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Im Osten nichts Neues | Krieg in Europa | bpb.de

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Im Osten nichts Neues Was der Westen übersah – oder ignorierte - Essay

Andrii Portnov

/ 12 Minuten zu lesen

Die russische Invasion in die Ukraine im Februar 2022 kam für viele in Westeuropa überraschend. Vielleicht noch überraschender war der entschlossene Widerstand der Ukrainer. Doch warum? Putins Weltsicht und die ukrainische Realität wurden offenbar lange ignoriert.

Viele Dinge beginnt man erst nach einer Katastrophe zu verstehen. So kam etwa die Invasion Russlands in die Ukraine am Morgen des 24. Februar 2022 für die meisten Menschen in Westeuropa überraschend. Vielleicht noch überraschender aber war der entschlossene Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer, der die Umsetzung der russischen Blitzkriegspläne unmöglich machte und dem versuchten "Enthauptungsschlag" standhielt. Doch warum waren so viele überrascht? Wieso haben Deutschland und die westliche Welt insgesamt sowohl die Politik Russlands als auch den Zustand der ukrainischen Gesellschaft so falsch eingeschätzt? Und was ist das Wesen von Putins Aggression?

Geschichtslektion von Putin

Am 30. Juni 2021 behauptete der Präsident der Russländischen Föderation, Wladimir Putin, in seiner jährlichen Pressekonferenz, dass Ukrainer und Russen "ein einziges Volk" seien, und kündigte an, einen längeren Artikel zu diesem Thema zu schreiben. Der Text erschien knapp zwei Wochen später auf der Website des Kremls. Seine Hauptaussage ist einfach: Putin zufolge ist das ukrainische National- und Staatsprojekt eine junge, nicht früher als auf das Ende des 19. Jahrhunderts zu datierende Erfindung externer Mächte und eines kleinen Teils der lokalen Eliten, die sich gegen Russland und den Willen der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung gestellt hätten. Dieselben Kernpunkte – die Ukraine als gescheiterter Staat, der vollständig vom Westen, in erster Linie von den USA und der Nato, abhängig sei – wiederholte Putin in einem fast einstündigen Vortrag, der drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine anlässlich der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im russischen staatlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

Nach dieser Rede gab es keinen Zweifel mehr daran, dass Putins Invasionsentscheidung bereits gefallen war. Aus heutiger Sicht erscheint es sogar, dass diese Schlussfolgerung schon aus der Lektüre des "historischen Artikels" im Sommer 2021 hätte gezogen werden müssen. Denn Putin hatte ihn ganz sicher nicht geschrieben, um eine geschichtswissenschaftliche Fachdiskussion anzustoßen. Er hatte zum einen den Schwerpunkt so weit wie möglich auf die manipulative Frage "historischer Rechte" gelegt; zum anderen hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Ukraine als ein Feld der Konfrontation mit dem Westen betrachtet. Die Veröffentlichung war praktisch mit der Fertigstellung der Pläne für den Start der Ostsee-Pipeline "Nord Stream 2" zusammengefallen, auf deren "rein wirtschaftliche" Bedeutung die deutsche Regierung bis zum 24. Februar 2022 beharrte. Dabei hatten selbst dem Kreml nahestehende Außenpolitikexperten den Artikel als Eingeständnis des "Endes der liberalen Ordnung" und der Rückkehr der Welt zum "nackten Konkurrenzkampf", verbunden mit dem "Zwang der ehemaligen Peripherie zur Loyalität gegenüber Moskau", interpretiert.

Der Artikel über die Ukraine war nicht die erste "historische Enthüllung" Putins. Vielmehr ist es bezeichnend, dass auch seine früheren Reden im Westen weitgehend ignoriert und keine politischen Schlüsse daraus gezogen wurden. So leugnete Putin zum Beispiel im Juni 2020 in einem – auf Englisch – veröffentlichten Artikel zum Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges die Verantwortung der Sowjetunion für den Molotow-Ribbentrop-Pakt und die dadurch ermöglichte Zerstörung des polnischen Staates im September 1939. Gleichzeitig argumentierte er, dass die aggressive Politik Polens zusammen mit der "nationalen Demütigung" Deutschlands nach 1918 eine der Vorbedingungen für den Krieg gewesen war.

Es hat wenig Sinn, Putins Glaubenskonzepte mit wissenschaftlichen Argumenten zu widerlegen. Aber es ist eine wichtige Forschungsaufgabe, die zugrundeliegenden Quellen zu verstehen. Was Putin sagt und schreibt, ist nicht originell. Insbesondere seine Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 erinnert an einigen Stellen an die Thesen zur Ukraine aus Alexander Solschenizyns Manifest "Russlands Weg aus der Krise" von 1990. Der Literaturnobelpreisträger geht in diesem zutiefst konservativen und zuweilen imperialistischen Text ebenfalls davon aus, dass die Ukraine zur russischen Geschichte und zum russischen Volk gehört, und bezeichnet die Unabhängigkeit des Landes beziehungsweise seine "Teilung" von Russland als "Folge der Verfinsterung in den kommunistischen Jahren". Der Gedanke, dass die Ukraine sich unabhängig von Russland entwickeln könnte, scheint Putin ebenso fern zu liegen wie vielen anderen Vertretern des konservativen slawophilen Denkens. Vielmehr herrscht dort die Ansicht vor, den Ukrainern sei die Idee einer selbstständigen Entwicklung von außen aufgezwungen worden. Nach dieser Logik ist eine Ukraine, die nicht prorussisch ist, unweigerlich das Produkt einer externen Intrige.

Andere Quellen von Putins Konzepten gleichen mitunter mythologischen Erzählungen. Bereits 2012 argumentierte der damalige russische Kulturminister Wladimir Medinskij: "Ich glaube, dass nach all den Katastrophen, die Russland im 20. Jahrhundert heimgesucht haben, vom Ersten Weltkrieg bis zur Perestrojka, die Tatsache, dass Russland immer noch überlebt hat und sich entwickelt, darauf hindeutet, dass unser Volk ein zusätzliches Chromosom hat." Es ist kein Zufall, dass gerade Medinskij, der dafür bekannt ist, die russische Geschichte auf vielfältige und skandalöse Weise für politische Zwecke zu instrumentalisieren, heute die russische Delegation bei den Verhandlungen mit der Ukraine anführt.

Der russische Literaturwissenschaftler und Oxford-Professor Andrej Sorin wies kürzlich darauf hin, dass die offizielle Interpretation der Ereignisse zwischen 1989 und 1991 das Bewusstsein der russischen Öffentlichkeit "nicht als Befreiung Russlands vom sowjetischen Totalitarismus und seinem imperialen Erbe, sondern als Niederlage gegen den Westen im Kalten Krieg" beherrscht – noch dazu als eine Niederlage, die durch Täuschung erreicht worden sei. Nach dieser Darstellung glaubte Russland an ein gemeinsames europäisches Haus, stimmte der deutschen Wiedervereinigung zu und erhielt im Gegenzug eine Nato-Erweiterung bis an seine Grenzen.

Dieses Narrativ wird kultiviert und verbreitet, seit Putin Präsident ist. Am 30. Dezember 1999, einen Tag bevor sein Amtsvorgänger Boris Jelzin seinen vorzeitigen Rücktritt ankündigte, veröffentlichte Putin seinen heute weitgehend vergessenen Artikel "Russland zur Millenniumswende". Es ging darin vor allem um Wirtschaftsreformen, aber er nannte bereits die wichtigsten Bestandteile der "russländischen Idee": Patriotismus, Souveränität, Staatlichkeit und "die Hinwendung zu kollektiven Lebensformen" im Gegensatz zu dem im Westen vorherrschenden Individualismus. Kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident im Jahr 2000 war eine seiner ersten symbolpolitischen Entscheidungen die Wiedereinführung der Hymne der UdSSR als Hymne Russlands. Dass er die Auflösung der Sowjetunion einige Jahre später als "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" bezeichnete, darf mittlerweile als bekannt vorausgesetzt werden. Seine Worte haben die vorherrschende Volksstimmung sowohl geprägt als auch erraten.

Eine wichtige Rolle für die Etablierung dieser Weltsicht spielt auch das militärische Eingreifen der Nato im ehemaligen Jugoslawien 1999, was später zur Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo führte. Für das postsowjetische Russland waren diese Ereignisse "ein Moment der Wahrheit". Danach empfand die Führung Russlands jede Nato-Osterweiterung als "Vorbereitung einer Aggression". Es ist bezeichnend, dass Putin bei einem Treffen mit UN-Generalsekretär António Guterres am 26. April 2022 das Thema Kosovo erneut ansprach und die damalige Nato-Operation direkt mit der laufenden russischen "Spezialoperation" in der Ukraine verglich.

Bereits 2007 hatte Putin seine programmatische Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit den Worten beendet: "Russland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte, und es hat immer das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik zu führen." Dass er hierfür auch den Einsatz militärischer Mittel vorsah, zeigten die folgenden Jahre: Kurz nach dem Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008, auf dem der Ukraine und Georgien eine Perspektive für die Aufnahme in die Allianz eröffnet wurde, marschierten russische Truppen in Georgien ein. Es folgte die Annexion der Krim im Frühjahr 2014, und am 7. Oktober 2015, Putins 63. Geburtstag, wurden Raketen auf Stellungen der syrischen Opposition abgefeuert. All diesen militärischen Entscheidungen liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Souverän – oder, um eine Formulierung aus der russischen Geschichte zu verwenden, "der wahre Zar" – in seinem Recht, Gewalt anzuwenden und sich über formale internationale Rechtsnormen hinwegzusetzen, autark ist.

Die Annexion der Krim führte zu einem Zusammenschluss der russischen Gesellschaft um Putin als "Landsammler". Dieser sogenannte Krim-Konsens markiert einen Moment der neuen Legitimierung seines Regimes. Sie fand ihre rechtliche Fortsetzung in der Verfassungsreform von 2020, die es Putin ermöglicht, bis 2036 Präsident zu bleiben – de facto also auf Lebenszeit. Der Einmarsch in die Ukraine 2022 sollte seine Legitimität offenbar nochmals stärken. Bestätigung erhoffte sich der russische Präsident dabei vor allem durch einen leichten und überzeugenden Sieg – nicht nur über die Ukraine, sondern über ihren vermeintlichen "Oberherrn", den kollektiven Westen. Ein rascher Sieg sollte zudem die endgültige Anerkennung der historischen Selbstständigkeit Russlands bewirken.

Geschichtslektion für Putin

Bei seiner Entscheidung für eine militärische Invasion in die Ukraine wird Putin die Stimmung in der russischen Öffentlichkeit berücksichtigt haben. Der russische Politologe Dmitri Furman stellte bereits 2010 fest, dass sich das russische Nationalbewusstsein weder aus der imperialen noch aus der sowjetischen Gefangenschaft befreit habe – die postsowjetischen Grenzen der Russländischen Föderation würden als unnatürlich und historisch ungerecht betrachtet. Dies erlaube es den politischen Eliten Russlands, die autoritäre Entwicklung ihres Landes mit der Behauptung zu rechtfertigen, dass andernfalls, also bei mehr politischer Freiheit, die Gefahr eines Staatszerfalls bestünde. Auf dem Argument, dass es einer "starken Hand" bedürfe, weil sonst "demokratischer Wankelmut" drohe, basierte auch die Erwartung, dass sich der Effekt des "Krim-Konsenses" wiederholen würde. Eine Voraussetzung für die erfolgreiche Mobilisierung der Gesellschaft für eine militaristische Außenpolitik ist jedoch ein "Sieg", vorzugsweise mit minimalen Verlusten. Ein solcher, soviel steht heute bereits fest, ist indes nicht mehr erreichbar.

Es ist bemerkenswert, dass es in Russland verboten ist, den Krieg in der Ukraine als solchen zu bezeichnen. Es ist lediglich die Rede von einer militärischen "Spezialoperation". Und diese genießt in der russischen Bevölkerung beträchtliche Unterstützung. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass eine vollwertige soziologische oder demoskopische Untersuchung mit Methoden, die für friedliche demokratische Gesellschaften entwickelt wurden, im heutigen Russland kaum möglich ist. Daher ist bei der Bewertung der kolportierten gesellschaftlichen Einstellungen Vorsicht geboten und unter anderem die Dynamik der Situation zu berücksichtigen. Offensichtlich ist es in der ersten Phase des Krieges gelungen, eine patriotische Mobilisierung in Gang zu setzen. Das heißt aber nicht, dass das Pendel nicht auch in die andere Richtung ausschlagen kann. Dies gilt umso mehr, als militärische Misserfolge in der russischen Geschichte schon mehrfach zu Auslösern für politische Veränderungen wurden: So folgten auf den gescheiterten Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts die liberalen Reformen Alexanders II., und die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 trug entscheidend zum Legitimationsverlust von Nikolaus II. bei, was zur Revolution von 1905 und 1917 schließlich zu dessen Abdankung führte.

Unverstandene Ukraine

1991 wurden alle in der Ukraine lebenden Menschen, unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Herkunft, zu vollwertigen Bürgerinnen und Bürgern des jungen Staates. Damals sagten nicht wenige Beobachter den baldigen Zusammenbruch des Landes voraus und verwiesen auf die regionalen "Spaltungen". Die These von den "zwei Ukrainen" und die Überzeugung, dass die russischsprachige Bevölkerung politisch loyal zu Russland stehen würde, erschien vielen plausibel. Doch schon die ersten Tage von Putins Krieg haben gezeigt, wie simpel und weit hergeholt diese Vorstellungen sind. Andernfalls wären die russischsprachigen Ukrainer massenhaft auf die Seite der Besatzer übergelaufen und hätte die ukrainische Regierung dem Druck der russischen Aggression bereits nach kurzer Zeit nachgegeben. Warum ist es nicht passiert?

Letztlich ist es Russlands Angriff, der endgültig vor Augen geführt hat, dass sich in der Ukraine eine eigene Nation als spezifisches Modell politischer Loyalität und Identität herausgebildet hat, die nicht auf Sprache oder Religion reduziert werden kann. Auch im Angesicht der Invasion erwies sich die Vielfalt nicht als Schwäche: Religiöse und sprachliche Unterschiede haben die Einheit des Landes nicht beeinträchtigt. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, sich endlich von vereinfachenden Übertragungen des schweizerischen oder kanadischen Modells auf die ukrainische Realität zu befreien: In der Ukraine gibt es keine klare geografische oder historische Grenze zwischen Russisch und Ukrainisch. Verschiedenen Erhebungen zufolge sprechen jeweils etwa 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung nur oder überwiegend Russisch oder nur Ukrainisch, und etwa 20 Prozent geben an, Ukrainisch und Russisch gleichberechtigt zu verwenden. In der Ukraine ist ein besonderes Modell der situativen Zweisprachigkeit zu beobachten, bei der das Ukrainische im Bildungswesen dominiert und das Russische in Politik und Wirtschaft. Am wichtigsten ist, dass in der Ukraine kein direkter Zusammenhang zwischen der bevorzugten Sprache und der politischen Ausrichtung der jeweiligen Person besteht. Insbesondere der letztgenannte Umstand macht Putins "Argument", Russischsprachigkeit bedeute eine prorussische Einstellung, obsolet und zeigt, dass es vollkommen losgelöst von der ukrainischen Alltagsrealität ist.

Es bedarf einer neuen, angemessenen Beschreibung der ukrainischen Vielfalt. Es ist an der Zeit, stereotype Phrasen über eine "drohende Spaltung" als solche zu entlarven und die Vielfalt des Landes – und zwar keineswegs nur die sprachliche – als entscheidende Quelle des politischen Pluralismus neu zu denken. Im Gegensatz zu den Nachbarländern Belarus und Russland hat sich in der Ukraine im Laufe der postsowjetischen Geschichte eine Tradition des politischen Wettbewerbs und des ständigen Machtwechsels entwickelt. Seit 1991 hatte das Land sechs Präsidenten, und nur einer von ihnen, Leonid Kutschma, schaffte es, für eine zweite Amtszeit wiedergewählt zu werden. Der derzeitige Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde 2019 im zweiten Wahlgang mit deutlicher Mehrheit in der gesamten Ukraine gewählt. Seine Entscheidung, nach der russischen Invasion entgegen dem dringenden Rat führender westlicher Geheimdienste in Kyjiw zu bleiben, ist in ihrer Symbolkraft kaum zu überschätzen. Zudem gilt Selenskyj vielen als Verkörperung der ukrainischen Vielfalt: Er stammt aus einer russischsprachigen jüdischen Familie im Südosten des Landes und widerlegt damit leibhaftig die Kreml-Propaganda von der "Machtergreifung der Nazis".

Dennoch schlagen sich einige Hauptaussagen der Kreml-Propaganda immer wieder auch im westeuropäischen und deutschen Diskurs nieder – sei es in Expertenkreisen oder in der allgemeinen Öffentlichkeit. So gibt es eine anhaltende Identifizierung der Ukraine mit Nationalismus, während gleichzeitig die Existenz der ukrainischen Nation selbst bisweilen infrage gestellt wird. Und in westlichen akademischen und Medienkreisen wurde fast ebenso oft wie in Russland von der "tiefen Spaltung" der Ukraine, von "zwei Ukrainen" sowie von der Verknüpfung sprachlicher Präferenzen mit geopolitischen Ausrichtungen gesprochen. Versuche, auf die Einfachheit und Unzulänglichkeit solcher Akzente hinzuweisen, haben wenig Wirkung gezeigt.

Es bleibt zu hoffen, dass nach dem 24. Februar 2022 das Bedürfnis nach einer neuen Sprache zur Beschreibung der ukrainischen Realität keinen solchen Widerstand mehr hervorrufen wird. Die Suche danach umfasst unter anderem auch eine kritische Analyse der diskursiven Prozesse in der heutigen Ukraine, einschließlich des zunehmenden Einflusses postkolonialer Ansätze in der Betrachtung der eigenen Geschichte. Die postkoloniale Perspektive anstelle der Mythologie der "brüderlichen Völker" ermöglicht eine aussagekräftige vergleichende Analyse, die wiederum nicht im Widerspruch zur kritischen Empathie mit der Ukraine – einer Gesellschaft und einem Land im Krieg – steht.

Eine entscheidende Voraussetzung für ein Umdenken ist die volle Anerkennung ihrer historischen und kulturellen Handlungskompetenz. Es ist wiederholt festgestellt worden, dass die deutsche Stereotypisierung der Ukraine seit Jahren auf starken historischen Komplexen in Bezug auf Russland und die USA beruht. Mit anderen Worten: Die Ukraine diente oft als Vorwand, um die deutsche Haltung gegenüber Russland und den USA zum Ausdruck zu bringen. Das Recht der Ukraine, ein selbstständiges Subjekt zu sein, gilt nicht nur für die aktuelle politisch-militärische Situation, sondern erstreckt sich auch auf seine vielschichtige und komplexe Geschichte, einschließlich der ukrainisch-deutschen und ukrainisch-russischen Beziehungen. Diese nicht nur zu untersuchen, sondern die Erkenntnisse künftig stärker als bisher einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, wird eine wichtige Aufgabe für die Sozial- und Geisteswissenschaften sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Wladimir Putin, Pro istoryčnu jednist’ rosijan ta ukrainciv [Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern], 12.7.2021, Externer Link: http://kremlin.ru/events/president/news/66182.

  2. Vgl. ders., Rede an die Nation vom 21.2.2022, Externer Link: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022.

  3. Fjodor Lukjanov, Real’noe dobrososedstvo [Echte Nachbarschaft], 14.7.2021, Externer Link: http://www.kommersant.ru/doc/4899556.

  4. Wladimir Putin, The Real Lessons of the 75th Anniversary of World War II, 18.6.2020, Externer Link: https://nationalinterest.org/feature/vladimir-putin-real-lessons-75th-anniversary-world-war-ii-162982.

  5. Alexander Solschenizyn, Russlands Weg aus der Krise. Ein Manifest, München 1990, S. 16.

  6. Wladimir Medinskij, U naroda Rosii imejetsia odna lischniaja chromosoma [Das Volk Russlands hat ein zusätzliches Chromosom], 21.1.2013, Externer Link: http://www.bbc.com/russian/rolling_news/2013/01/130121_rn_medinsky_usa_interview.

  7. Andrej Zorin, Ustarevschije predstalenija stanovjatsja obosnovaniem massovogo ubijstva ljudej [Veraltete Vorstellungen werden zu einer Rechtfertigung für Massenmord], 30.3.2022, Externer Link: https://meduza.io/feature/2022/03/30/ustarevshie-predstavleniya-stanovyatsya-ne-teoreticheskim-zabluzhdeniem-a-obosnovaniem-massovogo-ubiystva-lyudey.

  8. Vgl. Wladimir Putin, Rossija na rubeže tysiačeletij [Russland zur Millenniumswende], 30.12.1999, Externer Link: http://www.ng.ru/politics/1999-12-30/4_millenium.html.

  9. Vjačeslav Morosov, Rossija i drugie. Identičnost’ i granicy političeskogo soobšestva [Russland und andere. Identität und Grenzen der politischen Gemeinschaft], Moskau 2009, S. 315–382.

  10. Vystuplenie Vladimira Putina na Münchenskoj konferencji po voprosam politiki bezopasnosti [Die Rede von Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz], 10.2.2007, https://ru.wikisource.org/wiki/Речь_Путина_в_Мюнхене_(2007).

  11. Vgl. Sergej Medvedev, Park Krymskogo perioda. Chroniki tretjego sroka [Krim-Park. Chronik der dritten Amtszeit], Moskau 2017, S. 132.

  12. Vgl. Dmitri Furman, Ot Rossijskoj imperii k russkomu natsionalnomu gosudarstvu [Vom Russländischen Reich zum russischen Nationalstaat], in: Neprikosnovennyj zapas 5/2010, S. 47.

  13. Zur Sprachpolitik und Sprachsituation in der Ukraine siehe Michael Moser, Language Policy and the Discourse on Languages in Ukraine under President Viktor Yanukovych, Stuttgart 2013; Volodymyr Kulyk, Language Policy in Ukraine: What People Want the State to Do, in: East European Politics and Societies 2/2013, S. 280–307; Volodymyr Kulyk, Einheit und Identität. Sprachenpolitik nach dem Majdan, in: Osteuropa 5–6/2014, S. 227–238.

  14. Andrii Portnov, Postsowjetische Hybridität und "Eurorevolution", in: APuZ 47–48/2014, S. 3–8; ders., Post-Maidan Europe and the New Ukrainian Studies, in: Slavic Review 4/2015, S. 723–731.

  15. Vgl. frühere Versuche, dieses Thema anzusprechen: Stephen Velychenko, Post-Colonialism and Ukrainian History, in: Ab Imperio 1/2004, S. 391–404; Serhy Yekelchyk, The Location of Nation: Postcolonial Perspectives on Ukrainian Historical Debates, in: Australian Slavonic and East European Studies 1–2/1997, S. 161–184. Siehe auch Stephen Velychenko, Painting Imperialism and Nationalism Red. The Ukrainian Marxist Critique of Russian Communist Rule in Ukraine. 1918–1925, Toronto 2015; Mykola Riabchuk, The Fence of Metternich’s Garden. Essays on Europe, Ukraine and Europeanization, Stuttgart 2021.

  16. Vgl. Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten. 1900–1945, München 2005; Karl Schlögel (Hrsg.), Russian-German Special Relations in the Twentieth Century. A Closed Chapter?, Oxford–New York 2006.

  17. Vgl. Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, Berlin 2002.

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ist Professor für Entangled History of Ukraine an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.
E-Mail Link: portnov@europa-uni.de