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Zwischen Apokalypse und Alltagsunfall | Bevölkerungsschutz | bpb.de

Bevölkerungsschutz Editorial Katastrophenangst. Momente der Kulturgeschichte Zwischen Apokalypse und Alltagsunfall. Zur Geschichte des Bevölkerungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland Strukturen, Akteure und Zuständigkeiten des deutschen Bevölkerungsschutzes Stabsarbeit vor neuen Herausforderungen. Zur Einsatzführung im Bevölkerungsschutz Preppen. Private Krisenvorsorge zwischen Bürgerpflicht, Lebensstil und Staatsskepsis Opfer der Moderne. Geschädigte von Technikkatastrophen in Gesellschaft und Medien Das internationale humanitäre System. Eine Einführung

Zwischen Apokalypse und Alltagsunfall Zur Geschichte des Bevölkerungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland

Jochen Molitor

/ 15 Minuten zu lesen

Der Katastrophenbegriff ist in seiner allgemeinsprachlichen Verwendung relativ und somit stark kontextabhängig. Was dem einen eine Katastrophe ist, erscheint jemand anderem lediglich als Unglück, und als "katastrophal" vermag der ausbleibende morgendliche Kaffee ebenso bezeichnet werden wie der GAU eines Kernkraftwerks. Der Begriff verweist demnach nicht zwangsläufig auf das Schlimmstmögliche, sondern auf Ereignisse, die durch kommunikative Zuschreibung zur Katastrophe werden. Aus diesem Grund bietet er sich als Indikator zur Untersuchung der Gefahrenwahrnehmung historischer Akteure an.

Im Folgenden werden der sich im Laufe der bundesdeutschen Geschichte dynamisch verändernden Nutzung des Begriffs verschiedene Entwicklungsphasen des hiesigen Zivil- beziehungsweise Bevölkerungsschutzes gegenübergestellt. Dessen Protagonisten sahen sich von Beginn der 1950er Jahre an mit der Aufgabe konfrontiert, potenziell horrende Krisenszenarien vorbereiten zu müssen. Die hierfür erforderliche Imaginationsleistung speiste sich zunächst hingegen weniger aus Zukunftsprognosen als aus dem Erfahrungsraum der jüngeren Vergangenheit.

Genese und Grenzen des Zivilschutzes, 1949–1961

Wenn während der Anfangsjahre der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland von einer "Katastrophe" die Rede war, verwies dies zumeist auf den Zweiten Weltkrieg sowie die dort erfahrene totale Niederlage. Dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler zufolge betont die Verwendung des Katastrophenbegriffs, dass ein Geschehenes sich dem Wirken externer Kräfte verdankt und somit nicht intendiert wurde. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen deckte sich dessen Nutzung in der jungen Bundesrepublik mit der verbreiteten Praxis, jegliche Verantwortung für den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg von sich zu weisen, um sich stattdessen selbst als Opfer zu inszenieren. Eine vergleichbare Rhetorik findet sich auch in zahlreichen frühen Veröffentlichungen des westdeutschen Zivilschutzes. Man sprach von "Katastrophen"; zur Zeit des beginnenden Kalten Krieges und in einem entlang verfeindeter Militärbündnisse geteilten Staat war der Begriff hingegen kaum mehr als ein leicht zu dekodierender Deckmantel für den tatsächlichen Grund des eigenen Wirkens. Da man seitens der verantwortlichen Zivilschutzexperten zumindest während der frühen 1950er Jahre kaum mit der Möglichkeit eines nuklearen Krieges zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt rechnete und gesichertes Wissen zu den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki noch wenig verbreitet war, erschien der frühe westdeutsche Zivilschutz in vielerlei Hinsicht als bruchlose Fortsetzung des nationalsozialistischen Luftschutzes. Dieser war während des Zweiten Weltkrieges zwar keinesfalls wirkungslos gewesen, galt aber in Anbetracht der verlustreichen Bombardierungen von Großstädten wie Dresden oder Hamburg als äußerst umstritten.

Die institutionellen Grundlagen dieses neuen Luftschutzes wurden in den 1950er Jahren geschaffen. Eine 1951 gegründete, dem Bundesinnenministerium zugeordnete Kommission zum Schutz der Zivilbevölkerung diente der Politikberatung und verließ sich hierbei auf die Expertise ausgewiesener Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche. Diesen diente die Schutzkommission als eine Art Drittmittelpool zur Erforschung zivilschutzrelevanter Fragestellungen wie etwa des Verlaufs der Strahlenkrankheit oder der Effektivität verschiedener Schutzraumtypen. Die Aufklärung und Ausbildung der Bevölkerung in Luft- beziehungsweise Zivilschutzfragen sollte vorrangig zwei Verbänden übertragen werden. Zu diesem Zweck erhielt der ursprünglich bereits 1946 gegründete Bundesluftschutzverband (BLSV) 1957 den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Ähnlich verfuhr man mit dem Technischen Hilfswerk (THW), das 1950 gegründet wurde und drei Jahre später die gleiche offizielle Anerkennung erfuhr. 1958 schließlich wurde die institutionelle Gründungsphase mit der Einrichtung des Bundesamtes für zivilen Bevölkerungsschutz (BzB) – dem Vorläufer des heutigen Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) – als zentrale koordinierende Einrichtung abgeschlossen.

Die Akribie dieser Organisation sollte keinesfalls mit Effektivität gleichgesetzt werden. Im Gegenteil: Aus heutiger Sicht erscheint es fast so, als ob die damalige Regierung den institutionellen Aufbau gerade deshalb zügig vorantrieb, um in Sachen Zivilschutz Aktivität vorzuweisen und die eigentliche Hauptforderung damaliger Experten – den forcierten Bau von Schutzräumen für die Zivilbevölkerung – ignorieren zu können. Ungeachtet aller zeitgenössischer Debatten zum Thema und dessen vergleichsweise großer Beachtung auch in der historischen Forschung hat es in der Bundesrepublik zu keiner Zeit einen umfassend betriebenen Schutzraumbau gegeben. Versuche, eine Baupflicht zumindest für Neubauten durchzusetzen, scheiterten wiederholt aus Kostengründen, und auch die Förderung privat finanzierter Schutzräume blieb derart begrenzt, dass selbst auf dem Höhepunkt entsprechender Bemühungen für lediglich drei Prozent der Bevölkerung Plätze zur Verfügung standen. Lange vor der Formierung zivilgesellschaftlichen Widerstands verweigerte sich die Politik dem Schutzraumbau, den man einer als traumatisiert geltenden deutschen Bevölkerung nicht zumuten wollte. Nicht ohne Neid schauten westdeutsche Zivilschutzexperten auf die neutrale Schweiz, die den Schutzraumbau frühzeitig obligatorisch machte und bis in die Gegenwart für alle Bürger*innen Schutzraumplätze vorzuhalten weiß. Und obwohl man den fehlenden politischen Willen frühzeitig erkannte, beharrte man darauf: "Ohne Schutzraum gibt es nun einmal kein luftschutzmäßiges Verhalten, und selbst die beste Organisation müsste ohne dieses Rückgrat im Theoretischen steckenbleiben."

Allein – Deutschland war nicht die Schweiz. Der vereinzelt vorgebrachte Wunsch, dem während der 1950er Jahre sukzessive erkannten Ausmaß der atomaren Bedrohung mit einer Art "totalen Verteidigung" zu begegnen, konnte im Frontstaat Deutschland kaum überzeugen. Selbst Hardliner unter den Zivilschutzexperten mussten schließlich einsehen, dass bauliche Schutzmaßnahmen einem nuklearen Flächenbombardement, wie es etwa im NATO-Planspiel "Fallex 62" imaginiert wurde, kaum etwas entgegenzusetzen hatten und man im Kriegsfall von der Gnade des Gegners abhängig blieb. Aber auch aus einer anderen Perspektive wurde der Schutzraumbau graduell zu einer Hypothek für die Verantwortlichen. In den einschlägigen Publikationen sprachen sie oft von "Katastrophen", um das in der Bundesrepublik als unpopulär geltende Wort "Krieg" vermeiden zu können. Gerade der Schutzraumbau entzog sich hingegen jeglicher Nutzbarmachung im ausdrücklich erwünschten Friedensfall, während sich "weichere" Maßnahmen als deutlich flexibler erwiesen. Gemeinsam mit der Tatsache, dass in der Bundesrepublik der Zivilschutz – also der Schutz der Zivilbevölkerung vor den Folgen eines Krieges – stets Sache des Bundes, der Katastrophenschutz hingegen eine Ländersache war, die die Zivilschutzorganisationen nicht genuin betraf, offenbarte das Festhalten am Schutzraumbau, was sich hinter dem gerne verwendeten Katastrophenbegriff verbarg.

Von "totaler Verteidigung" zu "all hazards", 1962–1978

Zu Beginn der 1960er Jahre zeigten sich erste Anzeichen einer veränderten Ausrichtung des bundesdeutschen Zivilschutzes. Einerseits nährte der NATO-Strategiewechsel von "Massive Retaliation" zu "Flexible Response" die Hoffnung, dass Weltuntergangsszenarien, wie sie "Fallex 62" in Aussicht gestellt hatte, selbst im Falle eines Krieges vermieden werden könnten. Die Ankündigung, auf Provokationen des Gegners nunmehr "flexibel" reagieren zu wollen, ohne sogleich mit der atomaren Vernichtung zu drohen, gewährte dem Schutzversprechen von Zivilschutzbemühungen eine tendenziell höhere Plausibilität. Gleichzeitig gelang es den Verbänden, ihr während der 1950er Jahre eher rhetorisch gebrauchtes Bekenntnis auch zum zivilen Katastrophenschutz wirkmächtig unter Beweis zu stellen. Insbesondere das THW, aber auch der BLSV unterstützten etwa auf dem Weg der Amtshilfe die zuständigen Einsatzkräfte während der norddeutschen Sturmflutkatastrophe 1962. Passend zur vormaligen Verwendung des Katastrophenbegriffs als Metapher für einen drohenden Krieg, beschrieb man das eigene Wirken im zivilen Szenario nun als Kampfeinsatz: Die Flut wurde als Feind charakterisiert, dem man sich zum Wohl der Gemeinschaft mutig und opferbereit entgegenzustellen hatte. Über die Verwendung derartiger Sprachmuster mochte gerade das uniformierte THW manchem Weltkriegsveteranen die Gelegenheit geboten haben, sich Teile einer wohlvertrauten Ideologie zu bewahren, wenn auch humanitär umgedeutet und ihres vormaligen inhaltlichen Kerns weitgehend beraubt.

Das fortdauernde Patt zwischen nach Schutzräumen verlangenden Zivilschutzexperten und den politischen Entscheidungsträgern hatte die allseitige Reformbereitschaft graduell erhöht. Neben der sich insgesamt entspannenden weltpolitischen Lage ebneten auch Ereignisse wie die Sturmflutkatastrophe nun endgültig den Weg zu grundlegenden Veränderungen, die ab Mitte der 1960er Jahre den westdeutschen Zivilschutz zum Bevölkerungsschutz umformten, der zivile ebenso wie militärische Szenarien in den Blick nimmt. Resultat dieser Entwicklungen war das 1968 verabschiedete Gesetz zur Erweiterung des Katastrophenschutzes (KatSG-68). Auch wenn die Verantwortlichen den tendenziell beschönigenden Titel sicher begrüßten, war der Verweis auf Katastrophen inzwischen mehr als eine rhetorische Finte. Vielmehr verknüpfte das Gesetz systematisch die unterschiedlichen Zuständigkeitsbereiche: Der Bund versprach die Unterstützung des föderalen Katastrophenschutzes, während dieser im Ernstfall eines Krieges die Bereitstellung seiner Einheiten für den Zivilschutz garantierte. Die Prämisse, dass sich der Zivilschutz im Wesentlichen aus dem vom Bund "erweiterten" Katastrophenschutz der Länder rekrutieren solle, prägte naturgemäß den Charakter der geförderten Maßnahmen. Gefragt war nicht mehr der Schutzraumbau, sondern vielmehr alles, was auch im zivilen Katastrophenschutz sinnvoll genutzt werden konnte, etwa Alarmsysteme oder Ausbildungen in Erster Hilfe. Der Einsatz von Zivilschutzeinheiten des Bundes – vor allem des THW – bei zivilen Katastrophenszenarien, der während der Sturmflut noch eher Ausnahmecharakter gehabt hatte, wurde zum Regelfall.

Die Praxis, auf möglichst generalisierbare Maßnahmen zu setzen, wird gegenwärtig oft unter dem Schlagwort all hazards subsumiert. Der Paradigmenwechsel von der Vorbereitung auf einen Krieg hin zu "allen möglichen" Gefahren hinterließ seine Spuren auch in den zentralen Zivilschutzbroschüren der 1960er Jahre, die zur Aufklärung der Bevölkerung millionenfach gedruckt und kostenlos an alle deutschen Haushalte versendet wurden. Der ersten, "Jeder hat eine Chance", wurde gleich nach ihrem Erscheinen 1962 eine Verharmlosung der Atomkriegsgefahr vorgeworfen. Zu einer gewissen Berühmtheit gelangte eine Darstellung auf Seite 17, in der ein auf dem Boden liegender Mann Kopf und Nacken mit einer Aktentasche schützt. Aus heutiger Sicht muss der Broschüre immerhin bescheinigt werden, die Kriegsgefahr klar benannt zu haben, lauteten doch die ersten beiden Sätze: "Es geht uns allen um die Erhaltung des Friedens. Dieser Frieden ist bedroht." Ihr weniger kritisch bewerteter Nachfolger – die 1964 erschienene "Zivilschutzfibel" – begann demgegenüber mit folgenden Worten, unterzeichnet vom damaligen Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU): "Täglich lesen oder hören wir von Unglücksfällen. Sie bedrohen uns im Haus und auf der Straße. Nicht einmal im Urlaub sind wir vor ihnen sicher. Und immer wieder werden die Menschen von Naturkatastrophen bedroht. Es vergeht keine Woche, in der nicht irgendwo auf der Welt Männer, Frauen und Kinder die Hilfe ihrer Mitmenschen brauchen. Selbst vor der größten Katastrophe, dem Krieg, sind viele auf dieser Erde immer noch bedroht."

Hier wurde der (Atom-)Krieg vollends zur Katastrophe umgedeutet, zur größten zwar, aber zur größten auf einer Skala, die bei schlichten Unglücksfällen – "Alltagskatastrophen" – begann. Zur nach wie vor nicht verschwiegenen Kriegsgefahr gesellte sich eine Vielzahl alternativer, wahrscheinlicherer und weniger vernichtender Szenarien, für die dieselben Verhaltensregeln als hilfreich ausgewiesen wurden. Aus gegenwärtiger Sicht verharmloste die "Zivilschutzfibel" das Schreckensszenario der atomaren Vernichtung somit mehr als ihr Vorgänger. Gleichwohl muss sie als Vorbote dafür gewertet werden, dass sich der bundesdeutsche Zivilschutz graduell davon verabschiedete, den Katastrophenbegriff nur als Alibi zu verwenden, sondern begann, zivile Schadenspotenziale ernst zu nehmen.

An anderer Stelle betonte die "Zivilschutzfibel", wie hilfreich eine Erste-Hilfe-Ausbildung beispielsweise bei einem Autounfall sein könne. Diese Aussage – illustriert mit einem zerstörten PKW – war mit Bedacht gewählt. Zwischen 1960 und 1980 starben jährlich über 15.000 Menschen im westdeutschen Straßenverkehr, mit einem tragischen Höhepunkt von 21.000 Verkehrstoten allein 1970 – eine siebenfach höhere Zahl als 2019, und das bei einem deutlich niedrigeren Verkehrsaufkommen. Diese Zahlen mögen verdeutlichen, wie notwendig seinerzeit nicht allein eine Reform des Zivilschutzes, sondern auch die Stärkung von Katastrophenschutz und Rettungswesen erschien. Der All-hazards-Ansatz suchte, auf möglichst kostengünstigem Wege beides zu erreichen.

Vom Zweiten Kalten Krieg zur Risikogesellschaft, 1979–1989

Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 endete die internationale Entspannung, und es begann jener Zeitabschnitt, der in der historischen Forschung gelegentlich als "Zweiter Kalter Krieg" bezeichnet wird. Die im NATO-Doppelbeschluss in Aussicht gestellte Modernisierung der in Europa stationierten Atomwaffenarsenale sowie die beginnende US-Präsidentschaft Ronald Reagans (1981–1989) taten ihr Übriges, um den Katastrophenbegriff erneut zu verengen und ihn nahezu ausschließlich auf einen befürchteten Krieg der Supermächte auszurichten.

Das nach wie vor geltende All-hazards-Konzept des Bevölkerungsschutzes erfuhr im emotional und ideologisch hochgradig aufgeladenen gesellschaftlichen Klima der damaligen Bundesrepublik von beiden Seiten des politischen Spektrums harte Kritik, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die sich formierenden Friedensbewegungen betrachteten den Zivilschutz als überkommenes Relikt einer todbringenden Politik der Stärke, dessen pure Existenz einen Atomkrieg wahrscheinlicher machen konnte. Von entgegengesetzter Seite monierte man hingegen, man sei mit der "Katastrophisierung" bereits viel zu weit gegangen. Der nationalkonservative Flügel der Union verortete den Zivilschutz klar im Bereich der Landesverteidigung, verlangte verstärkte Schutzraumbaubemühungen und propagierte abermals das Konzept der Totalverteidigung, das seit Mitte der 1960er Jahre in den Hintergrund gerückt war. Eine pragmatische Diskussion um Sinn und Zweck, Möglichkeiten und Grenzen des Bevölkerungsschutzes war inmitten solch diametral gegenüberstehender Positionen sowie einer zusehends polemischen, auf Ausschluss bedachten Dialogführung kaum möglich und, rückblickend betrachtet, wohl auch nicht beabsichtigt.

Die extreme Polarisierung blieb letztlich eine Episode. Neben der 1983 trotz aller Proteste erfolgten Stationierung US-amerikanischer Pershing-II-Raketen in Westdeutschland sowie der graduellen Öffnung der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU (1985–1991) erwies sich dabei insbesondere die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 als entscheidend. Sie belegte abermals, dass Schadensszenarien vorstellbar waren, die gravierender als ein Unfall, aber weniger aussichtslos als ein Atomkrieg ausfielen und für die ein gewisses Maß weiterführender Vorbereitung lebensrettend sein mochte. Ungeachtet früherer Erfahrungen, etwa während der Sturmflut 1962, hatten Mitglieder der Friedensbewegungen gerne darauf verwiesen, dass die "katastrophenarme" Bundesrepublik keinerlei "erweiterten Katastrophenschutz" benötige. Da zur damaligen Zeit etwa das THW bereits regelmäßig auch im Ausland Hilfe leistete, muss den Friedensbewegungen in Sachen Katastrophenschutz eine nationalistische Lesart attestiert werden, die der grenzüberschreitende Charakter Tschernobyls zunichtemachte und entsprechende Debatten merklich pragmatisierte. Die Aktivist*innen verschoben ihren Fokus graduell vom Protest gegen Kernwaffen hin zum Widerstand gegen die Kernenergie sowie die vielfältigen Unwägbarkeiten einer industrialisierten Moderne, die der Soziologe Ulrich Beck einflussreich als "Risikogesellschaft" bezeichnet hat. Letztlich beschritten sie damit einen ähnlichen Weg, wie es zuvor auch der Bevölkerungsschutz getan hatte: von einem enggeführten zu einem komplexen Verständnis des Katastrophenbegriffs, vom Krieg zu all hazards.

Nach einigen gescheiterten Anläufen wurde 1989 schließlich das Katastrophenschutzergänzungsgesetz verabschiedet. Dieses behielt die 1968 eingeschlagene Richtung eines zwischen Bund und Ländern aufgeteilten Systems wechselseitiger Hilfeleistung im Zivil- und Katastrophenschutz dezidiert bei. Gravierende Neuerungen gab es wenige. Am ehesten betroffen waren das Gesundheitswesen – so wurde zum Beispiel die Beteiligung verantwortlicher Ärzt*innen in den Katastrophenstäben garantiert – sowie die im Bevölkerungsschutz tätigen Hilfsorganisationen, deren Bedeutung und Unabhängigkeit besonders betont wurde. Diese Organisationen erwiesen und erweisen sich bis in die Gegenwart als der eigentliche in der Bundesrepublik existierende Bevölkerungsschutz und wussten dies während der 1980er Jahre schlagkräftig geltend zu machen, zählten sie doch zu den stärksten Befürwortern des All-hazards-Prinzip. Weniger staatliche Behörden wie das BzB und seine Nachfolgeorganisationen als vielmehr die ehrenamtlich tätigen Helfer*innen des THW, der freiwilligen Feuerwehren und natürlich der Verbände des Rettungswesens sorgten somit dafür, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland eine vergleichsweise pragmatische Form des Bevölkerungsschutzes verstetigen konnte, ungeachtet aller radikalen, von Abschaffung bis Remilitarisierung reichenden Forderungen Außenstehender.

Fazit

Zunächst erscheint auffallend, dass es dem westdeutschen Zivilschutz nicht gelang, von den Krisen des Kalten Krieges zu profitieren. Das potenziell apokalyptische Ausmaß der wahrgenommenen Bedrohung erzeugte kaum Handlungsdruck, sondern lähmte die politisch Verantwortlichen eher und provozierte teils berechtigten, teils überzogenen Widerstand selbst gegen minimale Schutzmaßnahmen. In Zeiten der Entspannung jedoch richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf die tatsächlich eintretenden Szenarien. Neben der norddeutschen Sturmflut und dem Tschernobyl-Unglück sei etwa auf die Flugschau-Katastrophe der Ramstein Air Base 1988 hingewiesen, die zu Dutzenden Todesopfern und Hunderten Verletzten führte. Dem unbequemen Gedanken daran, wie viele Menschenleben man bei besserer Vorbereitung hätte retten können, vermochte der Bevölkerungsschutz letztlich ebenso wenig auszuweichen wie weite Teile seiner Kritiker*innen.

"Gescheitert" war der bundesdeutsche Zivil- und Bevölkerungsschutz zumal im internationalen Vergleich nicht; mit dem Schutzraumbau verlor sich hierzulande lediglich seine auffälligste Spielart. Die gängigen Narrative der Friedensbewegungen zeigten hingegen eine nachhaltige Wirkung: So wurde der Zivilschutz zeitweise auch von Historiker*innen mit dem Schutzraumbau gleichgesetzt, während man seine zahlreichen Überschneidungen mit dem zivilen Katastrophenschutz kaum beachtete. Die Reproduktion ehemaliger Konfliktlinien des Kalten Krieges wird dem komplexen Handlungsfeld hingegen nicht gerecht. Der bundesdeutsche Bevölkerungsschutz war staatlich ebenso wie nicht-staatlich organisiert und lebte von Behördenarbeit ebenso wie von zivilgesellschaftlichem Aktivismus. Über die Mitwirkung in Hilfsorganisationen wie dem THW oder dem Deutschen Roten Kreuz, aber auch in den Feuerwehren, bei der Polizei sowie im Notfallwesen und in der Katastrophenmedizin war und ist er zudem breitflächig in der Bevölkerung verankert und keineswegs ein Randphänomen.

Klar ist, dass die Ausgestaltung des Bevölkerungsschutzes eines Landes unmittelbar damit zusammenhängt, welche Schadensszenarien als möglich beziehungsweise wahrscheinlich imaginiert werden. Das lässt sich am wandelnden Charakter des Katastrophenbegriffs gut ablesen. Dieser diente in der Bundesrepublik während ihrer Gründungsphase oft als Chiffre für den vergangenen Zweiten und, später, einen befürchteten Dritten Weltkrieg. Im Verlauf der Zeit wurden die angenommenen Bedrohungen im Vergleich zur Atomkriegsgefahr zwar weniger vernichtend, potenzierten sich jedoch in ihrer (wahrgenommenen) Anzahl. In der heutigen globalisierten und multipolaren Welt scheint schließlich nahezu alles Katastrophenpotenzial aufzuweisen: Man spricht von "Eurokrise", "Flüchtlingskrise", "Klimanotstand", ist bedroht von gewaltsamen Ausschreitungen, Terrorismus und aktuell der Covid-19-Pandemie. Die Aufgabenfelder des Bevölkerungsschutzes sind im Zuge solcher Entwicklungen nicht kleiner geworden. Trotz einer wünschenswerten Stärkung notwendiger reaktiver Instrumente ist hingegen die Vermeidung einer Katastrophe ihrer Bewältigung stets vorzuziehen, sodass das Hauptaugenmerk von Politik und Gesellschaft darauf liegen sollte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Kurt Imhof, Katastrophenkommunikation in der Moderne, in: Peter Rusterholz/Rupert Moser (Hrsg.), Katastrophen und ihre Bewältigung: Perspektiven und Positionen, Bern 2004, S. 145–163, hier S. 145.

  2. Eine parallele Schilderung des Zivilschutzes der DDR muss aus Platzgründen unterbleiben. Dieser orientierte sich zumeist an entsprechenden Maßnahmen der Sowjetunion (z.B. Zivilschutzinhalte im Schulunterricht) und weist nur geringe Bezüge zum deutschen Bevölkerungsschutz der Gegenwart auf. Als Einführung vgl. Christian Th. Müller, Im Bann der Bombe: Überlegungen zu Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR, in: ders./Bernd Greiner/Dierk Walter (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, S. 94–122.

  3. Männliche Formen werden im Folgenden verwendet, um auf überwiegend oder ausschließlich männliche Akteursgruppen zu verweisen, die rückblickend nicht inklusiver wirken sollten, als sie es gewesen sind.

  4. Vgl. Herfried Münkler, Revolution, Krieg & Katastrophe: Ein Diskurs über Domestizierung und Enthegung, in: Leon Hempel/Marie Bartels/Thomas Markwart (Hrsg.), Aufbruch ins Unversicherbare: Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart, Bielefeld 2013, S. 97–139, hier S. 135.

  5. Vgl. Robert Moeller, Remembering the War in a Nation of Victims, in: Hannah Schissler (Hrsg.), The Miracle Years: A Cultural History of West Germany 1949–1968, Princeton 2001, S. 83–109, hier S. 94.

  6. Vgl. Nicholas Steneck, Everybody Has a Chance: Civil Defense and the Creation of Cold War West German Identity, 1950–1968, Dissertation, Ohio State University 2005, S. 126–129. Zum Luftschutz des Zweiten Weltkriegs vgl. Dietmar Süß, Tod aus der Luft: Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011.

  7. Weitere Details zur Genese der zentralen Institutionen des westdeutschen Zivilschutzes finden sich bei Wolfram Geier, Zwischen Kriegsszenarien und friedenszeitlicher Katastrophenabwehr: Zur Entwicklung der zivilen Verteidigung in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Zivilschutzes und seiner Reformen vor und nach Beendigung des Kalten Krieges, Marburg 2003; Steneck (Anm. 6); Martin Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen: Zivil- und Katastrophenschutz in der Bundesrepublik und Großbritannien nach 1945, Paderborn 2017.

  8. Vgl. Nicholas Steneck, Eine verschüttete Nation? Zivilschutzbunker in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1965, in: Inge Marszolek/Marc Buggeln (Hrsg.), Bunker: Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum, Frankfurt/M. 2008, S. 75–88, hier S. 80f.

  9. Vgl. Geier (Anm. 7), S. 56.

  10. Vgl. Jochen Molitor, Mit der Bombe überleben: Die Zivilschutzliteratur der Bundesrepublik 1960–1964, Marburg 2011, S. 44–50.

  11. Vgl. Silvia Berger Ziauddin, Superpower Underground: Switzerland’s Rise to Global Bunker Expertise in the Atomic Age, in: Technology and Culture 4/2017, S. 921–954.

  12. Hermann Sautier, Der Weg des BLSV, in: Zivilschutz 2/1961, S. 44–48, hier S. 47.

  13. Ein Bericht des Innenministeriums sprach von 300 angenommenen Atomschlägen auf die Bundesrepublik innerhalb der ersten Kriegswoche, siehe Erfahrungsbericht über die NATO-Herbstübung "Fallex 62" 6.–27.9.1962, Anlage zu BMI VII B 5 (Gekürzte Fassung), S. 10, DRK-Archiv, 4274.

  14. Vgl. Christian Tuschhoff, Strategiepoker: Massive Vergeltung – Flexible Antwort, in: Michael Salewski (Hrsg.), Das Zeitalter der Bombe: Die Geschichte der atomaren Bedrohung von Hiroshima bis heute, München 1995, S. 167–188.

  15. Zum Einsatz von BLSV und THW während der Flutkatastrophe vgl. Jochen Molitor, Lehren für den Verteidigungsfall: Die Sturmflutkatastrophe von 1962 und der bundesdeutsche Zivilschutz, in: Martina Heßler/Christian Kehrt (Hrsg.), Die Hamburger Sturmflut von 1962: Risikobewusstsein und Katastrophenschutz aus zeit-, technik- und umweltgeschichtlicher Perspektive, Göttingen 2014, S. 195–221.

  16. Vgl. Diebel (Anm. 7), S. 76–79.

  17. Vgl. Frank Biess, Jeder hat eine Chance: Die Zivilschutzkampagnen der 1960er Jahre und die Angstgeschichte der Bundesrepublik, in: Greiner/Müller/Walter (Anm. 2), S. 61–93.

  18. Vgl. ebd., S. 85.

  19. BzB (Hrsg.), Jeder hat eine Chance, Bad Godesberg 1961, S. 3.

  20. Dass. (Hrsg.), Zivilschutzfibel, Bad Godesberg 1964, S. 1.

  21. Vgl. Nils Kessel, Geschichte des Rettungsdienstes 1945–1990: Vom "Volk von Lebensrettern" zum Berufsbild "Rettungsassistent/in", Frankfurt/M. 2008 sowie die Daten des Statistischen Bundesamtes unter Externer Link: http://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabellen/getoetete-alter.html.

  22. Vgl. etwa Philipp Gassert/Tim Geiger/Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011.

  23. Für weiterführende Informationen vgl. Christoph Becker-Schaum et al., "Entrüstet Euch!": Nuklearkrise, NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung, Paderborn 2012.

  24. Vgl. etwa Till Bastian, Bunker und Valium: Wie sich die Bundesrepublik Deutschland auf den "Ernstfall" vorbereitet, München 1986.

  25. Vg. Diebel (Anm. 7), S. 91.

  26. Vgl. ebd., S. 182–186.

  27. Vgl. Geier (Anm. 7), S. 275.

  28. Vgl. Melanie Arndt, Tschernobyl: Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, Erfurt 2011.

  29. Vgl. z.B. Ist die gegenwärtig betriebene katastrophenmedizinische Fortbildung sinnvoll und ärztlich vertretbar? (Podiumsdiskussion), in: Berliner Ärzteinitiative gegen Atomkrieg (Hrsg.), Medizin und Atomkrieg – hilflos? Ärzte warnen vor dem Atomkrieg, Berlin 1983, S. 114–133.

  30. Ulrich Beck, Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

  31. Zum medizinischen Zivilschutz allgemein vgl. Jochen Molitor, Katastrophe als Beruf: Die bundesdeutsche Ärzteschaft und der nukleare Ernstfall 1950–1990, Weimar–Köln (i.E.).

  32. Zum Einfluss der Hilfsorganisationen auf die entsprechende Gesetzgebung der 1980er Jahre vgl. Diebel (Anm. 7), S. 264–267, S. 313ff.

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hat zur Geschichte der Katastrophenmedizin promoviert und arbeitet als Lehrer in Köln. E-Mail Link: molitor@apostelgymnasium.de