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Weimarer Republik (1919-1933) | Jüdisches Leben in Deutschland vor 1945 | bpb.de

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Weimarer Republik (1919-1933)

Miriam Rürup

/ 3 Minuten zu lesen

Die Weimarer Republik vollendet die ersehnte Gleichstellung. Trotz anhaltender rechtsextremer Strömungen erbringen Juden in dieser Epoche brillante Leistungen in Wissenschaft, Kultur und Architektur.

Elisabeth Bergner als betörende Russin Hanna Elias in „Gabriel Schillings Flucht“ von Gerhart Hauptmann am Staatstheater Berlin 1932, ihrer letzten Bühnenrolle in Deutschland vor der Emigration nach London. (© ullstein bild – Wolff von Gudenberg)

Umso größer war die Zuversicht, die deutsche Jüdinnen und Juden mit der Weimarer Republik verbanden. Mit Artikel 136 der Weimarer Reichsverfassung erlangten sie endlich die lang ersehnte vollständige Gleichstellung: Alle Staatsämter sollten ihnen fortan uneingeschränkt offenstehen und der Besitz aller bürgerlichen Rechte sollte von der Religion unabhängig sein. Die Jahre ab 1924 bis zur großen Wirtschaftskrise von 1929 galten als die stabilen Jahre der Weimarer Republik, auch offen antisemitische Ausbrüche wurden in diesen Jahren immer seltener. So war die Weimarer Zeit einerseits politisch wie religiös von einer enormen Vielfalt jüdischen Lebens geprägt.

Andererseits blieb auch in den Weimarer Jahren Antisemitismus virulent. Der im Februar 1919 gegründete Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund war entschieden antisemitisch. Nach dem Verbot des Bundes fand sein Mitgliederstamm eine neue parteipolitische Heimat in der 1920 neu gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Der jüdische Außenminister Walther Rathenau (1867–1922) wurde 1922 von Mitgliedern der rechtsextremen Organisation Consul ermordet. Freikorps und Einwohnerwehren waren die Verbündeten dieser antisemitischen und republikfeindlichen Hetze. Obendrein kam es wiederholt zu gewaltsamen Übergriffen auf Juden, besonders wahrgenommen wurden die Ausschreitungen im von ostjüdischen Einwanderern geprägten Berliner Scheunenviertel im Jahr 1923.

Jüdinnen und Juden machten in diesen Jahren weiterhin nur eine kleine Minderheit von etwa einem Prozent der Bevölkerung aus. Und auch nach dem Ersten Weltkrieg stieg ihre Zahl auf dem nach Kriegsende nun kleineren Staatsgebiet zwar auf 564.000 Personen im Jahr 1925 an, schwankte aber weiterhin um den knapp einprozentigen Anteil an der Gesamtbevölkerung.

Ab Mitte der 1920er-Jahre schien sich die Hoffnung auf Anerkennung auch real umzusetzen. Die in der Weimarer Republik lebenden Juden waren – wie die moderne Gesellschaft insgesamt – zunehmend weniger religiös organisiert. So wird geschätzt, dass nur noch ein Fünftel der deutschen Juden die religiösen Speisegebote einhielt.

Zwar war die Zahl der Gemeinden rückläufig – gerade in ländlichen Räumen lösten sich viele Gemeinden auf –, trotzdem blieben sie häufig eine Anlaufstelle für viele Bedürfnisse der jüdischen Minderheit. Aus Gemeinden wurden nun "Volksgemeinden" mit eigenen Wohlfahrtsorganisationen, Erziehungseinrichtungen und Sportvereinen. Als Körperschaften des öffentlichen Rechts hatten sie den gleichen Status wie Kirchen.

Das jüdische Vereinswesen hingegen, dessen Anfänge im 19. Jahrhundert lagen, weitete sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aus. So entstand beispielsweise mit dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) eine eigene Veteranenorganisation. Teilweise entstanden Vereine als Antwort auf die Ausschlusspraxis, die einige nicht-jüdische Gruppierungen pflegten. Vor allem aber bildete sich ein Netz an Vereinigungen heraus, das für die verschiedensten Lebenssituationen Angebote lieferte: Weiterhin gab es den Jüdischen Frauenbund, jüdische Studentenverbindungen, Turn- und Sportvereine, Gesangsvereine und ähnliche Organisationen, die eher de facto als prinzipiell jüdisch waren. Doch waren die Grenzen oft fließend und letztlich trugen auch nicht explizit jüdische Vereine zur Stärkung eines jüdischen Selbstbewusstseins bei.

Der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein 1921 auf dem Einsteinturm in Potsdam-Babelsberg, einem Observatorium zur Beobachtung der äußeren Sonnenatmosphäre, das der Architekt Erich Mendelsohn auf seine Anregung hin im expressionistischen und organischen Baustil errichtete. (© ullstein bild – ullstein bild)

Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) blieb auch in der Weimarer Republik die größte Massenorganisation des deutschen Judentums. Er betrieb anti-antisemitische und pro-jüdische Aufklärungsarbeit und unterhielt eine Rechtsabteilung, womit er zur bedeutendsten Abwehrvereinigung gegen den Antisemitismus wurde. Die programmatisch dem CV entgegengesetzte Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) konnte nun ihre Mitgliederzahl verdoppeln. Dennoch nahm sie nach wie vor eine Minderheitenposition innerhalb des deutschen Judentums ein – dies änderte sich erst ab 1933.

Die Wahrnehmung der Weimarer Republik als Blütezeit jüdischen Lebens ist wesentlich von prominenten Kulturschaffenden wie etwa dem Theaterkritiker Alfred Kerr (1867–1948) oder der Schauspielerin Elisabeth Bergner (1897–1986) geprägt.

Ebenso wie sich Juden an der Ausgestaltung einer modernen Theaterform beteiligten, waren sie auch unter den Vertretern der klassischen Moderne in der Architektur zu finden, wie beispielsweise der Architekt des "Einsteinturms" Erich Mendelsohn (1887–1953). Zugleich nahmen sie aktiven Anteil an der Ausbildung neuer Bildungsformen, so gründete der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929) 1920 in Frankfurt das Freie Jüdische Lehrhaus, das sich in den breiteren Kontext der neuen, reformorientierten Erwachsenenbildung einfügte. An diesen und vielen weiteren neuen Entwicklungen und dem kulturellen, literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Aufblühen in der ersten demokratischen Phase in Deutschland beteiligten sich Jüdinnen und Juden begeistert.

Trotzdem war diese Situation durchaus labil und insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise 1929 trübte sich diese Hochstimmung merklich ein. So geriet die noch junge Republik – und mit ihr die deutschen Jüdinnen und Juden – zunehmend unter Attacken von rechts.

QuellentextRegina Jonas – zur Rabbinerin berufen

"Unser jüdisches Volk ist von Gott in die Geschichte gepflanzt worden als ein gesegnetes." Diese Sätze schreibt Regina Jonas am Ende ihres Lebens – im Konzentrationslager Theresienstadt. "Von Gott ‚gesegnet‘ sein, heißt, wohin man tritt, in jeder Lebenslage, Segen, Güte, Treue spenden. Demut vor Gott, selbstlose hingebungsvolle Liebe zu seinen Geschöpfen erhalten die Welt. Diese Grundpfeiler der Welt zu errichten, war und ist Israels Aufgabe. Mann und Frau, Frau und Mann haben diese Pflicht in gleicher jüdischer Treue übernommen."

Diese Sätze fassen zusammen, was Regina Jonas als ihre Lebensaufgabe erkennt: Sie fühlt sich in einer Zeit zur Rabbinerin berufen, als es diesen Beruf für Frauen noch nicht gibt. Sie wird 1902 in Berlin geboren, wächst auf im ärmlichen Scheunenviertel. Ihr Vater Wolf Jonas ist Kaufmann. Er stirbt, als Regina zwölf ist, und erhält ein Armenbegräbnis.

"Ich kann mir vorstellen, dass der Vater von Regina Jonas der erste Lehrer von ihr gewesen ist." Elisa Klapheck ist liberale Rabbinerin in Frankfurt am Main und Professorin für Jüdische Studien in Paderborn. Sie hat sich intensiv mit Regina Jonas beschäftigt. "Sie selbst hat mal in einem Interview gesagt: ‚Ich bin streng religiös erzogen worden.‘ Es war also eine orthodoxe Familie. Aber ich kann mir vorstellen, dass diese Familie zwar orthodox war, aber in einem modernen Sinn."

So findet Regina Jonas schon als Kind zur religiösen Bildung. Auch ihr älterer Bruder Abraham wird später Religionslehrer. In der jüdischen Mädchenschule gilt Regina mancher Mitschülerin als Streberin, wegen ihrer Leidenschaft für die Grundlagen des Judentums.

1923 macht Regina Jonas Abitur. In Deutschland wird gerade das Frauenwahlrecht eingeführt, auch die jüdische Frauenbewegung kämpft für Gleichberechtigung. Regina Jonas schreibt sich in Berlin an der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" ein, unterrichtet außerdem Hebräisch und jüdische Religion. Der Rabbiner Max Weyl wird ihr Förderer und Mentor. Sieben Jahre später, 1930, verfasst Regina Jonas ihre Abschlussarbeit. Titel: "Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?"

Regina Jonas Abschlussarbeit, 88 Seiten lang, wird mit "gut" bewertet. Es dauert allerdings noch fünf Jahre, bis sich mit Max Dienemann aus Offenbach ein liberaler Rabbiner findet, der Regina Jonas zur Rabbinerin ordiniert. Es dauert weitere zwei Jahre, bis Regina Jonas in Berlin auch tatsächlich als Rabbinerin eingestellt wird. 1937, im fünften Jahr der Naziherrschaft.

[Elisa Klapheck:]"Jetzt sagen manche Stimmen, sie hatte nur eine Chance, weil es die Nazizeit war. Es gab einen eklatanten Rabbinermangel, viele flüchteten ins Ausland und es fingen auch schon die Deportationen an. Und in diese Lücke konnte Regina Jonas stoßen. Da mag was Wahres dran sein. Auf der anderen Seite muss man auch sehen: Sie war ganz stark in ihrer Berufung. Mir haben Überlebende gesagt: ‚Sie war die Rabbinerin der Stunde.‘ Sie konnte sprechen, sie konnte den Menschen Mut machen. Denjenigen, die geblieben waren in Deutschland."

Auch Regina Jonas hätte wohl fliehen können. Vielleicht bleibt sie wegen ihrer Liebe zu dem Hamburger Rabbiner Joseph Norden. Aber wohl auch oder vor allem, weil sie sich zur Rabbinerin berufen fühlt, glaubt Elisa Klapheck:

1938 [...] schreibt Regina Jonas:
"Wenn ich nun aber doch gestehen soll, was mich, die Frau, dazu getrieben hat, Rabbiner zu werden, so fällt mir zweierlei ein: Mein Glaube an die göttliche Berufung und meine Liebe zu den Menschen. Fähigkeiten und Berufung hat Gott in unsere Brust gesenkt und nicht nach dem Geschlecht gefragt. So hat ein jeder die Pflicht, ob Mann oder Frau, nach den Gaben, die Gott ihm schenkte, zu wirken und zu schaffen."

Regina Jonas schreibt in einem Brief, der Rabbinerberuf habe sie ergriffen, nicht sie ihn. Von den Nationalsozialisten wird sie gezwungen, in einer Kartonagenfabrik zu arbeiten. Ab 1940 wird Regina Jonas außerdem quer durchs Reich geschickt, um Gemeinden zu betreuen, die keine Rabbiner mehr haben, wie Frankfurt an der Oder, Braunschweig und Bremen. 1942 wird Regina Jonas zusammen mit ihrer Mutter deportiert. Erst nach Theresienstadt, zwei Jahre später nach Auschwitz. Noch am Tag der Ankunft wird Regina Jonas ermordet. Am 12. Oktober 1944.

Christian Röther: "Regina Jonas. Die weltweit erste Rabbinerin", in: Deutschlandfunk vom 29. November 2017

Prof. Dr. Miriam Rürup ist Historikerin und seit Dezember 2020 Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Professorin an der Universität Potsdam.

Im Rahmen ihrer außeruniversitären Tätigkeiten ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschriften WerkstattGeschichte (seit 2002), Aschkenas (seit 2013) und des Leo Baeck Year Book (seit 2014) sowie der Online-Quellenedition "Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte". Außerdem ist sie als Fachredakteurin für Jüdische Geschichte beim Internetforum H-Soz-Kult tätig. Seit Januar 2020 ist sie Vorsitzende der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in Deutschland.

Zu ihren Forschungsinteressen zählen die deutsch-jüdische Geschichte, Zeitgeschichte (insbesondere die Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus) sowie Migrations- und Geschlechtergeschichte. Fussnoten