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Dynamiken der Sicherheit | Freiheit und Sicherheit | bpb.de

Freiheit und Sicherheit Editorial Zwischen Leviathan und Kantischem Rechtszustand. Über das schwierige Verhältnis von Freiheit und Sicherheit Dynamiken der Sicherheit. Sicherheit und Unsicherheit in historischer Perspektive Zwischen individueller Freiheit und staatlicher Sicherheitsgewähr. Wandlungen des Rechtsstaats in unsicheren Zeiten Der Pandemiestaat als nervöser Staat. Zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Krisenzeiten Politik der Inneren Sicherheit. Politisierungsdynamiken und Politikänderungen Im Zweifel für die Sicherheit. Haltungen der Bevölkerung zur Verteidigung von Freiheit und Sicherheit Illusion der Sicherheit. Warum wir uns mit der Freiheit so schwertun

Dynamiken der Sicherheit Sicherheit und Unsicherheit in historischer Perspektive

Eckart Conze

/ 15 Minuten zu lesen

Nicht zuletzt die vermeintlichen und tatsächlichen Unsicherheiten der Moderne haben dazu geführt, dass Sicherheit zum Wert geworden ist. Die Unmöglichkeit absoluter Sicherheit macht das Streben nach ihr zu einer wichtigen gesellschaftlichen und politischen Kraft.

"Sicherheit ist das fundamentalste Versprechen, das ein Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern schuldet." Dieser Satz aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 22. Juni 2022 bezog sich auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die als "Zeitenwende" markierte Neuausrichtung deutscher Sicherheitspolitik seit dem 24. Februar 2022. Doch seine Aussagekraft reicht weit darüber hinaus. Jeder Kanzler der Bundesrepublik – und auch die bislang einzige Kanzlerin – hat in den verschiedensten Kontexten Sicherheit als entscheidende politische Maxime und zentrales Ziel von Regierungshandeln beschrieben: von Konrad Adenauer in den 1950er über Helmut Schmidt in den 1970er Jahren bis hin zu Gerhard Schröder und Angela Merkel in der jüngeren Vergangenheit. Wie ein roter Faden und in immer neuen Ausformungen zieht sich die Suche nach Sicherheit durch die Geschichte der Bundesrepublik: durch ihre Frühzeit im Schatten des Nationalsozialismus, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, über die Gefahren des Terrorismus und die Gefährdung der Umwelt bis hin zur Globalisierung und dem Aufstieg der Cyberwelt mit ihren neuen Unsicherheitspotenzialen.

Noch vor der russischen Aggression hatte seit 2020 die Coronapandemie das Thema Sicherheit und insbesondere die Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit erneut in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und politischer Debatten gerückt. In demoskopischen Umfragen der vergangenen Jahre war regelmäßig von einer "Erosion des Sicherheitsgefühls" die Rede. Doch schon seit Jahrzehnten zeigen Parteiprogramme, Regierungserklärungen und Wahlkampfreden, dass Sicherheit und Unsicherheit Themen von erheblicher und, so der Eindruck, zunehmender politischer und gesellschaftlicher Bedeutung sind. Sicherheit sei zum "Goldstandard des Politischen" geworden, konstatierte vor einigen Jahren der Politikwissenschaftler Christopher Daase. Und Michael Dillon, ebenfalls Politikwissenschaftler, hat schon vor mehr als 25 Jahren festgestellt: "Sicherheit (…) durchzieht die Sprache der modernen Politik. Unser politischer Wortschatz ist voll davon, und unsere politische Vorstellungskraft ist dadurch beherrscht und begrenzt." Es kennzeichnet den Aufstieg des Sicherheitsbegriffs, wie er in der politisch-sozialen Sprache fassbar wird, dass er in ganz unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kontexten anzutreffen ist. Nicht nur werden immer neue Gefährdungen der Sicherheit identifiziert, sondern es werden auch immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – auf nationaler und internationaler Ebene – als Sicherheitsprobleme behandelt. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in diesem Zusammenhang vom Aufstieg einer "sekuritären Gesellschaft" gesprochen; er und andere haben einen Verlust an Freiheit in der Folge dieser Entwicklungen konstatiert.

In der Tat kann man den Eindruck gewinnen, dass immer mehr Themenfelder im politischen Raum als Sicherheitsthemen markiert werden: als Gefahren, Bedrohungen oder Quellen von Unsicherheit. Sie werden damit dem expandierenden Politikfeld der Sicherheitspolitik zugeschlagen und den diesem Politikfeld eigenen Handlungslogiken unterworfen. Politisch gehört zum Modus der Sicherheit ein Primat der Exekutive. Dazu gehören Maßnahmen, die durch Verweis auf eine existenzielle Gefährdung oder Bedrohung üblicherweise geltende Normen außer Kraft setzen und dadurch Ausnahmezustände etablieren; und dazu gehören nicht zuletzt Einschränkungen von Freiheit durch Normen und Praktiken der Sicherheit – von Überwachungskameras und Körperscannern bis hin zur Kontrolle und Erfassung von Daten.

Es war diese Erweiterung, zum Teil auch Entgrenzung von Sicherheit, die auch das wissenschaftliche Interesse an den Dynamiken von Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit verstärkt hat. Welche politischen und gesellschaftlichen Fragen sind Sicherheitsfragen? Wie werden politische und gesellschaftliche Probleme zu Sicherheitsproblemen? Und was bedeutet es für den politischen Prozess und für politische Entscheidungen, wenn bestimmte Themen als Sicherheitsthemen formiert sind beziehungsweise formiert werden? Solche Fragen führten seit den 1980er/1990er Jahren zur Herausbildung einer Kritischen Sicherheitsforschung (Critical Security Studies), die nicht zuletzt auf der Prämisse der historischen Kontingenz des Sicherheitsbegriffs beruht, aber auch ein Bewusstsein für die soziale Konstruiertheit von Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit entwickelt hat. Das machte die Kritische Sicherheitsforschung auch für die Geschichtswissenschaft attraktiv und bildete den Hintergrund für die Entwicklung des Forschungsfelds der Historischen Sicherheitsforschung, das in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Dies gilt nicht zuletzt für die Zeitgeschichtsforschung, auf deren Forschungsinteressen der Impuls der Gegenwart stets in besonderer Weise einwirkt. Noch vor Corona und dem Krieg in der Ukraine trugen die Unsicherheitserfahrungen der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges sowie die Bedrohung des internationalen Terrorismus, insbesondere die Ereignisse des 11. September 2001, dazu bei.

"Sicherheit" als Wertbegriff

Politische Wirkung entfalten kann der Bezug auf Sicherheit respektive Unsicherheit vor allem deswegen, weil "Sicherheit" ein Wertbegriff ist. Als ein Grundbedürfnis des Menschen wird Sicherheit anthropologisch oder psychologisch immer wieder bezeichnet, und Sicherheit rückt damit in die Nähe anderer menschlicher Grundbedürfnisse wie Nahrung, Schlaf oder Sexualität. In historischer oder sozialwissenschaftlicher Perspektive wird man dieses Streben nach Sicherheit spezifizieren und Sicherheit als ein Konzept verstehen müssen, das zunächst und ganz unmittelbar die Unversehrtheit von Leib, Leben und, womöglich, Eigentum umfasst. Man sucht Sicherheit vor einer Bedrohung, vor persönlichen oder kollektiven Gefährdungen. Das verweist – gerade in seiner Allgemeinheit – auf die vielen möglichen Dimensionen von Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit in sozialen Kontexten: innere Sicherheit, äußere Sicherheit, soziale Sicherheit, um nur diese Oberbegriffe zu nennen. In dieser Vielfältigkeit liegt auch der Grund dafür, dass Sicherheit in modernen Gesellschaften nicht nur einen "Triebwert" darstellt, wie es der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann genannt hat, sondern ein soziokulturelles Wertesystem, vergleichbar den Wertesystemen "Freiheit" oder "Gerechtigkeit". Dadurch wird "Sicherheit" auch zu einem Grund- und Wertbegriff der politisch-sozialen Sprache.

Sicherheit in politisch-sozialen Kontexten lässt sich nicht abstrakt definieren – außer vielleicht als tatsächliche oder vermeintliche Abwehr von Gefahr –, sondern wird in Gesellschaften und von Gesellschaften als Orientierungs- und Handlungshorizont immer wieder neu bestimmt, und zwar nicht zuletzt über die Identifizierung von Unsicherheit, von Bedrohungen oder Gefährdungen. Sicherheit respektive Unsicherheit ist gesellschaftlich und kulturell und damit auch im historischen Prozess variabel. Unterschiedliche Gesellschaften weisen höchst unterschiedliche Sicherheits- und Unsicherheitsvorstellungen auf. Aber auch innerhalb einer Gesellschaft können sich Sicherheitsgefühle und Sicherheitswahrnehmungen – Sicherheitskulturen – verändern. Und das ist nicht nur begriffsgeschichtlich für den Historiker interessant. Denn die Definitionsmacht über Sicherheit und Unsicherheit ist engstens mit politischer Macht sowie mit der Ausübung von Herrschaft verbunden.

Zwar begegnet uns der Begriff "Sicherheit" sowohl in der Antike als auch im Mittelalter. Zu einem politisch-sozialen Grund- und Wertbegriff wurde er jedoch erst mit der Entstehung des modernen Staates westlicher Prägung. Sowohl in der theoretischen Begründung als auch für die historische Stabilisierung des Staates spielte dessen sicherheitsstiftende und sicherheitsgarantierende Funktion eine entscheidende Rolle. Von der klassischen Schutzfunktion des Staates ist immer wieder die Rede; in seiner Regierungserklärung vom 22. Juni 2022 hat Bundeskanzler Scholz dieses Thema variiert. Sicherheit gehört zu den zentralen Funktionszuweisungen an den aufsteigenden modernen Staat, ob nun bei Thomas Hobbes, John Locke oder im deutschen Sprachraum bei Samuel Pufendorf, Gottfried Wilhelm Leibniz oder später Wilhelm von Humboldt. Vor allem Humboldt ging es indes auch darum, den Staatszweck der Sicherheit mit dem Anspruch individueller Freiheit zu verknüpfen. Dieser Anspruch bestimmte – und limitierte – das staatliche Sicherheitshandeln, die Sicherheitspolitik. Die einzige Aufgabe, die für Humboldt dem Staat verbleiben sollte, war die Durchsetzung jener Sicherheit, die den Bewegungsspielraum der Individuen schützte und ermöglichte: "Sicherheit ist (…) Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit." Humboldt verweist also darauf, dass Sicherheit und Freiheit nicht nur als Gegensatz oder Spannungsverhältnis gedacht werden können, sondern dass Sicherheit auch als Voraussetzung und Bedingung von Freiheit verstanden werden muss.

Unsicherheitserfahrungen in der Moderne

Seit der Frühen Neuzeit ist Sicherheit zu einem Leitbegriff politischen Handelns geworden. Dass sich Sicherheit darüber hinaus zu einem umfassenden sozialkulturellen Orientierungshorizont entwickeln konnte, hat mit fundamentalen individuellen und kollektiven Unsicherheitserfahrungen zu tun, die sich mit der Entfaltung der Moderne verbanden. Unsicherheitserfahrungen wurden in der Wahrnehmung vieler Menschen gleichsam zum Signum der Moderne. Hinter solchen Deutungen steht eine Vorstellung, die in der Moderne beziehungsweise in Prozessen der Modernisierung nicht zuletzt die Auflösung traditionaler, vormoderner Strukturen und den Verlust von Gewissheiten sieht, die feste Ordnungen gestiftet und dadurch handlungsrelevante Sicherheitsfiktionen erzeugt hätten.

Der amerikanische Philosoph John Dewey begann sein einflussreiches, erstmals 1929 erschienenes Buch "The Quest for Certainty" (deutsch: Die Suche nach Gewissheit) mit dem Satz: "In einer Welt der Unsicherheit sucht der Mensch nach Sicherheit." Das bezog sich nicht nur auf die wachsende Komplexität moderner Gesellschaften, ja der modernen Welt insgesamt, sondern auch darauf, dass Sicherheit im Sinne von Gewissheit – certainty – auf der Vorstellung der Existenz unabänderlicher Wahrheiten beruhe, derer man gewiss werden könne. Diese Vorstellung aber sei zusammen mit ihren – nicht zuletzt: religiösen – Legitimationen zusammengebrochen, und so bleibe dem Menschen nurmehr die "Suche nach Sicherheit" in einer kontingenten Welt. Die Öffnung beziehungsweise die Offenheit der Zukunft ist in dieser Perspektive das zentrale Charakteristikum der Moderne. Der Historiker Reinhart Koselleck hat in diesem Zusammenhang vom Auseinandertreten von "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" gesprochen, das die Menschen zutiefst verunsichert habe.

In der Rede von der Offenheit der Zukunft schwingt freilich eine zentrale Ambivalenz der Moderne mit. Lässt sich diese auf der einen Seite mit der Zunahme von Kontingenz und Kontingenzerfahrungen, von Unsicherheit und Unsicherheitswahrnehmungen in Verbindung bringen, so steht auf der anderen Seite ein Bild der Moderne, das von wachsenden Möglichkeiten der Weltaneignung und Zukunftsgestaltung gekennzeichnet ist. Für letztere Deutung steht insbesondere Max Weber mit seiner wirkmächtigen These von der Entwicklung okzidentaler Rationalität, dem Glauben an die Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt – und damit letztlich auch der Zukunft – als Kernelement der westlichen Moderne und ihres Durchbruchs. Dahinter steht weniger die Vorstellung, dass es möglich sei, die der Moderne inhärente Unsicherheit zu beseitigen. Vielmehr müsse Unsicherheit als Normalität akzeptiert werden, um handhabbar zu sein.

Daran hat später Niklas Luhmann angeschlossen, der Sicherheit als eine "soziale Fiktion" bezeichnet: "Sicherheit gibt es nicht, außer im Moment. Nur Unsicherheit kann als dauerhaft vorgestellt werden." Für Luhmann ist Sicherheit in erster Linie Erwartungssicherheit angesichts einer offenen Zukunft. Die Herstellung von Erwartungssicherheit bedeutet für ihn vor dem Hintergrund der Moderne die Umdefinition von – nicht handhabbarer – Kontingenz in – handhabbare – Komplexität. Luhmanns Begriff der Erwartungssicherheit verweist auf die Temporalität von Sicherheit, darauf, dass sicherheitsbezogenes Denken und Handeln sich auf die Zukunft richtet. Hier wird Sicherheit im Wortsinne zum "Zukunftswert". Sicherheit als Erwartungssicherheit zu verstehen, heißt, von der Vorstellung absoluter Sicherheit Abschied zu nehmen, zugleich aber die Bedeutung von Sicherheitsvorstellungen, ja von Sicherheitsfiktionen zur Ermöglichung von sozialem Handeln zu akzeptieren. Der Soziologe Wolfgang Bonß hat in diesem Zusammenhang von "Sicherheitsunterstellung" gesprochen. Er schließt damit in gewisser Weise an den englischen Philosophen und Juristen Jeremy Bentham (1748–1832) an, der wie sein Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit nicht allein als Spannungsverhältnis betrachtete. Sicherheit ist für Bentham in dem Sinne die Voraussetzung von Freiheit, als der Einzelne nur dann frei die Ziele seines zukünftigen Handelns bestimmen und entsprechende Entscheidungen treffen könne, wenn er über die Sicherheit verfüge, dass die Bedingungen, unter denen er handelt, nicht zuletzt die normativen Bedingungen, sich nicht veränderten.

Die Temporalität von Sicherheit hat freilich auch andere Dimensionen. Sich verändernde Zeitwahrnehmungen und Zukunftsvorstellungen wirken auf individuelles und kollektives Sicherheitsbewusstsein, Sicherheitsverständnis und Sicherheitshandeln ein. Umgekehrt beeinflussen Wahrnehmungen von Sicherheit oder Unsicherheit Zeitwahrnehmungen oder Zukunftsvorstellungen. In welchem Maße, so lässt sich fragen, führt beispielsweise ein Bewusstsein von Sicherheit zu einer Ausdehnung von Zeit- und Zukunftshorizonten menschlichen Handelns? Und tragen nicht, umgekehrt, Gefühle von Unsicherheit oder Bedrohung zur Wahrnehmung knapper oder knapper werdender Zeit bei und produzieren damit Handlungs- oder Entscheidungsdruck? Bedrohungs- oder Unsicherheitskommunikation zeichnet sich durch das von ihr bewirkte, oftmals auch beabsichtigte Gefühl einer Zeitverknappung aus: "Wir müssen handeln, sonst ist es zu spät." Oder: "Es ist fünf vor zwölf." Gesellschaften geraten unter Stress oder werden unter Stress gebracht. Emotionalisierung und Dramatisierung tragen dazu bei. Das sind zentrale Elemente dessen, was im Jargon der Critical Security Studies "Versicherheitlichung" (securitization) genannt wird: Prozesse, in denen politische Themen zu Sicherheitsthemen gemacht werden, was nicht zuletzt größeren Handlungsdruck oder eine höhere Priorisierung impliziert, möglicherweise aber auch ein politisches Handeln, das die normalerweise geltenden normativen Regeln außer Kraft setzt (durch Ausnahmeregelungen, Notstandsgesetze und anderes mehr).

Unsicherheit und Identität

Dynamiken von Sicherheit und Unsicherheit sind eng verknüpft mit Identitäts- und Gemeinschaftsbildung. Wahrnehmungen von Unsicherheit oder Bedrohung können zur Gemeinschaftsbildung oder zur Herausbildung gruppenbezogener Identität beitragen. Dazu gehört beispielsweise der Zusammenhang beziehungsweise die Wechselwirkung zwischen äußerer Bedrohung (oder deren Beschwörung) und innerer, gruppenbezogener Gemeinschaftsbildung; dazu gehören auch Feindbilder. Dass Sicherheit oder Unsicherheit und Bedrohung in solchen Dynamiken eine wichtige Rolle spielen, zeigt beispielsweise die Nationalismusforschung zum 19. und 20. Jahrhundert. Dynamiken der Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit und Dynamiken der Nationsbildung, der Nationalisierung und eines sich steigernden Nationalismus hingen nicht zuletzt im Vorfeld der beiden Weltkriege eng zusammen.

Nicht vergessen werden sollte auch, in welchem Maße autoritäre politische Herrschaft bis hin zu politischer Repression, Gewaltanwendung und Terror bis heute nicht nur mit dem Imperativ von Ruhe und Ordnung gerechtfertigt wird, sondern auch mit dem Versprechen von Sicherheit, verstanden als Überwindung von Unordnung und Unsicherheit. Dazu kann man in der Gegenwart einen Blick auf Russland unter Wladimir Putin richten, auf China, beispielsweise auf das "Sicherheitsgesetz" für Hongkong von 2020, aber durchaus auch auf Polen oder Ungarn und nicht zuletzt auf die Politik Donald Trumps in den USA. Das Versprechen von "Law and Order" bedient ein gesellschaftliches Sicherheitsbedürfnis als Ruhebedürfnis. Historisch reicht das weit zurück und ließe sich in unzähligen Fallstudien analysieren: von den Sozialistengesetzen im Bismarck-Reich bis zum Antikommunismus im Kalten Krieg, denen jeweils spezifische Unsicherheitsszenarien zugrunde lagen.

Man muss aber vorsichtig sein mit dem Argument, Unsicherheit oder Bedrohungen würden stets nur gleichsam herbeigeredet, um Freiheit einzuschränken. So einfach liegen die Dinge nicht. Das zeigen beispielsweise die Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg, als eine Krise der Demokratie nicht nur Deutschland und die junge Weimarer Republik erfasste, sondern das gesamte Europa der Zwischenkriegszeit. Von den seit 1918 entstandenen neuen Demokratien, vor allem in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, existierte eineinhalb Jahrzehnte später keine mehr (mit Ausnahme der Tschechoslowakei). Faschistische und autoritäre Regime traten an ihre Stelle. Überall verdankte sich der Aufstieg antidemokratischer und antiliberaler Strömungen und Regime fundamentalen gesellschaftlichen Verunsicherungen, die zwar zum Teil schon in die Vorkriegszeit zurückreichten und mit den Spannungen und Krisen der Hochmoderne zu erklären sind. Diese Verunsicherungen aber intensivierten sich durch den Krieg und die Nachkriegskrisen noch weiter, erlangten Breitenwirkung und wurden politisch virulent – in den Verliererstaaten des Krieges und den jungen, ungefestigten Demokratien der Zwischenkriegszeit noch stärker als anderswo.

Ein "goldenes Zeitalter der Sicherheit", so hat es Stefan Zweig formuliert, sei mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen, die Menschen hätten das Wort "Sicherheit" als ein Phantom aus dem Vokabular gestrichen und sich daran gewöhnen müssen, ohne Boden unter den Füßen zu leben. Kulturelle und ökonomische Verunsicherung gingen dabei Hand in Hand und verstärkten sich wechselseitig. Ungewissheiten und Ängste bestimmten den Alltag vieler Menschen. Das ließ ein breites Streben nach Sicherheit und Eindeutigkeit entstehen, das die extremen politischen Ideologien mit ihren einfachen Antworten, ihrer Komplexitätsreduktion und ihren Schuldzuweisungen bedienten. Schon in den 1920er und 1930er Jahren erklärten nicht wenige Beobachter den Aufstieg und die Machtübernahme des Nationalsozialismus aus einer breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung von Unsicherheit.

Das Wegbrechen, die Erosion, zum Teil die Zerstörung traditioneller Gewissheiten – manche sprechen von Identitätsverlust, von Identitätsunsicherheit – führt nicht nur zu individueller und kollektiver Verunsicherung, sondern auch zur Entstehung von Bedrohungswahrnehmungen, ja zu Bedrohungsszenarien, die sich in dem Maße verstärken – und die in dem Maße politisch instrumentalisiert werden können –, in dem sich diese Identitätsunsicherheit mit sozialen Statusängsten, mit Abstiegs- und Deklassierungsängsten verbindet. Für die politische Radikalisierung in der Weimarer Gesellschaft und für den Aufstieg des Nationalsozialismus, wie er sich insbesondere in seinen Wahlerfolgen seit 1930 manifestierte, waren das entscheidende Ursachen.

Erosion der Sicherheit?

Es lässt sich kaum ignorieren, dass Menschen, nicht zuletzt in Deutschland, auch heute in einer Zeit von Identitäts- und Statusunsicherheiten leben, in einer Zeit, in der erneut – wie vermutlich seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr – traditionelle Gewissheiten erodieren und diese Erosion Angst und Verunsicherung erzeugt. Dahinter stehen jenseits aktueller Entwicklungen nicht zuletzt jene komplexen Prozesse, die wir mit der Chiffre "Globalisierung" bezeichnen, was sich auf die Durchsetzung des globalen – und digitalen – Finanzmarktkapitalismus ebenso bezieht wie auf kulturelle Dynamiken und einen revolutionären Wandel von Kommunikationsmöglichkeiten und Kommunikationsformen. Traditionelle Identitäten, für viele immer noch stark im nationalen Rahmen und nationalkulturell ausgeformt, verlieren an Bedeutung beziehungsweise werden herausgefordert, ohne dass stabile neue Identitäten – europäisch oder gar global, aber auch multikulturell – an ihre Stelle getreten wären. Das verstärkt die Beschwörung überschaubarer Identitätsräume oder präziser: die Beschwörung des Rückzugs auf überschaubare, auf vertraute Identitätsräume: die Region, auch in ihrer Wahrnehmung und Darstellung als "Heimat", vor allem aber die Nation. Auch daraus speist sich der gegenwärtige Nationalismus, der die Nation als Schutzraum darstellt, als protektionistische Nation. Es geht dabei auch um Schutz vor Komplexität, der sich verbinden lässt – und vielfach verbunden wird – mit Vorstellungen, und hier schließt sich der Kreis, von Homogenität und der Bedrohung dieser Homogenität durch Fremdes und Anderes, durch Fremde und Andere.

"Sicherheit" ist ein politischer Wertbegriff, dessen Bedeutung sich nicht in der Spannung von Sicherheit und Freiheit erschöpft. Und das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit ist nicht nur und nicht immer ein Verhältnis der Spannung. Das zeigen all jene Überlegungen in der politischen Theorie, die Sicherheit als Bedingung von Freiheit, als Voraussetzung von freiem Handeln ansehen. Sicherheit ist zum Wertbegriff geworden in historischen Prozessen, in denen insbesondere vor dem Horizont der Moderne Unsicherheit beziehungsweise die Wahrnehmung und Erfahrung von Unsicherheit zugenommen hat. Gerade durch den – tatsächlichen oder vermeintlichen – Mangel an Sicherheit wird Sicherheit zum Wert. Der Abschied von der Vorstellung absoluter Sicherheit, der sich untrennbar mit der Moderne verbindet, macht das Streben nach Sicherheit zu einer wichtigen gesellschaftlichen und politischen Kraft, ohne die wir Geschichte und Gegenwart moderner Gesellschaften nicht analysieren und erklären können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag greift Überlegungen auf, die ich an anderer Stelle breiter entfaltet habe. Vgl. z.B. Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018.

  2. Vgl. dazu ders., Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.

  3. Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: APuZ 50/2010, S. 9–16, hier S. 9.

  4. Michael Dillon, Politics of Security. Towards a Political Philosophy of Continental Thought, London 1996, S. 12.

  5. Vgl. Stefan Kaufmann, Zivile Sicherheit. Vom Aufstieg eines Topos, in: Leon Hempel et al. (Hrsg.), Sicherheitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2011, S. 101–123, hier S. 101.

  6. Zit. nach Der Spiegel, 23.4.2011, S. 31.

  7. Vgl. Jeff Huysmans, Security! What Do You Mean? From Concept to Thick Signifier, in: European Journal of International Relations 2/1998, S. 226–255, hier S. 232, S. 234.

  8. Auch die Etablierung einer Historischen Sicherheitsforschung ist Ausdruck dieses verstärkten Interesses. Vgl. beispielsweise den Sonderforschungsbereich "Dynamiken der Sicherheit" der Universitäten Marburg und Gießen unter Externer Link: http://www.sfb138.de sowie als Überblick Conze (Anm. 1).

  9. Einführend zu den Critical Security Studies siehe z.B. Columba Peoples/Nick Vaughan-Williams, Critical Security Studies. An Introduction, London 2015; J. Peter Burgess (Hrsg.), The Routledge Handbook of New Security Studies, London 2010.

  10. Vgl. Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer "modernen Politikgeschichte" der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2005, S. 357–380.

  11. Siehe beispielsweise Wolfgang Bonß, Die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit, in: Ekkehart Lippert et al. (Hrsg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997, S. 21–41, hier S. 21.

  12. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1973, S. 341.

  13. Als ein solcher Grundbegriff der politisch-sozialen Sprache hat "Sicherheit" auch Eingang gefunden in die "Geschichtlichen Grundbegriffe". Vgl. Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862.

  14. Vgl. Conze (Anm. 10), S. 363; ders. (Anm. 1), S. 71–81; Christopher Daase, Sicherheitskultur als interdisziplinäres Forschungsprogramm, in: ders. et al. (Hrsg.), Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt/M. 2012, S. 23–44.

  15. Siehe dazu beispielsweise Regina Kreide/Andreas Langenohl (Hrsg.), Conceptualizing Power in Dynamics of Securitization. Beyond State and International System, Baden-Baden 2019.

  16. Die folgende Argumentation ist zwangsläufig europäisch-westlich, weil sie sich auf den Aufstieg des modernen Staates europäischer Provenienz bezieht, der freilich seit dem 19. Jahrhundert zum globalen Exportprodukt wurde. Auch deshalb ist die sozialwissenschaftliche und historische Sicherheitsforschung, wie sie sich in jüngster Zeit entwickelt hat, theoretisch und konzeptionell stark westlich-europäisch ausgerichtet. Das beginnt sich erst allmählich zu ändern.

  17. Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), zit. nach Conze (Anm. 13), S. 852.

  18. Vgl. Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, München 1995, S. 24.

  19. John Dewey, The Quest for Certainty. A Study in the Relation of Knowledge and Action, London 1929, S. 3; siehe auch Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit: Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, in: Stephan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/M.–New York 2003, S. 72–104, hier S. 80.

  20. Vgl. Reinhart Koselleck, "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989, S. 349–375.

  21. Vgl. Bonß (Anm. 18), S. 26.

  22. Siehe dazu Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, St. Gallen 1990, S. 6; ders., Die Welt als Wille ohne Vorstellung. Sicherheit und Risiko aus der Sicht der Sozialwissenschaften, in: Die politische Meinung 31/1986, S. 18–21; ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984; vgl. auch Bonß (Anm. 18), S. 90f.

  23. Dazu allgemeiner Christoph Kampmann et al. (Hrsg.), "Security Turns Its Eye Exclusively to the Future". Zum Verhältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte, Baden-Baden 2017.

  24. Bonß (Anm. 18), S. 91.

  25. Vgl. ebd.; siehe auch Jeremy Bentham, Principles of the Civil Code, in: John Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Bd. 1, Edinburgh 1843, S. 302.

  26. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Bedrohung bzw. Bedrohungskommunikation und Zeitverknappung Ewald Frie/Mischa Meier, Bedrohte Ordnungen. Gesellschaften unter Stress im Vergleich, in: dies. (Hrsg.), Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften, Tübingen 2014, S. 1–27, hier S. 4, S. 6.

  27. Grundlegend dazu Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hrsg.), On Security, New York 1995, S. 46–87; Barry Buzan et al., Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998. Vgl. auch Conze (Anm. 1), S. 82–94.

  28. Vgl. ebd., S. 150ff.

  29. Vgl. Tatjana Tönsmeyer/Annette Vowinckel, Sicherheit und Sicherheitsempfinden als Thema der Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen 2/2010, S. 163–169, hier S. 166.

  30. Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/M. 1994 (1944), S. 18.

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ist Professor für Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg.
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