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"Nein, ich bin nicht Charlie"

Bernd Ridwan Bauknecht

/ 3 Minuten zu lesen

Tausende Menschen weltweit zeigten nach dem Anschlag in Paris 2015 ihre Anteilnahme unter dem Slogan "Je suis Charlie", wie hier auf dem Platz der Republik. (© picture-alliance/AP)

Einer der islamistischen Terroranschläge in Europa, die sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben, ereignete sich Anfang 2015 in Paris. Zwei bewaffnete Angreifer stürmten die Räume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Unter dem Vorwurf der Veröffentlichung islamfeindlicher Karikaturen erschossen sie dort zehn Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin und später auf der Flucht einen Polizisten. Einen Tag später tötete ein weiterer zum Netzwerk der Attentäter gehörender Täter eine Polizistin und überfiel am Folgetag einen jüdischen Supermarkt. Er nahm dabei vier Geiseln mit sich in den Tod.

Auf den Anschlag folgte, vor allem aus der westlichen Welt, eine Solidaritätsbekundung, deren Ausmaß an die Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 erinnerte: Zahlreiche Medien, Politiker und Privatpersonen bekundeten in Interviews, in sozialen Medien und auf Demonstrationen, mit Aufklebern oder Anstecknadeln "Ich bin Charlie". Aber nicht alle empfanden so. Ein Frankfurter Rapper kommentierte die Anschläge mit den Worten "Nein, ich bin nicht Charlie! Sondern das gestohlene, besetzte Palästina … Ich bin das zerstörte Gaza …" und erhielt hierfür bei Facebook mehr als 6.000 Likes.

Reaktionen wie diese sind ein Beispiel für das speziell unter jungen Muslimen verbreitete Gefühl, dass ihre eigenen Sichtweisen und Interessen kein Gehör finden. Gerade arabischstämmige Jugendliche beklagen häufig, dass die verschiedenen Konflikte im Nahen Osten, die Krisen in der arabischen Welt und die Rolle, die Europa oder die USA dabei spielen, im Schulunterricht kaum angesprochen würden. Ähnlich argumentieren gerade in Deutschland auch viele türkischstämmige Jugendliche in Bezug auf die Türkei.

QuellentextIntegration von Muslimen: Ergebnisse neuerer Studien

Integration von muslimischen Einwanderern in der zweiten Generation schneidet Deutschland im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten gut ab. Das ist das Ergebnis einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung [im August 2017] in Gütersloh vorgestellt hat.

Verglichen wird die Situation von Muslimen, die vor 2010 nach Deutschland, in die Schweiz, nach Österreich, Frankreich und Großbritannien kamen. Bewertet werden Sprachkompetenz, Bildung, Arbeit und soziale Kontakte.

Dabei bekommt Deutschland mit Abstand die besten Noten bei der Integration der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt. Bei Arbeitslosenquote und Vollzeitstellen gibt es der Studie zufolge kaum noch Unterschiede zum Bevölkerungsschnitt. 73 Prozent der in Deutschland geborenen Kinder muslimischer Einwanderer wachsen demnach mit Deutsch als erster Sprache auf. Auch wird das Niveau der Schulabschlüsse immer besser.

Trotzdem gibt es auch Minuspunkte. So verlassen in Frankreich nur 11 Prozent der Muslime vor dem 17. Lebensjahr ohne Abschluss die Schule. In Deutschland sind es 36 Prozent. Als Grund vermuten die Forscher unterschiedliche Schulsysteme. So lernen Kinder in Frankreich länger gemeinsam, und Einwanderer haben auch durch die Kolonialgeschichte oft gute Französisch-Kenntnisse. Die höhere Abschlussquote schützt Muslime in Frankreich aber nicht vor einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit und weniger Vollzeitstellen.

"Der internationale Vergleich zeigt, dass nicht Religionszugehörigkeit über die Erfolgschancen von Integration entscheidet, sondern staatliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen", sagt Stephan Vopel, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung.

So sind die rund 4,7 Millionen Muslime in Deutschland – das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 5,7 Prozent – der Untersuchung zufolge gut in den Arbeitsmarkt integriert. Rund 60 Prozent von ihnen arbeiten wie der Bundesdurchschnitt Vollzeit. Die Arbeitslosenquote bei Muslimen liegt sogar zwei Prozentpunkte unter der von Nichtmuslimen (5 zu 7 Prozent). Schwerer haben es in Deutschland nur hochreligiöse Muslime – im Gegensatz zu Großbritannien, wo diese Gruppe bei gleicher Qualifikation in den gleichen Berufsfeldern vertreten ist wie die weniger frommen Glaubensbrüder.

Detlef Pollack, Religionssoziologe des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Uni Münster übte Kritik an der Studie. Nach seiner Ansicht schauen die Autoren zu einseitig auf die Bedingungen in den aufnehmenden Ländern wie Schulsystem, Arbeitsmarkt und historisches Erbe. "Wir müssen aber doch auch berücksichtigen, was die, die kommen, von sich aus mitbringen, damit die Integration funktioniert”, sagt der Professor der Deutschen Presse-Agentur. Auch sei ein Vergleich der Muslime in den verschiedenen Ländern in Westeuropa ganz schwer, da sie aus unterschiedlichen Ländern immigriert seien.

Pollack vermisst auch eine Bewertung der Integration aus Sicht der Muslime. Nach einer Studie der Uni Münster zu Türkeistämmigen aus dem Jahr 2016 fühlt sich die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe in Deutschland nicht anerkannt.

"Integration von Muslimen: Gute Noten für Deutschland", in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 24. August 2017

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Integration von Muslimen in Deutschland (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 35 236)







Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo meldeten mehr als 200 französische Schulen, dass sich manche muslimische Schülerinnen und Schüler geweigert hätten, an der Schweigeminute zum Gedenken an die Pariser Attentatsopfer teilzunehmen. Sie hätten es als ungerecht empfunden, dass Anschlagsopfern in den Herkunftsländern ihrer Eltern nicht gedacht werde. Seltener seien auch extreme Positionen laut geworden, wonach den Opfern eine Mitschuld an ihrem Schicksal zugesprochen wurde, weil diese Karikaturen des Propheten veröffentlicht hatten.

An diesem Beispiel zeigen sich Entfremdungs- und Ohnmachtsgefühle, die radikale Kräfte ausnutzen können, indem sie eine Religion, den Islam, für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Dabei finden sie Anhänger – junge Menschen, die bereit sind, strengsten Regeln zu folgen. Die meisten lehnen Gewalt ab. Manche radikalisieren sich aber auch, schließen sich Gruppierungen im Ausland an oder nehmen dort sogar an Kampfhandlungen teil.

QuellentextIslamismus als Identitätsstifter?

[…] ZEIT: […] Was hat Sie als praktizierenden Analytiker dazu bewegt, die […] beiden einander so fernen geistigen Welten [Psychoanalyse und Islam] füreinander zu öffnen?
Benslama: Als der Islam sich mit der Moderne zu beschäftigen begann, habe ich begonnen, mich mit dem Islam zu befassen. Die Moderne bedeutet ja im Kern, alles dem Zweifel und der Kritik zu unterziehen […] Mich interessiert, wie ein Mensch in Wechselwirkung mit dem Kollektiv, mit der Religion, der politischen Realität steht. […]
ZEIT: Gibt es unter den Fällen […] ein typisches Muster?
Benslama: Nein. Die Kandidaten für den Dschihad kommen aus allen sozialen Schichten, Glaubensvarianten und Lebensformen. […] [D]as entscheidende Merkmal ist die Jugend […] Mehr als zwei Drittel der Radikalisierten sind junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren. Sie stecken also in den Identitätskonflikten der Adoleszenz. Etwa 40 Prozent von ihnen weisen psychische Störungen auf.
ZEIT: Wie hängt seelisches Leid mit Radikalität zusammen?
Benslama: Diese Jugendlichen radikalisieren sich, um ihre Nöte zu heilen und die Symptome zu lindern. Andere Menschen trinken oder nehmen Drogen, um mit ihrem Leid zurechtzukommen. Der Islamismus erfüllt eine vergleichbare Funktion. […] Die winzige Minderheit der Jugendlichen, die sich radikalisiert, wertet sich im Gefühl der eigenen Nichtigkeit durch die Ideale des Islamismus auf: […] Der Islamismus tritt als antipolitische Utopie auf, in der ein Einzelner sehr mächtig sein kann, wenn er sich mit dem Ziel der idealen religiösen Gemeinschaft identifiziert, die das Gegenbild zum weltlichen modernen Staat ist, in dem diese Jugendlichen leben.
ZEIT: Was gehört an dieser Verführbarkeit generell zur Phase der Adoleszenz, in allen Kulturen? […]
Benslama: Jeder Jugendliche, gleich welcher Kultur, lässt die Ideale der Kindheit hinter sich und wird ein anderer, indem er sich Ideale für sein Erwachsenenleben sucht und die eigene Identität neu zusammensetzt. […]
ZEIT: Der Islamismus bietet Jugendlichen in dieser Unsicherheit eine klare Identifikation?
Benslama: Ja, sie können durch Gewalt ihre ideale Gemeinschaft und die Welt retten! Er bietet ihnen auch einen besonderen Genuss: sich in der Allmacht, andere Menschen willkürlich töten zu können, großartig zu fühlen. Einzelne Täter können moderne Staaten und ihre Bürger in dauernde Angst und Alarmbereitschaft versetzen: was für eine Macht […] Aber man darf nie vergessen: Nur eine winzige Zahl von Jugendlichen wählt diesen Weg. Fast alle ertragen ihre inneren Spannungen. […]

Fethi Benslama lehrt als Professor für Psychopathologie an der Universität Diderot und praktiziert zudem als Analytiker.

"Den Tod genießen", Interview von Elisabeth von Thadden mit Fethi Benslama, in: Zeit Online vom 10. April 2017

Die öffentliche Diskussion gerät darüber schnell in einen Strudel von Zuschreibungen und vermeintlich kulturellen Gegensätzen. Dabei leidet die Qualität der gesamtgesellschaftlichen Diskussion oft unter Vereinfachungen und folgt der These eines "großen Kulturkampfes" zwischen zwei unveränderlichen Gegensätzen. Die Zuspitzung auf einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Ost und West, Orient und Okzident, Islam und Christentum oder wahlweise Aufklärung scheint durch die politischen Verwerfungen und Kriege im Nahen Osten sowie durch Terroranschläge bestätigt zu werden. Eine pauschalisierende Betrachtungsweise findet in solchen Ereignissen Argumente für das Vorurteil, dass "dem Islam" und "den Muslimen" immer schon Gewalt, Intoleranz und Despotie innewohnten. Diese Denkweise ähnelt in ihrer Pauschalität und Voreingenommenheit derjenigen der radikalen Gegenseite, die mit stark vereinfachten Welt- und Feindbildern für sich wirbt.

Globalisierung (© NEL / nelcartoons.de)

Doch die überwiegende Mehrheit der Muslime lehnt Gewalt ab und will friedlich inmitten der Gesellschaft leben. Nach ihrem Religionsverständnis verfügt der Islam gerade nicht über ein unwandelbares Wesen, in dem das Verhältnis von Staat und Religion als ewig vereint festgeschrieben ist. Solche Annahmen beruhen vielmehr auf ideologischen, islamistischen (nicht islamischen) Positionen, die bewusst mit Schlagworten und Kampfbegriffen markiert werden und mit der Wirklichkeit, gerade auch mit der differenzierten historischen Realität, wenig zu tun haben.

Die Ursache von religiös begründetem Extremismus nur im Islam zu suchen, ist problematisch. Vielmehr sind die Gründe vielschichtig und untrennbar miteinander verwoben. Neben der religiösen Ebene müssen auch politische und gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigt werden. Daher richten die Kapitel "Salafismus – Spielart des Islamismus" und "Geschichte einer Radikalisierung" den Fokus auf historische, ideengeschichtliche und politische Entwicklungen, während sich das Kapitel "Salafismus in Deutschland" auf die gesellschaftliche Ebene konzentriert und nach Ursachen der Radikalisierung bei Jugendlichen fragt.

Alle Ansätze beschreiben ein Phänomen, dessen durchaus vielfältige Positionen und Erscheinungsformen in der öffentlichen Diskussion mit dem Begriff Salafismus in Verbindung gebracht werden. Doch was ist unter Salafismus im eigentlichen Sinne zu verstehen?

ist nach einem Studium der Islamwissenschaft und Empirischen Kulturwissenschaft (M. A.) als Lehrer für Islamischen Religionsunterricht in Bonn tätig. Er war Mitglied der zweiten Deutschen-Islam-Konferenz, außerdem arbeitet er als Sachverständiger für das Dialogforum NRW. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Religionspädagogik und der religiös begründete Extremismus. Er promoviert zum Thema Korandidaktik und hat neben einer Monografie zahlreiche Beiträge in Sammelbänden, Zeitschriften, Lexika und Schulbüchern verfasst.