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19. Jahrhundert | Jüdisches Leben in Deutschland vor 1945 | bpb.de

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19. Jahrhundert

Miriam Rürup

/ 4 Minuten zu lesen

Der Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Zuge der Industrialisierung ermöglicht vielen Juden den gesellschaftlichen Aufstieg und die Aufnahme eines bildungsbürgerlichen Lebensstils.

Damit war das Programm definiert, das in der nun einsetzenden Epoche zur schrittweisen rechtlichen Gleichstellung ("Emanzipation") der jüdischen Minderheit führen sollte: Gleichstellung konnten Juden erlangen, wenn sie sich in Gegenleistung erfolgreich anpassten und sich beispielsweise in die Sozialstruktur der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft einfügten. 1782 erteilte Kaiser Joseph II. mit einem sogenannten Toleranzedikt Juden in der Habsburgermonarchie das Recht, in freien Berufen und im Handwerk zu arbeiten sowie sich frei niederzulassen. In Frankreich erlangten Juden die Gleichstellung im Zuge der Französischen Revolution, was auch für alle unter französischer Herrschaft stehenden deutschen Territorien galt, wie etwa das Königreich Westphalen. Und 1812 erließ Preußen ein Edikt, mit dem Juden zu "Einländern und preußischen Staatsbürgern" gemacht wurden.

QuellentextRahel Levin Varnhagen – Beobachterin des Zeitenwandels

Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ermöglichen wohlhabende Gastgeberinnen in Deutschland private gesellige Zusammenkünfte, in denen sich Geistesgrößen aus Politik, Wissenschaft und Kultur zu Diskussionen, Lesungen oder musikalischen Veranstaltungen einfinden. Eine dieser Gastgeberinnen war die Jüdin Rahel Varnhagen (1771–1833). (© bpk)

Vor 250 Jahren, am 19. Mai 1771, wurde Rahel Varnhagen als älteste Tochter des jüdischen Bankiers Markus Levin in Berlin geboren. Sie wuchs in eine bewegte Zeit hinein: Die Französische Revolution und in ihrer Folge die Kriege Napoleons sollten die Welt grundlegend verändern, Aufklärung und Romantik, Freiheitskriege und Judenemanzipation trafen zusammen.

Rahel, mehrsprachig, gebildet und sensibel, wurde schnell berühmt für die von ihr organisierten geselligen Zusammenkünfte in ihrem Salon, in dem sich berühmte Zeitgenossen, Männer, Frauen, Adelige und Bürgerliche, Juden und Christen zum freundschaftlichen Gedankenaustausch trafen. Das Dialogische stand dort genauso im Vordergrund wie in ihrer umfangreichen Korrespondenz.

Rahel Varnhagen war eine exzessive Briefeschreiberin. Vor allem im Briefwechsel mit ihrer Familie kommt zur Sprache, was deutsch-jüdische Geschichte damals prägte.

Die ersten Briefe sind noch in hebräischen Buchstaben verfasst. Chaie Levin, Rahels Mutter, schreibt Mitte der 1780er-Jahre an ihre Tochter, die auf die jüngeren Geschwister aufpasst, während sie die Leipziger Messe besucht. Die letzten Briefe schreibt Rahel, die 1814 den Diplomaten und Publizisten Karl August Varnhagen von Ense geheiratet hatte, kurz vor ihrem Tod 1833.

Dazwischen wird das Leben einer jüdischen Familie in der Zeitenwende erfassbar. Es geht um den Zusammenbruch Alteuropas, die Niederlage Preußens 1806 und die Flucht aus dem französisch besetzten Berlin; die Begegnung mit der traditionellen jüdischen Welt und die Frage der Konversion zum Christentum; um die Restauration nach dem Wiener Kongress und antisemitische Unruhen 1819.

Rahel und ihre politisch und kulturell äußerst aufmerksame Familie setzen sich mit diesen Veränderungen ihrer Zeit auseinander – einer Zeit, in der alles neu bedacht werden muss. Doch zeigen die Briefe auch eine Frau, die das Nachdenken über politische und theoretische Fragen nicht den Männern überlassen will.

Rahel merkt bald, dass auf dem Weg in die Moderne ganz neue Ungleichheiten und Ausgrenzungen drohen. Ihre Briefe fesseln noch heute durch Unmittelbarkeit und Spontaneität. Gemeinsam mit der Familie versucht sie zu erkunden, welche Welten sich öffnen und welche sich ihnen auch gleich wieder verschließen.

Barbara Hahn, "Rahel Levin Varnhagen. Die Zeit des Umbruchs in Briefen erfasst", in: Deutschlandfunk Kultur vom 30. Mai 2021

„Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ vom 11. März 1812. Mit dem Edikt werden jüdische Einwohner Staatsbürger und bekommen in den meisten Teilen Preußens formal gleiche Rechte zugesprochen. (© bpk /Geheimes Staatsarchiv, SPK)

Doch diese zaghaften Anfänge erfuhren schon recht bald einen herben Rückschlag. Mit dem Ende der Ära Napoleons und dem Wiener Kongress von 1815 sollte die alte Ordnung wiederhergestellt werden – die Restaurationsphase begann. Für Jüdinnen und Juden bedeutete die "alte Ordnung" eine Rücknahme oder zumindest Einschränkung neu erlangter Freiheitsrechte. So wurde das preußische Emanzipationsgesetz von 1812 beispielsweise in den neuen Landesteilen nicht angewandt und in Bayern begrenzte weiterhin ein Gesetz die Höchstzahl zugelassener jüdischer Familien. 1819 griffen nicht-jüdische Nachbarn – darunter Studenten und Mitglieder von Handwerkszünften und Kaufmannsgilden – erstmals in der Moderne ihre jüdischen Nachbarn in pogromartigen Übergriffen an, die als "Hep-Hep-Unruhen" bekannt wurden. Benannt wurden diese nach dem Schlachtruf, der die Ausschreitungen begleitete. Von Süddeutschland ausgehend in Würzburg, Frankfurt am Main und auch Hamburg wüteten sie gegen Juden und damit zugleich gegen die Vorstellung von deren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gleichstellung.

Jüdinnen und Juden orientierten sich hingegen eher an den Möglichkeiten, die ihnen die gesellschaftlichen Entwicklungen im neuen Jahrhundert zu versprechen schienen. Zu diesen gehörten tiefgreifende sozial-demografische Veränderungen: Diese zeichneten sich aus durch einen besonders hohen Grad an Verstädterung, einen beachtlichen sozialen Aufstieg, verbunden mit meist höherem Ausbildungsgrad, zugleich aber weiterhin einer recht spezifischen Berufsstruktur sowie tendenzieller Überalterung.

1844 wird die Synagoge des Neuen Israelitischen Tempelvereins in Hamburg eingeweiht. Der Verein gründete sich im Zuge der Reformbewegung, die durch Israel Jacobson in Seesen initiiert wurde; Holzstich von 1845 (© akg-images)

Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte ein gesamtgesellschaftlicher Bevölkerungszuwachs ein, der innerhalb der jüdischen Bevölkerung besonders spürbar war. So stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden von 260.000 um 1815 auf etwa 400.000 im Revolutionsjahr 1848. Dennoch betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur selten mehr als ein Prozent. Zudem bestanden große regionale Unterschiede in den Lebensverhältnissen, geprägt von den rechtlichen Rahmenbedingungen für Ansiedlung, Familiengründung oder Vererbung von Rechten.

Besonders auffallend an der Entwicklung im 19. Jahrhundert war der soziale Aufstieg, der sich vor allem ab der Jahrhundertmitte bemerkbar machte. Jüdinnen und Juden ergriffen die beruflichen Möglichkeiten, die der grundlegende Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Zeitalter der Industrialisierung bot. Während viele von ihnen zuvor im Hausier- und Trödelhandel tätig gewesen waren, eröffneten sie nun Ladenlokale, wechselten vom Klein- zum Großhandel oder wurden Unternehmer. Dies führte auch zu einem Rückgang der Zahl von Jüdinnen und Juden, die in Armut lebten und noch bis zur Jahrhundertmitte etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ausgemacht hatten.

Neben die als Emanzipation verstandene rechtliche Gleichstellung trat eine weitere Entwicklung, die für das 19. Jahrhundert kennzeichnend war: Die jüdische Minderheit nahm sich die neu entstehende bildungsbürgerliche Kultur zum Vorbild. Das Bildungsbürgertum schien ihnen als neu entstehendes, säkulares gesellschaftliches Milieu besonders aufgeschlossen gegenüber sozialen Aufsteigern und Neulingen zu sein. Dazu gehörten als Teil des bürgerlichen Lebensstils im 19. Jahrhundert Geselligkeit, Musik und Bildung. Zahlreiche Vereine entstanden, in denen sich auch Jüdinnen und Juden begeistert engagierten. Diese Veränderung vollzog sich in einer gesamtgesellschaftlichen Umbruchphase, umfasste einen Wandel in der Berufsstruktur, im Einkommen und im Lebensstil und wird auch als Verbürgerlichung beschrieben.

Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809–1847), Komponist, Dirigent und Instrumentalsolist, 1847. Auf Wunsch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. komponiert er 1843 die Bühnenmusik zu Shakespeares Komödie "Ein Sommernachtstraum". (© akg-images)

Mit diesen Veränderungen ging einher, dass sich das religiöse jüdische Selbstverständnis wandelte und zunehmend ausdifferenzierte. Bereits 1810 hatte Israel Jacobson in Seesen an einer jüdischen Schule eine Reform des Gottesdienstes eingeführt. Mit der Gründung des Neuen Israelitischen Tempelvereins im Jahr 1817 in Hamburg schuf sich dieses neu entstehende Reform-Judentum erstmals eine Institution. Es entstand eine durchaus heftig umstrittene Neuausrichtung des Judentums, die beispielsweise gemeinsamen Chorgesang, Predigten in deutscher Spracheund Orgelmusik in den Gottesdiensten einführte. In Abgrenzung zu den reformorientierten Juden tauchte etwa zeitgleich für die traditionell gesetzestreuen Juden der Begriff Orthodoxie auf. Die ebenfalls einsetzenden Veränderungen innerhalb des traditionellen Judentums wurden nun unter der Bezeichnung "Neo-Orthodoxie" zusammengefasst.

Noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war das Judentum ausschließlich religiös und vor allem im ländlichen Raum in religiösem Sinne meist homogener und weitgehend traditionell gesetzestreu geblieben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bestanden dagegen nicht nur verschiedene religiöse Strömungen nebeneinander, sondern es wurde überdies möglich, eine jüdische Identität jenseits des religiösen Selbstverständnisses zu leben. Religion wurde zunehmend zur Frage der inneren Einstellung und Privatsache, die einer Identifikation mit der deutschen Nation nicht widersprach.

Prof. Dr. Miriam Rürup ist Historikerin und seit Dezember 2020 Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Professorin an der Universität Potsdam.

Im Rahmen ihrer außeruniversitären Tätigkeiten ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschriften WerkstattGeschichte (seit 2002), Aschkenas (seit 2013) und des Leo Baeck Year Book (seit 2014) sowie der Online-Quellenedition "Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte". Außerdem ist sie als Fachredakteurin für Jüdische Geschichte beim Internetforum H-Soz-Kult tätig. Seit Januar 2020 ist sie Vorsitzende der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in Deutschland.

Zu ihren Forschungsinteressen zählen die deutsch-jüdische Geschichte, Zeitgeschichte (insbesondere die Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus) sowie Migrations- und Geschlechtergeschichte. Fussnoten