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Artikel 17 | APuZ 36/1961 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

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Artikel 17

Bemühen, das erstarrte Lehrgebäude des Kommunismus sowjetischer Prägung unbefangen neu zu durchdenken und auf seine Tragfähigkeit zu prüfen. Und hier wie dort fand sich die Kritik der Intellektuellen mit dem Widerstand der Arbeiterklasse gegen ein verhaßtes, ausbeuterisches System. So schienen Polen und Ungarn zu Kristallisationszentren einer Emanzipationsbewegung im „sozialistischen Lager“ zu werden, die alle oppositionellen Unterströmungen in den Staatsparteien der übrigen Satellitenländer ermutigen mußte. Daher ist es nur zu gut zu verstehen, daß bereits die Rüdekehr Gomulkas in die Führung der polnischen kommunistischen Partei in Moskau alarmierend wirkte und daß sich die sowjetischen Machthaber wenige Tage später, als es in Ungarn zur offenen Revolte kam und die Ereignisse sich überstürzten, mit der Gefahr eines plötzlichen Auseinanderbrechens des europäischen Satellitenreiches konfrontiert glaubten. Aus dieser Lage entsprang der Entschluß zur Intervention in Ungarn, die wiederum nur den Auftakt zu einer gesteuerten restaurativen Gegenbewegung im gesamten Ost-blöde gab, in deren Dienst sich die linientreuen Statthalter und Spitzenfunktionäre um so lieber stellten, als die Ausstrahlung der polnischen und ungarischen Vorgänge ihre eigene Machtstellung unmittelbar bedrohte.

Die Haltung der Satellitenparteien

Nachdem oben geschildert worden ist, daß sowohl von den Sowjets als auch von Kadar die Intervention und die Unterdrückung der revolutionären Kräfte in Ungarn mit dem immer wiederkehrenden Hinweis auf die bedrohten Errungenschaften gerechtfertigt wurden, verwundert es nicht, daß das gleiche Argument auch als Leitmotiv für die ideologische Begleitmusik zu dem umfassenderen Restaurationsprozeß im sowjetischen Machtbereich lieferte, in den sich die innerungarische Entwicklung unter dem Kadar-Regime einordnet. So steht der Begriff der Errungenschaften inmitten des Ringens zwischen den emanzipatorischen und den restaurativen Tendenzen im kommunistischen Lager. Vor allem von der ungarischen revolutionären Bewegung, die bewußt an die Traditionen der Freiheitskämpfe von 1848/49 anknüpfte und für die die sowjetische militärische Intervention des Jahres 1956 in einer Linie mit dem damaligen Eingreifen der Armee des Zaren stand, war der ursprüngliche freiheitliche Inhalt dieses Begriffes wieder belebt worden, während die polnische Entwicklung bemerkenswerte Ansätze dazu zeitigte, ihn in einer für den kommunistischen Sprachgebrauch ungewohnt sachlichen Weise zu verwenden und ihn dadurch aus seiner ideologischen Überhöhung und Erstarrung zu lösen. Als ideologische Waffe der Restauration hingegen erwuchs dem orthodoxen sowjetkommunistischen Errungenschaftsbegriff gerade die Aufgabe, von den tatsächlichen sachlichen Gegebenheiten abzulenken, sie zu verzerren und zu verschleiern, um um so besser die Begründung für die Diskriminierung und Verdammung aller freiheitlichen Bestrebungen liefern zu können. In dieser Funktion beherrschte er auch die Stellungnahmen der Satellitenparteien zu den ungarischen und polnischen Ereignissen; und er drängte sich bezeichnenderweise überall dort besonders stark in den Vordergrund der Agitation, wo die Ansteckungsgefahr am meisten zu fürchten war. Als Beispiel dafür sei hier eine Rede angeführt, die der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei, Gheorghe Gheorghiu-Dej, in Tirgu Mures, dem Zentrum des Ungarischen Autonomen Gebiets in der rumänischen Volksrepublik, vor einer Gebietsparteikonferenz hielt und in der er die Bedrohung der „sozialistischen Errungenschaften" in Ungarn durch „offenkundige Faschisten“ usw. bis zum Überdruß strapazierte. Gefährlicher noch als die faschistischen, imperialistischen und aristokratischen Elemente, denen er zu Unrecht einen entscheidenden Einfluß auf die ungarische Entwicklung zuschrieb, erschienen ihm jedoch offenbar die ungarischen kommunistischen Intellektuellen, die das Verbrechen begangen hatten, sich mit dem Freiheitssehnen des ungarischen Volkes und der ungarischen Arbeiter zu identifizieren: „Besonderes Unheil", so betonte er, „richteten diese Intellektuellenkreise durch die Erbitterung an, mit der sie unter der Losung der . Freiheit'und der . Demokratie'die Errungenschaften“ der Volksmacht verleumdeten, die Partei und die revolutionären Errungenschaften der Massen schmähten und in Mißkredit zu bringen versuchten.“

Loblied auf die Diktatur

Wenn auch dieser Passus schon unmißverständlich genug zeigt, wo ihn selbst der Schuh drückte, so hielt er es doch für notwendig, noch deutlicher zu werden, als er auf die geplanten „Maßnahmen zur weiteren Demokratisierung unserer Staatsmacht" zu sprechen kam: „Doch wir können uns nie und nimmer mit einer solchen . Liberalisierung'einverstanden erklären, die den Feinden der Werktätigen die Freiheit läßt, Schläge gegen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes zu führen. Die Stärke und Festigkeit der volksdemokratischen Ordnung ergibt sich aus der Tatsache, daß diese Ordnung eine der Formen der Diktatur des Proletariats verkörpert ... Die Diktatur des Proletariats — das ist das Wichtigste im Leninismus, das ist die wichtigste Errungenschaft der Werktätigen in den sozialistischen Ländern, die Garantie für den Aufbau des Sozialismus.“

Wer würde Gheorghui-Dej nach diesen ermüdenden Deklamationen nicht Glauben schenken, wenn er mit Genugtuung feststellt, die rumänische Arbeiterklasse, „die führende Klasse in der volksdemokratischen Ordnung" (deren größte Errungenschaft also in der Unterordnung unter die in ihrem Namen ausgeübte Diktatur besteht), habe gleich zu Anfang begriffen, „daß in Ungarn die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen bedroht wurden", und bewiesen, daß sie „unerschütterlich und kämpferisch um die Partei zusammengeshlossen“ sei? Auf der gleichen Linie liegt auch die angebliche Sorge der SED um die „revolutionären sozialistischen Errungenschaften der polnischen Arbeiterklasse“ und der Applaus, mit dem sie die Sowjetunion für die Niederwerfung der ungarischen Revolution bedachte. Erklärte doch das Zentralkomitee am 6. 11. 1956 in einer Entschließung, daß es sich „in Ehrfurcht vor den Helden des Sozialismus“ verneige, die in Ungarn für den Schutz der „Errungenschaften des Volkes“ gefallen seien Das wichtigste Zeugnis aber für die Folgerungen, die von der Einheitspartei aus den Vorgängen in Polen und Ungarn gezogen wurden, ist der von Schirdewan Mitte November 1956 erstattete Bericht des Politbüros auf der 29. Tagung des Zentral-komitees der die SED als nur allzu williges Werkzeug der Restauration erweist. So widerstrebend sich das Ulbricht-Regime, das die moralische Niederlage des 17. Juni 1953 keineswegs überwunden hatte und sich keiner Täuschung über seine innere Schwäche hingeben durfte, mit den ihm gefährlich erscheinenden Beschlüssen des XX. Parteitags der KPdSU abgefunden hatte, so sehr beeilte es sich jetzt, sich einmal mehr als Musterschüler der Sowjetunion hervorzutun. Der Bericht Schirdewans spiegelt die tiefe Abneigung der maßgebenden Partei-instanzen vor den liberalen Methoden der „polnischen Freunde“ und ihre Furcht vor den sprengkräftigen Argumenten der polnischen und ungarischen Intellektuellen, die als Entartungserscheinungen im kommunistischen Lager gekennzeichnet werden: „Diese Entartung wird natürlich nicht grob vor sich gehen, und sie ging auch in gewissen Ländern zunächst nicht grob vor sich. Sie kommt, wie man so sagt, auf Taubenfüßen. Sie beginnt nicht mit dem groben Angriff auf die Grundsätze des Marxismus-Leninismus, sondern mit der Diskussion über die Taktik, über die Demokratisierung, über die Methoden und Formen.“ Demgegenüber wird der Vorsatz der SED betont, „keinen Jota von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus“ abzuweichen. Dieser Vorsatz bedeutet für die Führer der Einheitspartei zugleich „die Pflicht, allen Erscheinungen der Liberalisierung im bürgerlichen Sinne, der Einschränkung der sozialistischen Perspektive, entschieden entgegenzutreten". „Dabei", fährt Schirdewan fort, müssen wir die Arbeit zur Festigung der Justiz-und der Staatssicherheitsorgane als wichtige Staatsinstrumente des Schutzes der demokratischen Rechte und der Errungenschaften der Arbeiterklasse und aller Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bessern.“ Womit gezeigt wäre, daß sich der mitteldeutsche SED-Staat 1956 so wenig wie 1953 auf die Anziehungskraft seiner Errungenschaften verlassen konnte und daß der Hauptfeind nach wie vor für ihn im eigenen Lande stand. wird fortgesetzt Nachforderungen der Beilagen aus Politik und Zeitgeschichte sind an die Vertriebsabteilung DAS PARLAMENT, Hamburg 36, Gänsemarkt 21/23, zu richten. Abonnementsbestellungen der Wochenzeitung DAS PARLAMENT zum Preis von DM 1, 89 monatlich bei Postzustellung einschließlich Beilage ebenfalls nur an die Vertriebsabteilung Bestellungen von Sammelmappen für die Beilage zum Preise von DM 6, — pro Stück einschließlich Verpackung zuzüglich Portokosten an die Vertricbsnbtellung Hamburg 36 GänSemarkt 21/23. Telefon 34 12 51

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Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:

Oskar Anweiler:

Indira Gandhi:

Frederic Lilge:

Otto Schiller:

Karl Seidelmann:

Karl C. Thalheim:

Egmont Zechlin: „Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung" „Indien heute" „Makarenko " „Das Wesen der kommunistischen Gefahr"; „Die »Verbürgerlichung'in der Sowjetunion" „Der Generationsprotest derJugendbewegung in gegenwärtiger Betrachtung" „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft" „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche" (IV. Teil)

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Pravda" vom 24. 12. 1956 (Narodno-demokraticeskidi stroj — velikoje zavoevanie trudjaichsja; Der volksdemokratische Aufbau — eine große Errungenschaft der Werktätigen); deutsch in: „Aus der Presse der Sowjetunion", Beilage „Die Länder der Volksdemokratie", Jg. 1957, S. 61 ff. — Gheorghiu-Dej zitiert in dieser Rede 13 mal die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus (im russischen Text stets mit „zavoevanie" wiedergegeben).

  2. So Hermann Axen in seiner Stellungnahme zu dem in Anm. 59 zitierten Artikel der polnischen Journalistin Edda Werfel; vgl. „Neues Deutschland" vom 27. 11. 1956 (Gegen die Verfälschung des Marxismus-Leninismus und Tendenzen der Spaltung der Arbeiterbewegung).

  3. „Neues Deutschland“ vom 6. 11. 1956 (Brüderlich verbunden auf Friedenswacht, Erklärung des Zentralkomitees der SED zum Sieg der ungarischen Werktätigen über die Konterrevolution). Entsprechend auch W. Pieck in einem Telegramm an Kadar vom 4. 11. 1956 (laut „Radio DDR", 4. 11. 1956, 22. 40 Uhr).

  4. Die Ironie des Schicksals ließ Schirdewan im Februar 1958 über die gleichen Vorwürfe stürzen, die er im November 1956 den Polen gemacht hatte. Er wurde aus seinen Partei-und Regierungsämtern verdrängt und ist heute in der Archivverwaltung tätig. Ulbricht sagte darüber auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958: „Die Gruppe Schirdewan wollte das Schiff der Partei auf einen falschen Kurs bringen. Dazu wandte sie fraktionelle Methoden an. Dank der marxistisch-leninistischen Einheit der Partei konnte eine ernste Gefahr abgewendet werden. Die Genossen Schirdewan, Wollweber, Ziller, Oelßner und Selbmann haben die opportunistischen Schwankungen widergespiegelt, die bei solchen Genossen auftraten, die nicht genügend mit der Arbeiterklasse verbunden waren, die glaubten, durch das Abbremsen des sozialistischen Aufbaus bestimmte Schwierigkeiten vermeiden zu können . . .". Vgl. „Neues Deutschland" vom 12. 7. 1958.

  5. »Neues Deutschland" vom 28. 11. 1956 (Auszüge aus dem Bericht des Politbüros auf der 29. Tagung des ZK der SED. Berichterstatter Genosse Karl Schirdewan, Mitglied des Politbüros).

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