. Vielleicht ist man jetzt wie betriebsblind. Daß man so manches gar nicht mehr sieht, was vielleicht doch da ist, und du nimmst es gar nicht mehr wahr“.
Margit Weihrich, Dr. phil., Dipl. -Soz., geb. 1958; Studium der Soziologie in München; wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie und Gesellschaftspolitik der Fakultät für Pädagogik der Universität der Bundeswehr München. Veröffentlichungen u. a.: Alltag im Umbruch? Alltägliche Lebensführung und berufliche Veränderung in Ostdeutschland, in: Martin Diewald/Karl Ulrich Mayer (Hrsg.), Zwischenbilanz der Wiedervereinigung. Strukturwandel und Mobilität im Transformationsprozeß, Opladen 1996; Kursbestimmungen. Eine qualitative Paneluntersuchung der alltäglichen Lebensführung im ostdeutschen Transformationsprozeß, Pfaffenweiler 1998.
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